Der folgende Text wurde auf dem Parteitag von Lutte Ouvrière im Dezember 2022 verabschiedet und in der zweimonatlichen Zeitschrift Lutte de Classe (Nr.228, Dezember 2022/Januar 2023) veröffentlicht.
Eine erneuerte Saison des Politikerzirkus
Macron, der bei den Präsidentschaftswahlen wiedergewählt wurde, hat bei den Parlamentswahlen keine absolute Mehrheit erreicht, was ihn dazu veranlasst, alle Tricks anzuwenden, die von den Erfindern der geltenden Verfassung erfunden wurden, um die von den Großunternehmern geforderten Gesetze durchzusetzen. Da es der Regierung Borne nicht gelungen ist, die Abgeordneten der LR auf ihre Seite zu ziehen, wechselt sie zwischen der Suche nach einer Gelegenheitsmehrheit und dem Durchbruch mithilfe von Artikel 49.3 der Verfassung ab.
Ab dem Zeitpunkt, an dem es sich um Haushaltstexte handelt, ist die Anwendung des 49.3 unbegrenzt. Nach zwei Monaten Parlamentssitzung hat Borne bereits viermal darauf zurückgegriffen und jedes Mal die Regierung zur Verantwortung gezogen. Die Regierung stellt ihren Text vor; die Oppositionsparteien schlagen eine Reihe von Änderungsanträgen vor und jubeln, wenn einige davon angenommen werden; mithilfe des 49.3 erzwingt die Regierung eine Blockadeabstimmung über ihren Text; daraufhin werden Misstrauensanträge von La France insoumise (LFI) - Das widerspenstige Frankreich - und der Rassemblement National (RN) von Le Pen gestellt, die zur Machtlosigkeit verurteilt sind, da die Republikaner sich weigern, ihre Stimmen beizusteuern.
In den kommenden Monaten wird dieser Balanceakt noch komplizierter werden, da der Einsatz des 49.3 außerhalb von Haushaltstexten auf eine Anwendung pro Parlamentssitzung beschränkt ist. Dann wird die Unterstützung der rechten Abgeordneten erforderlich sein. Indem er mit der Auflösung droht, hofft Macron, die Abgeordneten in die Schranken weisen zu können, und zwar diejenigen aus seiner eigenen Mehrheit, die einige rebellische Tendenzen zeigen, und vor allem die Abgeordneten der LR, die oftmals im Handstreich gewählt wurden und keine Lust haben, wieder vor die Wähler zu treten. In diesem Lügenpoker, in dem die Regierungsmehrheit und die Rechte auf demselben Feld jagen, ist niemand vor einem Unfall sicher. Auch wenn die Auflösung ein zweischneidiges Schwert ist, wie die Rechte 1997 unter Chirac auf die harte Tour gelernt hat, scheint Macron sie ernsthaft in Betracht zu ziehen.
Im Moment spielt jeder Abgeordnete seine Rolle und sorgt für die Show, im Plenarsaal oder auf der Tribüne. Ehrgeizige stürzen sich auf die niedrigsten und künstlichsten Polemiken, die sich manchmal gegen das eigene Lager richten. Zuletzt machte ein besonders enthemmter Abgeordneter des RN auf sich aufmerksam, als er einem schwarzen Abgeordneten entgegenschleuderte: „Der soll nach Afrika zurückgehen“. Abgesehen von der Niedertracht der politischen Debatte ist das Schauspiel, das in der Nationalversammlung aufgeführt wird, ein Spiegelbild der krisengeschüttelten Wirtschaft und der Verwirrung sowohl der Bourgeoisie als auch ihres politischen Personals.
Das Parlament war nie etwas anderes als der Schirm, hinter dem sich die Macht der Großbourgeoisie versteckt. Diese machte daraus eine Operette, um die Öffentlichkeit zu unterhalten, die Realität der Macht zu verschleiern und die Massen glauben zu machen, dass sie durch Wahlen die Politik des Landes bestimmen. Dazu hat die Bourgeoisie die Zustimmung aller politischen Parteien gefunden, egal ob sie den Kapitalismus offen verteidigen oder ihn kritisieren, wie etwa die reformistischen Parteien, die sich als links oder ökologisch bezeichnen.
6. Letztere tragen wie die extreme Rechte dazu bei, die Illusion von der Souveränität des Volkes zu vermitteln. Diese wahltaktische Illusion hat die Arbeiterschaft desorientiert und demoralisiert, denn die Hoffnungen, die in die Kandidaturen eines Mitterrand, Jospin oder Hollande gesetzt wurden, wurden stets enttäuscht. Die in Mélenchon gesetzten werden es ebenso sein.
Das parlamentarische Spiel von Nupes und RN
Als Ergebnis eines Bündnisses zwischen LFI, PS, PCF und EELV – Grünen -, das über ein Mehrheitswahlrecht ausgehandelt wurde, verfügt die Nupes über 142 Abgeordnete. Seit den Parlamentswahlen stellt die LFI diesen politischen Coup als Fortschritt der Linken dar. Die optische Täuschung löst sich mit der Analyse der tatsächlichen wahlpolitischen Kräfteverhältnisse auf: Im Juni erhielt die Nupes nicht mehr Stimmen als die Parteien, aus denen sie besteht, 2017 erhalten hatten, als sie getrennt angetreten waren. Trotzdem prahlen die Abgeordneten der Nupes weiterhin. Im Juni erklärte Quatennens, damals ein aufsteigender Stern der LFI, dass „Macron keine Mehrheit hat, um zum Beispiel die Rente mit 65 oder Arbeit als Gegenleistung für das RSA (soziale Mindestsicherung) umzusetzen“. Augenauswischerei war für die Unterdrückten noch nie eine Waffe im Kampf.
Le Pens Strategie ist eine ganz andere. Getragen von ihrem Wahlerfolg und der Rechtsentwicklung der Gesellschaft stellt sie sich als „ruhige Kraft“ dar, die auf ihre Chance wartet. Sie will der Bourgeoisie zeigen, dass ihre Partei bereit ist zu regieren, indem sie mit mehr oder weniger Erfolg die rassistischen Ausbrüche in ihrem Lager zügelt und „technisch versierte“ Profile in den Vordergrund stellt, die bereit sind, sich aktiv an der Arbeit des Parlaments zu beteiligen. Mit 89 Sitzen spinnt der RN sein Netz in der hohen Verwaltung und den staatlichen Organen Polizei und Armee weiter.
Es gibt immer noch eine identitäre Bewegung, die in der Lage ist, provokative, gewalttätige und offen rassistische Aktionen durchzuführen. Die Präsidentschaftskampagne von Zemmour hat den zügellosesten reaktionären Ideen Gehör verschafft und diese Bewegung zweifellos gestärkt. Da sie häufig aus den besseren Vierteln stammt, wird sie jedoch marginal bleiben, solange es keine soziale Radikalisierung der kleinbürgerlichen Bevölkerungsgruppen gibt. Diese warten derzeit hinter Le Pen ab.
Der Rassemblement National kann sich bereits rühmen, das politische Leben zu beeinflussen. Die Linken und die Macronisten beschuldigen sich gegenseitig, dem RN in die Hände zu spielen, indem sie ihre Stimmen mit seinen eigenen vermischen, aber sie haben kein Problem damit, sich einiger seiner Formulierungen zu bedienen und sogar einige seiner Ideen zu übernehmen. Dies gilt auch für Macron, der kürzlich den Zusammenhang zwischen Einwanderung und Kriminalität aufgriff. Dass Innenminister Darmanin an der Regularisierung von einigen Tausend Arbeitern ohne gültige Ausweispapiere arbeitet, um den Forderungen der Unternehmer nachzukommen, hindert die Regierung nicht daran, ihre Politik gegen Einwanderer zu verschärfen und zu einem fremdenfeindlichen und nationalistischen Klima beizutragen.
Macrons Politik - tastend, aber loyal gegenüber seinen bürgerlichen Auftraggebern
Das Schlüsselwort für Macrons Politik ist Pragmatismus. Damit will er sagen, dass er sich anpassen und lavieren wird, um die Schwäche seiner Mehrheit auszugleichen. Damit rechtfertigt er auch die Schwankungen und Umschwünge seiner Politik im Voraus. Der chaotische Aspekt von Macrons Regierungsstil - z. B. der Umschwung in der Atomfrage und die Verstaatlichung von Stromkonzern EDF - erklärt sich aus dem Chaos der kapitalistischen Gesellschaft, die den Gesetzen des Marktes und des Wettbewerbs und nun auch den Unsicherheiten und Risiken, die der Krieg in der Ukraine mit sich bringt, unterworfen ist.
Die französische Bourgeoisie ist wie alle anderen mit einer vielgestaltigen Krise konfrontiert, die die Grundlagen, auf denen sie seit Jahrzehnten gedeiht, erschüttert und sogar gefährdet und gleichzeitig den mächtigsten Kapitalisten neue Möglichkeiten eröffnet. Veränderungen der Machtverhältnisse zwischen den Kapitalisten und des Gleichgewichts innerhalb Europas, Umwälzungen im internationalen Handel, Veränderungen der Bezugsquellen, Einführung neuer Technologien - die Lage wird zunehmend instabil.
Macron kann eine Situation nicht beherrschen, die niemand beherrschen kann, aber die Bourgeoisie bewahrt ihm ihr Vertrauen. Die Kleinbourgeoisie ist ihm dankbar für das „was auch immer es kostet“, das während den Lockdowns gewährleistet wurde. Was die Großbourgeoisie angeht, so kann sie seine Entschlossenheit, sich jeder neuen Form der Besteuerung von Profiten zu widersetzen, nur begrüßen.
Macron bleibt seinen Auftraggebern treu und hält an seinem arbeiterfeindlichen Kurs fest: Die Arbeiter werden sich opfern müssen, damit die Bourgeoisie, angefangen bei der mächtigsten, trotz Krieg, galoppierender Inflation, steigender Zinsen und einer sich ausbreitenden Rezession ihren Reibach machen kann. Einer der wichtigsten Aspekte des aktuellen Klassenkampfes ist die Frage der Preisbindung der Löhne. Macron lehnt dies entschieden ab und hilft den Ausbeutern, den Mehrwert, den sie von ihren Lohnabhängigen erpressen, durch die Verarmung der Arbeitswelt zu steigern. Indem Macron seinen Angriff auf die Renten erneut auf die Tagesordnung setzt, eröffnet er eine weitere Front. Er will sowohl die Anzahl der Beitragsjahre für eine Vollrente erhöhen als auch das gesetzliche Renteneintrittsalter auf 64 oder 65 Jahre anheben. Damit würde er die rote Linie überschreiten, die von der sehr entgegenkommenden CFDT festgelegt wurde. Dies ist eine Art, seine Entschlossenheit gegenüber der Gewerkschaftsfront und den Mobilisierungen zu zeigen.
Auf der Seite der Arbeitenden
Die Arbeiter erkennen das Ausmaß ihres Kaufkraftverlustes. Sie erkennen, dass dies anhalten und sich verschärfen wird, da sich die Krise vertieft und kleine Unternehmen in den Bankrott treibt. Mit Arbeitsniederlegungen oder Streiks suchen sie nach der besten Möglichkeit, sich zu wehren. Die CGT versucht, aus dieser Stimmung Kapital zu schlagen. Sie vervielfacht die Aktionstage und greift die Initiativen der kämpferischsten Sektoren auf, was den Vorteil hat, dass sie ihnen Genugtuung verschafft, während die anderen untätig bleiben. Dort, wo sich der Dampf aufgestaut hat, wie im Raffineriesektor, der im September und Oktober von Streiks erschüttert wurde, kann er sich gefahrlos entladen. Während die CFDT die Vorzüge von Verhandlungen preist und sich gegen Streiks ausspricht, zeigt die CGT umso mehr Kampfgeist und Radikalität, da sie keine Angst davor hat, überrannt zu werden.
Auch wenn die CGT sich den Ruf der kämpferischsten Gewerkschaft sichert, bietet sie einer Mobilisierung, die sich noch auf der Suche befindet, keine Perspektive. Dies würde erfordern, den Arbeitern einen Schlachtplan zu präsentieren, der damit beginnt, die Tiefe der Krise, in die wir geraten, und die daraus resultierende heftige Offensive der Bourgeoisie zu erklären. Dies würde erfordern, eine Strategie mit Zielen für Forderungen und Aktionen zu präsentieren, um die Kräfte der Arbeiter in einem einzigen Protest zu vereinen. Einen solchen Kampfplan zu verteidigen, ist die Aufgabe eines Gewerkschaftsbundes wie der CGT. Sie tut es nicht, weil sie es nicht will.
Die Politik der revolutionären kommunistischen Aktivisten
In dem gegenwärtigen Klima der Unzufriedenheit müssen die revolutionären Kommunisten die entschlossensten und kämpferischsten sein. Unsere Propaganda darf sich jedoch nicht auf wiederholte und permanente Aufrufe zur Mobilisierung beschränken. Am wichtigsten ist es, die Arbeiter zum Nachdenken zu bringen und sie auf den Kampf vorzubereiten, der notwendig ist, um das Kräfteverhältnis mit den Unternehmern umzukehren. Dies kann geschehen, indem man darüber diskutiert, welche Forderungen in den Vordergrund gestellt werden sollen und wie die Kämpfe geführt werden sollen.
Die gleichen Forderungen können auf reformistische oder revolutionäre Weise vertreten werden. La France insoumise hat die Parole der Lohnindexierung bereits zu einem Gesetzesvorschlag gemacht und damit die Illusion vermittelt, dass es sich wieder einmal nur um eine Frage der parlamentarischen Mehrheit handeln würde. Wenn es um die Frage geht, welche Lohnerhöhung in den Vordergrund gestellt werden soll, stehen sich zwei Klassenlogiken gegenüber. Die erste besteht darin, von dem auszugehen, was die Unternehmer angesichts ihrer angeblichen finanziellen Lage und der Konjunktur bereit sind, aufzugeben, was auf eine Argumentation aus der Sicht der Unternehmer hinausläuft. Die zweite ist, von dem auszugehen, was die Arbeiter zum Leben brauchen, und dementsprechend fordern müssen.
Unsere Aufgaben bleiben die, die Trotzki im Übergangsprogramm definierte: „Die strategische Aufgabe der nächsten Periode – der vorrevolutionären Periode der Agitation, Propaganda und Organisation – besteht darin, den Widerspruch zwischen der Reife der objektiven Bedingungen der Revolution und der Unreife des Proletariats und seiner Vorhut (Verwirrung und Entmutigung der alten Generation, mangelnde Erfahrung der Jungen) zu überwinden. Man muss der Masse im Verlauf ihres täglichen Kampfes helfen, die Brücke zu finden zwischen ihren aktuellen Forderungen und dem Programm der sozialistischen Revolution. Diese Brücke muss in einem System von Übergangsforderungen bestehen, die ausgehen von den augenblicklichen Voraussetzungen und dem heutigen Bewusstsein breiter Schichten der Arbeiterklasse und unabänderlich zu ein und demselben Schluss führen: der Eroberung der Macht durch das Proletariat.
Die klassische Sozialdemokratie (…) teilte ihr Programm in zwei voneinander unabhängige Teile: das Minimalprogramm, das sich auf Reformen im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft beschränkte, und das Maximalprogramm, das für eine unbestimmte Zukunft die Ersetzung des Kapitalismus durch den Sozialismus versprach. Zwischen dem Minimalprogramm und dem Maximalprogramm gab es keine Brücke. Und in der Tat, die Sozialdemokratie brauchte keine solche Brücke, denn von Sozialismus sprach sie nur am Feiertag. Die Kommunistische Internationale hat den Weg der Sozialdemokratie in der Epoche des faulenden Kapitalismus beschritten, wo nicht mehr die Rede sein kann von systematischen Sozialreformen noch von der Hebung des Lebensstandards der Massen; wo die Bourgeoisie sich jedes Mal mit der rechten Hand das Doppelte von dem nimmt, was sie mit der linken Hand gegeben hat (Steuern, Zölle, Inflation, ‚Deflation‘, Teuerung, Arbeitslosigkeit, Schlichtung des Streiks durch Polizei usw.); wo jede ernsthafte Forderung des Proletariats und sogar jede fortschrittliche Forderung des Kleinbürgertums unausweichlich über die Grenzen des kapitalistischen Eigentums und des bürgerlichen Staates hinausführt.“
Ohne einen Kern von Arbeitern, die entschlossen sind, dafür zu kämpfen, dass der Streik demokratisch von den Streikenden selbst geführt wird, wird die Wiederbelebung der Kampfkraft der Arbeiter von den Gewerkschaftsführern auf ein Abstellgleis geführt. Wie in den Jahren 1936, 1947 oder 1968 würden die einflussreichsten politischen Kräfte in der Arbeitswelt, wenn morgen eine Streikwelle über das Land schwappen würde, darum kämpfen, diese zu vereinnahmen und auf parlamentarisches Terrain zu lenken.
LFI möchte die PCF als Sprecherin der sozialen Bewegung ersetzen. Mélenchon ruft zu großen Volksversammlungen auf, wie am 16. Oktober, um, wie er sagt, Stärke zu demonstrieren. Nach dem Vorbild der PCF propagiert er den Kampf auf der Straße sowie an den Wahlurnen, aber ohne die Verankerung in der Arbeiterklasse, die die PCF aus der Vergangenheit geerbt hat. Die Abgeordneten der LFI gehen zu den Streikposten und geben die Forderungen der Arbeiter weiter. Angesichts des derzeitigen militanten Vakuums und des Fehlens einer revolutionären Arbeiterpartei können sich viele Arbeiter von dieser Partei vertreten fühlen.
Die Arbeiter werden heute durch die Spaltung der Gewerkschaftsorganisationen und ihren ständigen Wettbewerb geschwächt. Selbst wenn sie im Grunde die gleiche Politik vertreten, müssen die Gewerkschaftsbünde ihre getrennte Existenz rechtfertigen, indem sie sich durch unterschiedliche Forderungen und Aufrufe voneinander unterscheiden. Diese Spaltung besteht auch auf politischer Ebene. Die Arbeiterklasse ist nämlich in der Stimmenthaltung zerstreut und gespalten, wenn nicht gar entgegengesetzt, zwischen der Stimmabgabe für die Linke, die ihr am radikalsten erscheint, und der Stimmabgabe für die extreme Rechte.
Wenn die Kampfbereitschaft der Arbeiter zurückkehrt, wird keine gewerkschaftliche oder politische Organisation behaupten können, alle Arbeiter hinter ihrer Fahne zu vereinen. Der einzige Weg, alle Kämpfer zu vereinen, ist die Gewährleistung von Demokratie durch breite tägliche Versammlungen und Streikkomitees, die es allen Arbeitern, einschließlich dieser überwältigenden Mehrheit von Nicht-Gewerkschaftsmitgliedern, ermöglichen, Verantwortung für die Organisation und Führung des Streiks zu übernehmen.
Arbeiterdemokratie ist grundlegend, um die Arbeiter in einer Gesamtbewegung zu vereinen. Für revolutionäre Kommunisten ist sie mehr als ein Prinzip. Sie ist die unerlässliche Voraussetzung für den Kampf der Arbeiter, um sich Tag für Tag zu verteidigen und ihre kollektive Macht zu erlernen. Sie steht im Zentrum des politischen Kampfes all derer, die der von der Internationalen Arbeiter-Assoziation Marx vorgezeichneten Perspektive treu geblieben sind: „Die Emanzipation der Arbeiter wird das Werk der Arbeiter selbst sein.“
Ohne revolutionäre Kommunisten zu sein, halten viele Arbeiter an der Arbeiterdemokratie fest. Dies gilt umso mehr, als das Misstrauen gegenüber den Gewerkschaftsapparaten gewachsen ist. Dieses kam während der Gelbwesten-Bewegung weitgehend zum Ausdruck. Aber diese Demokratie ist nichtsdestotrotz ein Kampf. Der Kern der Arbeiter, der von ihrer Bedeutung überzeugt ist, muss bereits vor dem Ausbruch eines Streiks gebildet werden. Diesen Kern hervorzubringen und zu stärken, muss eines der unmittelbaren Ziele von Revolutionären sein.
Im Rahmen einer bestimmten Bewegung kann eine Kerngruppe von Arbeitern ausreichen, um die in einer Generalversammlung versammelten Arbeiter davon zu überzeugen, dass sie ein von allen Streikenden demokratisch gewähltes Streikkomitee einsetzen müssen. Wenn solche Streikkomitees in großen Betrieben entstehen, können sie sich zu einer Organisation für alle Arbeiter in einem Industriegebiet oder einer Stadt entwickeln, unabhängig davon, ob sie in einem kleinen oder großen Betrieb arbeiten, oder ob sie arbeitslos oder pensioniert sind.
Nur die Tiefe der Bewegung und ihre Radikalität können dazu führen, dass die Apparate, die darauf vorbereitet sind, die Arbeiter zu betreuen, überfordert werden. Aber es gibt keinen Grund, Prognosen über die Entwicklung der Kampfbereitschaft zu stellen oder gar zu fragen, ob die Revolutionäre in einer Periode der Radikalisierung der Arbeiterklasse die Oberhand behalten werden. Sie müssen für die Perspektiven eintreten, die einen günstigen politischen Ausweg für einen Wiederaufstieg der Arbeiterschaft bieten können, die revolutionär-kommunistischen Perspektiven.
Als Trotzki im Übergangsprogramm schrieb: „Die weltpolitische Lage ist in ihrer Gesamtheit vor allem durch die historische Krise der Führung des Proletariats gekennzeichnet“, war das Werk der Zerstörung durch den Stalinismus bereits weit fortgeschritten. Die stalinistische Diktatur hatte die besten Führer der Arbeiterklasse, die sich in Russland in der Linken Opposition zusammengeschlossen hatten, vernichtet und das von Marx und Lenin hinterlassene revolutionäre politische Kapital tiefgreifend entstellt und pervertiert. Doch das Ziel der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat war für die Generation, die die revolutionären Ereignisse und alle politischen Kämpfe nach dem Ersten Weltkrieg miterlebt hatte, keine Abstraktion. Selbst ohne eine echte politische Führung behielten viele Arbeiter die revolutionäre Perspektive tief in ihrem Bewusstsein. 80 Jahre später ist dies nur noch bei einer kleinen Minderheit der Fall.
Seit Trotzki das Übergangsprogramm geschrieben hat, hat es jedoch nicht an Kämpfen gefehlt, an denen die Arbeiter teilgenommen haben. Aber nirgends konnten sie sie auf ihrem Klassenboden austragen, und nirgends konnten sie sich um die Macht bewerben. Diese Perspektive wurde überall von der reformistischen Strömung in ihren stalinistischen oder nationalistischen Varianten im Keim erstickt.
Heute sind die Idee des Sturzes der bürgerlichen Herrschaft und das Bewusstsein, dass die Arbeiterklasse sie an der Spitze der Gesellschaft ersetzen muss, praktisch verschwunden. Auch wenn die Wahlen die Stimmung der Arbeiter nur verzerrt widerspiegeln, zeigen sie doch die Schwäche der revolutionär-kommunistischen Strömung. Bei den Präsidentschaftswahlen erhielt unsere Kandidatin in der Tat 197.141 Stimmen, was 0,56% entspricht. Bei den Parlamentswahlen erhielten unsere 554 Kandidaten 229.810 bzw. 1,04 Prozent. Das ist sehr wenig, aber dieser Faden verbindet die Arbeiter von heute mit den Revolutionären der Vergangenheit und ist die einzige Garantie dafür, dass neue Generationen die revolutionär-kommunistischen Ideen aufgreifen.
Selbst die am wenigsten politisierten Arbeiter berühren mit dem Finger den Bankrott der herrschenden Klassen. Sie stellen Fragen, zweifeln und machen sich Sorgen. Sie suchen nach Antworten und neuen Perspektiven. Die extreme Rechte, die Le Pens, Melonis, Trumps oder Bolsonaros, haben ganz einfache, die auf Ängste reagieren und reaktionären Vorurteilen schmeicheln. Die Aktivisten des religiösen Fundamentalismus haben andere. Bei dieser Suche nach systemfeindlichen Ideen müssen die Arbeiter auf ihrem Weg die revolutionären kommunistischen Ideen finden.
1903 fragte sich Rosa Luxemburg in einem Text zu Ehren von Karl Marx: „Was ist es, das in der Tat uns vor allem die innere sittliche Kraft gibt, die größten Unterdrückungen, wie ein jahrdutzend des Sozialistengesetzes, mit diesem lachenden Mut zu ertragen und abzuschütteln? Ist er etwa die Zähigkeit der Enterbten in der Verfolgung einer kleinen materiellen Verbesserung ihrer Lage? (…) Ist es, wie bei den Urchristen, der asketische Stoizismus einer Sekte, der in geradem Verhältnis zu den Verfolgungen immer lichterloher aufflackert? (…) Ist es endlich die „Gerechtigkeit“ der Sache, die wir führen, was uns so unbezwingbar macht?“
Auf all diese Fragen antwortete Rosa Luxemburg mit Nein. Sie erklärte: „Wenn die heutige Arbeiterbewegung, allen Gewaltstreichen der gegnerischen Welt trotzend, siegreich die Mahnen schüttelt, so ist es vor allem die ruhige Einsicht in die Gesetzmäßigkeit der objektiven historischen Entwicklung, die Einsicht in die Tatsache, dass ‚die kapitalistische Produktion ... mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre eigne Expropriation‘ (Marx) – nämlich: die Expropriation der Expropriateure, die sozialistische Umwälzung – erzeugt, diese Einsicht ist es, in der sie die feste Bürgschaft des schließlichen Sieges erblickt und aus der sie nicht nur den ungestüm, sondern auch die Geduld, die Kraft zur Tat und den Mut zur Ausdauer schöpft.“
Die heutige Zeit gibt uns die Möglichkeit, uns an Arbeiter zu wenden, die umso aufmerksamer sind, je mehr sie in einem immer beunruhigenderen Umfeld nach Perspektiven suchen. Sie gibt uns die Möglichkeit, sie in den Betrieben zusammenzuführen und neue politische und organisatorische Verbindungen zu ihnen zu knüpfen. Sie bietet uns Möglichkeiten, uns zu stärken und neue Mitarbeiter zu rekrutieren. Es liegt an uns, sie zu ergreifen.
11. November 2022