Am 10. Februar 2022 kündigte Macron in Belfort an, dass Frankreich wieder stärker auf Atomkraft setzen und mehrere neue Reaktoren bauen werde. Dies kam für alle unerwartet. Unter dem Vorwand, mehr CO2-freien Strom zu produzieren und Frankreichs Unabhängigkeit bei der Energieversorgung sicherzustellen, stellen sich die staatlichen Behörden seitdem in den Dienst der Atomlobby.
Da diese Umorientierung in keiner Weise vorausgeplant war, ließen die Folgen für die Arbeitsbelastung der Beschäftigten nicht lange auf sich warten. Und was die Folgen für die Sicherheit der AKWs und die Strompreise betrifft, so kann sich die Bevölkerung bereits jetzt Sorgen machen.
In seiner Rede in Belfort kündigt Macron den Bau von sechs neue Kernreaktoren des Typs EPR2 an, Baubeginn 2035. Anschließend solle der Bau von acht weiteren Reaktoren in Angriff genommen werden sowie der Bau von kleineren, sogenannten SMR-Reaktoren. Macron kündigt außerdem an, dass er die Laufzeit der bestehenden Kraftwerke um 10, 20 oder noch mehr Jahre verlängern wolle – über die ursprünglich geplante Laufzeit von 30 oder 40 Jahren hinaus.
Die französische Behörde für nukleare Sicherheit hat außerdem soeben die Inbetriebnahme des Reaktors des EPR-Kraftwerks Flamanville genehmigt. Der Bau dieses Reaktors wurde... vor vierzehneinhalb Jahren begonnen. Statt der ursprünglich geplanten 3 Milliarden hat sein Bau mehr als 19 Milliarden Euro verschlungen.
Nun soll er ab dem Spätsommer Strom produzieren. Dabei diente der 2005 beschlossene Bau eigentlich gar nicht den Zweck, mehr Strom in Frankreich zu produzieren. Es ging es darum, auf dem damals vielversprechenden Weltmarkt für Atomkraftwerke Anteile zu ergattern. Die französischen Kapitalisten brannten darauf, Aufträge insbesondere in den USA und in China zu bekommen. Der EPR-Reaktor in Flamanville sollte vor allem als Ausstellungsstück für den Export von französischen Reaktoren dienen.
Doch dann kam es sechs Jahre nach der Entscheidung, das AKW zu bauen, zur Katastrophe von Fukushima in Japan. Im April 2011 forderte ein Erdbeben mit anschließendem Tsunami 18.000 Menschenleben und führte zu einem schweren Störfall in dem dortigen Kraftwerk. Diese Katastrophe entsetzte die Weltbevölkerung so sehr, dass sie in mehreren Staaten eine Wende in der Atompolitik herbeiführte. Deutschland gab die kleine Zahl an Kernkraftwerken, über die es verfügte, auf. In Frankreich lautete die Doktrin seitdem, den Anteil der Kernenergie an der Stromerzeugung schrittweise zu reduzieren. Von einem Anteil von über 75 % sollte dieser auf unter 50 % gesenkt werden. Die Entscheidung, das Kernkraftwerk Fessenheim zu schließen, ging mit dieser Entwicklung einher, obwohl Hunderte Millionen Euro für seine Nachrüstung ausgegeben worden waren.
Eine politische Wende ohne jegliche Vorausplanung
Im Jahr 2022 änderte Macron also erneut die herrschende Doktrin – jedoch ohne jegliche Vorausplanung.
Uns wird erklärt, dass der Bau neuer Kraftwerke bzw. die Laufzeitverlängerung bestehender Kraftwerke einen Bedarf decken würde. Die AKWs würden Strom mit einer guten CO2-Bilanz produzieren und so die globale Klimaerwärmung bekämpfen. Aus denselben Gründen gäbe es einen zusätzlichen Bedarf an Strom, insbesondere für Elektroautos. Folglich müsse man mehr Atomstrom produzieren, da dies laut Regierung "umweltfreundlicher" sei.
Umweltfreundlicher die Uran-Minen und die Folgen des Uran-Abbaus für die Arbeiter und die örtliche Bevölkerung? Ökologischer die Produktion von radioaktiven Abfällen, mit denen sich die Menschheit noch Tausende und Abertausende von Jahren wird herumschlagen müssen? Man kann einzig sagen, dass dabei weniger CO2 produziert wird.
Weitere Argumente werden ins Feld geführt. Seit 2022 drohten mehrfach Engpässe bei der Stromversorgung aufgrund der wiederholten Ausfälle der bestehenden Kernkraftwerke. Dies machte deutlich, wie anfällig das System der derzeitigen Stromerzeugung ist. Der Krieg in der Ukraine und die starke Reduzierung der Importe von russischem Gas, das bis dahin in deutschen Kraftwerken in bedeutendem Maß genutzt worden war, sowie der anschließende Anstieg der Strompreise dienten als Vorwand für die Behauptung, dass Frankreich seine „Unabhängigkeit bei der Energieversorgung“ sichern müsse.
Aber muss man daran erinnern, dass Frankreich seit Anfang der 2000er Jahre überhaupt kein Uran mehr auf seinem Staatsgebiet abbaut und sich stattdessen in Kasachstan, Niger, Usbekistan und Australien damit versorgt? Bei der Kernenergie wie bei so vielen anderen Energiearten ist es absurd, von „Unabhängigkeit“ zu sprechen!
Hinter dieser angeblichen "Unabhängigkeit bei der Energieversorgung“ verbirgt sich lediglich der Wille des französischen Staates, die Interessen seiner eigenen, nationalen Energiekonzerne vor der Konkurrenz anderer europäischer, insbesondere deutscher Konzerne zu schützen.
Obwohl die Stromnetze der europäischen Länder eng miteinander verbunden sind, wurde nicht etwa gemeinschaftlich und bewusst entschieden, welche Form der Stromerzeugung entwickelt werden sollte – unter Berücksichtigung der sorgfältig und gemeinschaftlich festgelegten Bedürfnisse und nach bewusster Einschätzung der jeweiligen Risiken und Kosten für die Bevölkerung. Jedes Land hat eigenständig entschieden, welchen Weg der Stromerzeugung es gehen wollte. Genauer gesagt, diese Entscheidungen wurden im Geheimen in den Vorstandsetagen der Energiekonzerne getroffen oder auch von Regierungen, die ganz im Dienste privater Aktionäre stehen.
Aus diesem Grund haben die im Dezember 2007 begonnenen Arbeiten am AKW in Flamanville so viele Pannen, Verzögerungen und exorbitante Kostensteigerungen erlebt.
Die Entscheidung, dieses Kraftwerk zu bauen, wurde nämlich ausschließlich aus finanziellen und kommerziellen Erwägungen heraus getroffen. Seit Jahren gab es jedoch kaum noch ausreichend ausgebildete und erfahrene Arbeiter, die diese Arbeit hätten ausführen können. In den zwanzig Jahren davor, ab 1990, wurde die Wirtschaft immer mehr auf Finanzgeschäfte ausgerichtet und der Umfang der produktiven Investitionen nahm stark ab, nicht nur im Energiesektor. Dies führte unter anderem dazu, dass die ausscheidenden Arbeitskräfte in der Atomindustrie kaum noch ersetzt wurden.
Mit anderen Worten: Der französische Stromkonzern EDF und die mit ihm zusammenarbeitenden Industriekonzerne haben sich auf eine gigantische Baustelle gestürzt, obwohl sie nicht mehr wirklich wussten, wie die Arbeit geht. So kam es einer ganzen Serie von Mängeln aufgrund nachlässiger Zulieferer, unzureichend ausgebildeter Beschäftigter und einer Kaskade von Subunternehmern. So war beispielsweise ein vom Bouygues-Konzern aus Stahlbeton gebautes Lagerbecken für die Brennstäbe aufgrund von Fehlern in der Stahl-Armierung löchrig wie ein Schweizer Käse. Auch der vom Areva-Konzern produzierte Reaktordeckel wies Mängel auf: Die Schweißnähte waren fehlerhaft usw.
Aber was interessiert es die Kapitalisten! Schließlich hat das finanzielle Desaster des neuen AKWs eine Vielzahl von Unternehmen in keiner Weise davon abgehalten, sich die Taschen zu füllen.
EDF, ein Unternehmen im Dienste der Kapitalisten
Seit der Gründung des nationalen Stromkonzerns EDF im Jahr 1946, der fälschlicherweise als öffentlicher Dienst dargestellt wird, wurden dessen Bauprojekte stets so konzipiert, dass sie vor allem Großunternehmen bereicherten. Dies galt sowohl für den Bau von Kraftwerken zur Stromerzeugung als auch für den Bau aller notwendigen Anlagen für den Stromtransport. Als lange vor dem Zeitalter der Atomkraftwerke fieberhaft Staudämme gebaut wurden, taten sich die Tiefbau-Konzerne sowie die Hersteller von Turbinen und riesigen Generatoren aus vollen Zügen an dem Manna gütlich, das die Aufträge von EDF ihnen boten.
Ebenso haben energieintensive Industriekonzerne immer von Vorzugstarifen profitiert, wie Pechiney (heute Rio Tinto) bei der Aluminiumherstellung.
Dieser Dienst am Kapital hat nie aufgehört. Die Schaffung von Kernkraftwerken hat lediglich andere Akteure und damit andere Profiteure ins Spiel gebracht, nämlich die der "nuklearen Wertschöpfungskette". Dazu zählen Betonbauer, die Hersteller der umfangreichen Reaktorausrüstung, die Uranlieferanten sowie die IT-Unternehmen aller Art. Und natürlich die Großkunden, die man als "energieintensiv" bezeichnet.
All diese Konzerne mit ihren manchmal voneinander abweichenden oder sogar gegensätzlichen Interessen entscheiden letztendlich über die Politik des nationalen Stromkonzerns EDF und damit auch über den Inhalt der staatlichen Entscheidungen.
So werden Bauprojekte übereilt durchgeführt und Hindernisse dafür aus dem Weg geräumt: insbesondere Verordnungen und Vorschriften, die ihren Wettlauf um die Atomkraft – in Wahrheit um den Profit – verlangsamen könnten.
In der gesamten Presse wurde kürzlich über die Fusion des IRSN (des Instituts für Strahlenschutz und nukleare Sicherheit) mit der ASN (der Behörde für nukleare Sicherheit) berichtet. Die ASN hat die Aufgabe, Entscheidungen im Bereich der nuklearen Sicherheit zu treffen. Dazu hat sie sich auf das Fachwissen des IRSN gestützt, das für die technische Prüfung von Akten zur nuklearen Sicherheit zuständig ist. Diese Fusion bedeutet, dass die Sicherheitsüberprüfungen und die Information der Öffentlichkeit künftig viel weniger unabhängig sein werden von den Stellen, die die Entscheidungen treffen.
Dies ist der EDF-Führung nur recht, da sie die Experten des IRSN oft als lästig empfindet. Die Untersuchung von Spannungsrisskorrosion in den Schaltkreisen mehrerer Kernkraftwerke durch das IRSN führte zum Beispiel dazu, dass diese für mehrere Monate abgeschaltet werden musste. Dies war zweifellos ein Grund für die Entscheidung, die wissenschaftlichen Experten weniger unabhängig zu machen.
Viele Experten sprachen sich gegen diese Fusion aus, und auch die Mitarbeiter des IRSN machten wiederholt massiv gegen sie mobil.
Für die Regierung hatte das Thema jedoch Priorität. Es musste schnell gehen. Denn sie will den Entscheidungsprozess „flüssiger gestalten“, wie sie es nennt – nicht nur beim Bau neuer Kraftwerke, einschließlich Kraftwerken mit neuen Verfahren. Das ‚unbürokratischere‘ Verfahren soll auch bei den Kraftwerken zur Anwendung kommen, die bereits in Betrieb sind. Die Regierung will deren Lebensdauer ungehindert verlängern können und verhindern, dass sie zu längeren Abschaltungen gezwungen werden. Schließlich kostet jeder Tag, an dem ein AKW abgeschaltet ist, den EDF-Konzern eine Million Euro.
Zwar zögerten einige Abgeordneten der Regierungsfraktion anfangs, für das Gesetz zu stimmen. Doch dann beugte sich die große Mehrheit den Anweisungen – nicht den Anweisungen Macrons, sondern denen der Atomindustrie und des EDF-Konzerns. Und so wurde das Gesetz am 9. April dieses Jahres verabschiedet. Und was soll's, wenn die nukleare Sicherheit dadurch noch etwas mehr leidet!
Neue Projekte... ohne das nötige Personal
Bei EDF und Framatome (dem französischen Konzern, der Atomkraftwerke baut und instand hält), bei den Ingenieursdienstleitern, in der Forschung und Entwicklung schlug die 2022 getroffene Entscheidung, die Kernkraft wiederzubeleben, wie eine Bombe ein. Schließlich bereiteten sie sich alle im Gegenteil seit Jahren darauf vor, die Atomkraft zurückzufahren.
Seitdem 1999 das letzte französische AKW an das Stromnetz angeschlossen worden war, ist die Zahl der Arbeitsplätze im Bereich der Kernenergie drastisch gesunken. Selbst nach der Entscheidung zum Bau des EPR-Reaktors im Jahr 2005 ist die Zahl der Beschäftigten in den Abteilungen von EDF, die sich mit der Konzeption und Überwachung neuer Projekte sowie der Laufzeitverlängerung bestehender Kernkraftwerke befassen, nur geringfügig gestiegen.
2005 wurde EDF in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Die neuen Aktionäre wollten sowohl von der Rendite der Atomkraftwerke profitieren, deren Schulden gerade erst amortisiert waren, als auch die Gewinne aus dem Verkauf neuer AKWs ins Ausland einstreichen. Der Bau des AKW hat den Personalabbau also nicht aufgehalten.
Im Gegenteil, nach dem Störfall in Fukushima, der den Absatzmarkt für neue AKWs einstürzen ließ, nahm der Stellenabbau bei EDF erneut an Fahrt auf. Es gab mehrere Sparpläne mit verheerenden Auswirkungen. Im Jahr 2016 gab es das Sparprogramm mit dem Namen CAP 2030, im Jahr 2020 dann das Projekt mit dem niedlichen Namen Mimosa.
Um alle vom Staat angekündigten Kraftwerke zu bauen, bräuchte es nach Schätzungen der Atomindustrie bis 2030 eine Belegschaft von 300.000 Beschäftigten. Dazu müssten innerhalb von sechs Jahren 150.000 Arbeitende eingestellt werden, wenn man diejenigen mit berücksichtigt, die in Rente gehen. Bei EDF selbst wird der Bedarf auf 3.000 Neueinstellungen pro Jahr geschätzt.
Wir sind jedoch weit davon entfernt. Die Personalchefin von EDF hat im Mai verkündet, dass der Konzern 2023 in Frankreich 10.000 Beschäftigte mit unbefristeten Verträgen eingestellt hat. Insgesamt hat dies den Personalbestand jedoch nur um 5.300 Beschäftigte erhöht, darunter 1.500 bei EDF SA – die nicht nur den Bereich der Atomkraft betreffen – und ebenso viele bei Framatome.
Dennoch bringt EDF immer neue Projekte auf den Weg, angelockt von den neuen öffentlichen Finanzquellen in Frankreich und Europa. So stellt das Programm France Relance 500 Millionen Euro zur Verfügung, um die Entwicklung kleinerer Kernreaktoren zu finanzieren, wie z. B. einen SMR von EDF mit dem Namen Nuward. Bei der Entwicklung dieses Reaktors fing EDF praktisch bei null an und wollte dafür nicht einmal zusätzliche Beschäftigte einstellen. Im Laufe der Machbarkeitsstudien wurde den Teams klar, dass dieser übereilt beschlossene Reaktor mit den ursprünglich vorgesehenen Plänen möglicherweise nicht funktionieren würde. Der Vorstandsvorsitzende von EDF beschloss schließlich, das Projekt diesen Sommer auszusetzen.
Diese Entscheidung erklärt sich teilweise damit, dass die am Projekt beteiligten Firmen kein Personal dafür finden. So berichtete die Zeitung Les Echos berichtete im April über den Fall der Firma TechnicAtome, die Kessel für U-Boote herstellt und auf denselben Pool an Beschäftigten zurückgreift wie EDF, Framatome, Orano und die Zulieferer der Branche. Ein Artikel in La Tribune vom Dezember 2023 titelte: "Subunternehmer prangern aggressive Praktiken von Framatome an, um ihre Mitarbeiter abzuwerben." In der Tat gibt es zwar Vereinbarungen innerhalb der Atomkraftbranche. Doch bei einigen Subunternehmern wandern regelmäßig die erfahrensten Mitarbeiter zu den großen Auftraggebern ab. Der Pool an Personal mit begehrten Kompetenzen ist nicht sehr gut gefüllt, da in den Schulen und Universitäten ebenfalls nichts vorausgeplant wurde und die entsprechenden Ausbildungsgänge gerade erst eingerichtet werden.
Dasselbe Phänomen ist nicht nur bei der Entwicklung und dem Bau von Kernkraftwerken zu beobachten, sondern auch im Bereich der technischen Wartung. Auch in diesem Bereich wurden sukzessive Maßnahmen getroffen, um die Kosten zu senken und die Atomkraftwerke in eine Cash-Cow zu verwandeln – sogar schon vor der Privatisierung im Jahr 2004. So wurde die präventive Wartung auf ein Minimum beschränkt, um die Verfügbarkeit der Kraftwerke so hoch wie möglich zu halten. Die Bestände an Ersatzteilen wurden verringert und die Beschäftigten waren gezwungen, die Teile seltener auszutauschen. Während die Wartung vor 25 Jahren noch zum größten Teil von Festangestellten des Stromkonzerns EDF durchgeführt wurde, wird sie heute nur noch zu 20% von EDF-Angestellten und zu 80% von Subunternehmern durchgeführt – den berühmten "Atom-Nomaden", die oft überausgebeutet und schlecht ausgebildet sind und von EDF schlecht angesehen werden.
Rasche Verschlechterung der Arbeitsbedingungen in einer stagnierenden Wirtschaft
Mit der Wiederbelebung der Kernenergie, mit der bereits begonnenen Laufzeitverlängerung bestehender Kernkraftwerke haben sich die Arbeitsbedingungen erheblich verschlechtert.
So lässt EDF zunehmend Arbeiten kostengünstig von Tochterunternehmen oder Start-ups erledigen, die ihre Arbeiter maximal auspressen. Im Ingenieursbereich wurde Edvance, eine Tochtergesellschaft von EDF und Framatome damit beauftragt, so schnell wie möglich die neuen EPR2-Reaktoren zu entwerfen. Die Beschäftigten von Edvance sind jedoch bislang schlecht ausgebildet und haben weniger Rechte als die Beschäftigten von EDF.
Und auch wenn EDF in den Medien Werbung damit macht, dass der Konzern jungen Bewerbern vorteilhafte Bedingungen anbiete, so sieht die Realität anders aus. In den großen Metropolen, im Großraum Paris oder in Lyon, bleiben Stellen, insbesondere Technikerstellen, manchmal monatelang unbesetzt, da die angebotenen Löhne zu niedrig sind, um in diesen Städten wohnen und leben zu können. Um es noch schlimmer zu machen, haben neu eingestellte Beschäftigte nicht einmal Anspruch auf die letzten von EDF beschlossenen Lohnerhöhungen. Ganz zu schweigen von dem neuen Rentengesetz, nach dem alle, die ab September 2023 eingestellt werden, keinen Anspruch mehr auf die Sonderregelungen der Strom- und Gasindustrie haben. Die Zahl derjenigen, die nach kurzer Zeit wieder kündigen, nimmt daher zu.
Es besteht also eine Kluft zwischen dem großspurig verkündeten Ziel, die Produktionsmaschinerie für Kernkraftwerke wieder anzukurbeln, und den tatsächlichen Bedingungen in der Atomindustrie in Bezug auf die verfügbaren Personal- und Produktionsmittel. Als in den 1970er und 1980er Jahren das letzte Mal massenhaft Atomkraftkraftwerke gebaut wurden, war die Situation eine vollkommen andere. Zwischen 1977 und 1981 wurden 45 Reaktoren gebaut. Zum Vergleich: für die nächsten Jahre plant der Staat den Bau von sechs bis acht EPR2-Reaktoren. Um dies möglich zu machen, hatten EDF und der Staat Ende der 1960er / Anfang der 1970, also kurz vor Beginn der Weltwirtschaftskrise, einen umfangreichen Plan zum Bau der Kraftwerke aufgelegt, selbstverständlich zur Freude der Kapitalisten der Atomindustrie und der Baubranche.
Fünfzig Jahre später stagniert die kapitalistische Wirtschaft immer noch. Sie wird von der Finanzwirtschaft beherrscht: Die Kapitalisten sind auf der Suche nach kurzfristigen Gewinnen, die eher durch Spekulation als durch Produktion erzielt werden. Dies lässt sich in allen Bereichen der Wirtschaft beobachten. Werden die angekündigten Atomkraftwerke also tatsächlich gebaut? Oder handelt es sich nur um vollmundige Ankündigungen ohne Taten, da die Unternehmen der Branche offenbar nur zögerlich neue Beschäftigte einstellen? Die Tatsache, dass EDF Verträge mit allen möglichen Start-ups abschließt, um weitere kleine, innovative, alternative Reaktoren zu entwickeln, wie zuletzt Thorizon, könnte jedenfalls etwas Ähnliches vermuten lassen: Vielleicht geht es den bei dem Programm in Wahrheit nur darum, im Rahmen des verrottenden Kapitalismus einer Industrie, die am Ende ist, mit Milliardengeschenken die Profite zu sichern.
Welche Folgen hat dies für die Bevölkerung?
Die Bevölkerung wird in jedem Fall einen hohen Preis für diese Wiederbelebung der Kernenergie zahlen. Die Mehrkosten für den Reaktor in Flamanville sind ein Vorbote dafür.
So wie es aussieht, wird es auch auf den Baustellen der neuen EPR2-Kraftwerke viele solcher kostspieligen Unwägbarkeiten geben... wenn die Kraftwerke überhaupt je gebaut werden. In jedem Fall werden die Verbraucher die Zeche zahlen.
Es ist auch unvermeidlich, dass die Strompreise weiter steigen werden. Experten schätzen, dass die Kosten für die Stromerzeugung durch die neuen EPR2-Kraftwerke mindestens doppelt so hoch wären wie die Produktionskosten der derzeitigen Kraftwerke, die bei etwa 50 Euro pro 1 000 kWh liegen.
Denn natürlich werden die Preise nicht so festgelegt, dass die Bevölkerung möglichst geschont wird – sondern so, dass die Industriellen, die Kapitalisten den größtmöglichen Profit erzielen können.
Der von den Verbrauchern gezahlte Preis beinhaltet die enormen Gewinnspannen der Unternehmen, die am Bau der Kraftwerke beteiligt sind. Er beinhaltet außerdem die Profitmargen all der Dienstleistungsunternehmen, die die Wartung und den täglichen Betrieb in den Kraftwerken der Stromkonzerne sicherstellen. Dieser Preis wird weiterhin von der Spekulation auf dem Großhandelsmarkt für Strom bestimmt, der ein integraler Bestandteil der Energiewirtschaft ist.
Der Anstieg der Strompreise um 45% in zwei Jahren hat es dem EDF-Konzern somit ermöglicht, im Jahr 2023 den beträchtlichen Nettogewinn von zehn Milliarden Euro und allein im ersten Halbjahr 2024 von sieben Milliarden Euro zu erzielen. Aus diesen Gewinnen werden nicht nur die Unternehmen der Atomindustrie bezahlt, die an den verschiedenen Programmen von EDF beteiligt sind. Aus ihnen werden auch die Banker bezahlt, die EDF Geld geliehen haben. Fast drei Milliarden an finanziellen Verpflichtungen hat EDF im Jahr 2023 zahlen müssen. Und ein Ende ist angesichts der Höhe der Schulden nicht abzusehen.
Eine beunruhigte Bevölkerung angesichts einer undurchsichtigen Branche
Ein Teil der Bevölkerung ist angesichts der Gefahren der Kernenergie berechtigterweise besorgt. Sie wollen die übereilten Projekte zur Laufzeitverlängerung und dem Bau neuer EPR2- bzw. SMR-Kraftwerke bremsen oder ganz stoppen. Vereine studieren die von der Behörde für nukleare Sicherheit geprüften Akten und schlagen Alarm, sobald etwas faul ist. Der Staat fürchtet die Reaktionen der Bevölkerung. Daher hat die Regierung alles unternommen, um deren Eingriffsmöglichkeiten zu beschränken. Ein Gesetz zur „Beschleunigung der Verfahren beim Bau neuer Atomkraftwerke“ wurde im Juni letzten Jahres verabschiedet: Enteignungen werden erleichtert. Die Betreiber werden generell von der Notwendigkeit einer Baugenehmigung befreit und dürfen außerdem von den Gesetzen über geschützte Arten abweichen. Und Demonstrationen auf dem Gelände von Atomanlagen werden stärker kriminalisiert.
Dann gibt es da noch das Problem der Wiederaufbereitung abgebrannter Brennstäbe. Die derzeitigen Kapazitäten der Orano-Anlage in La Hague reichen nicht aus. Nach Angaben der ASN werden die Lagerkapazitäten für abgebrannte Brennstäbe in Abklingbecken spätestens 2030 an ihre Grenzen stoßen. Die bislang einzige Praxis besteht darin, die Brennelemente in den bestehenden Becken noch etwas dichter zu stapeln. Dies wirft natürlich Sicherheitsfragen auf.
Bis eine Wiederaufbereitungsanlage gebaut wird, übernimmt eine Tochtergesellschaft von Rosatom, dem russischen Atomkonzern, diese Tätigkeit für EDF – dank einer Ausnahme vom Embargo, die von der Europäischen Kommission gewährt wurde. Offensichtlich gelten deren Prinzipien nicht für alle gleich. Die Anhäufung abgebrannter Brennstäbe stellt also ein großes Risiko für die Bevölkerung dar. Dennoch wird in den Medien kaum darüber berichtet. Offensichtlich stehen die unmittelbaren Interessen der Akteure der Branche an erster Stelle.
Zum Schluss
Über die kapitalistische Gesellschaft seiner Zeit bemerkte Karl Marx im Manifest der Kommunistischen Partei: "Sie hat ganz andere Wunderwerke vollbracht als ägyptische Pyramiden, römische Wasserleitungen und gotische Kathedralen". Und die Atomkraftwerke, die Marx nicht kannte, sind ein modernes Beispiel dafür.
Aber in der heutigen Zeit jagt eine tiefe Wirtschaftskrise die nächste – wie die von 2008 oder die in der Folge der Coronapandemie. Der parasitäre Charakter der Finanzwelt wird jeden Tag ein bisschen schlimmer wird und übt einen ständigen Druck aus, die Gewinne immer weiter zu steigern und dafür auf allen Ebenen zu sparen, beim Personal, beim Material, bei der Sicherheit. Unter diesen Bedingungen ist es mehr als fraglich, dass die Wiederbelebung der Atomkraft zu großen Errungenschaften führen wird.
Sicher ist nur, dass – große Errungenschaften hin oder her – viele große und kleine Kapitalisten hier saftige Profite machen wollen. Und die Arbeitenden werden mit ihrem Schweiß, die Bevölkerung mit ihrem Geld und ihrer Gesundheit für diese Profite bezahlen. Die Arbeitenden können sich dieser Entwicklung nur widersetzen, wenn sie die direkte Kontrolle über diesen Wirtschaftszweig wie auch über andere Wirtschaftszweige ausüben. Aber um eine solche Kontrolle wirklich und dauerhaft durchsetzen zu können, um die Energieerzeugung unabhängig vom jeweiligen Verfahren zu beherrschen, müssen die Produktionsmittel den Kapitalisten aus den Händen genommen und sie in die Hände der Arbeitenden gelegt werden.
7. September 2024