Libanon: Die Hisbollah, eine nationalistische bürgerliche Partei

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aus Lutte de classe (Klassenkampf)
November 2024

Die libanesische Bevölkerung findet sich erneut in einen Krieg hineingezogen. Sie leidet unter der Barbarei des israelischen Staates als auch unter den Folgen des politischen Kalküls der Partei Gottes (Hisbollah). Letztere hatte zweifellos gehofft, dass ein schneller Waffenstillstand im Gazastreifen es ihr ermöglichen würde, den Beschuss Israels einzustellen, ohne das Gesicht zu verlieren. Stattdessen wurden bei einer Serie von Anschlägen ein Teil der Hisbollah-Führung und nicht zuletzt ihr Führer Hassan Nasrallah getötet. Und anschließend beschoss Israels Luftwaffe unaufhörlich den Südlibanon, Teile Beiruts und die Bekaa-Ebene, während israelische Truppen ins Land einrückten.

Dank der US-amerikanischen Unterstützung besitzt die israelische Armee eine überwältigende militärische Überlegenheit. Außerdem hat sie aus dem Scheitern ihrer früheren Operation gegen den Libanon im Jahr 2006 gelernt. Ihre Schläge trafen die Gebiete, in denen die schiitische Bevölkerung lebt und die für ihre angebliche Unterstützung der Hisbollah bestraft wurde. Bereits in den ersten Tagen wurden Tausende Zivilisten getötet oder verletzt und mehr als eine Million Libanesen auf der verzweifelten Suche nach einem sicheren Ort in die Flucht getrieben.

Seit 1978 ist die israelische Armee damit das vierte Mal in den Libanon einmarschiert. Man kann die Anzahl der Überfälle und Bombardements nicht mehr zählen, die die Luftwaffe während des Bürgerkriegs 1975-1990, zwischen 1996 und 2000 und im Krieg gegen die Hisbollah 2006 verübte. Die Zerstörung der Stromnetze und zahlreicher Infrastrukturen führte zu einem Zustand des Verfalls, von dem sich das Land bis heute nicht erholt hat.

Die libanesische Bevölkerung ist von diesen aufeinanderfolgenden Kriegen überfordert und durch eine Reihe von Krisen erschöpft. Der Libanon erlebte den Zustrom von 1,2 Millionen Flüchtlingen aus Syrien infolge des dortigen Krieges, dann den wirtschaftlichen Zusammenbruch im Jahr 2019 und die Folgen der Explosion des Hafens von Beirut im Jahr 2020, die das Land noch tiefer in die Armut trieben. Trotz ihrer Sympathie für die palästinensische Sache hat die libanesische Bevölkerung daher seit Beginn des derzeitigen Gaza-Kriegs deutlich gemacht, dass sie nicht in den Konflikt hineingezogen werden wollte.

Unter Berücksichtigung dieser Gefühle und des Kräfteverhältnisses begrenzte die Hisbollah daher ihr Engagement und ihre militärischen Initiativen. Im Vergleich zur Gewalt der israelischen Angriffe blieben ihre Angriffe relativ moderat. Doch die zweifellos von langer Hand vorbereitete Offensive Israels verwandelte dieses gefährliche Spiel in eine Katastrophe. Die gesamte libanesische Bevölkerung lebt nun in der Angst, Ähnliches wie in Gaza zu erleben, und die politischen Gegner der Hisbollah werden ihr sicherlich die Schuld dafür geben.

 

Instrumentalisierung der Konfessionen und soziale Ungleichheit

Nach dem Ersten Weltkrieg trennte das koloniale Frankreich Syrien vom Libanon, um diesen Teil des Nahen Ostens, den es dem Osmanischen Reich entrissen hatte, besser beherrschen zu können. Die Grenzen des Libanon wurden so gezogen, dass die maronitischen Christen auf Kosten der Sunniten, Drusen und Schiiten die Mehrheit bildeten. Alte Handelsbeziehungen zu den Arabern in Syrien und Palästina wurden dadurch unterbrochen.

Die Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1943 beendete nicht die von der Kolonialmacht geschaffenen konfessionellen Spaltungen, sondern verfestigte sie im Gegenteil. Die von Frankreich geschaffenen politischen Institutionen begünstigten die christliche Minderheit der Maroniten, denen das Amt des Staatspräsidenten vorbehalten war, während das Amt des Premierministers an einen sunnitischen Muslim ging und den schiitischen Muslimen das Amt des Parlamentspräsidenten zuerkannt wurde.

In den 1950er und 1960er Jahren wuchsen die sozialen und territorialen Ungleichheiten zwischen der Hauptstadt und den ländlichen Gebieten sowie zwischen den Konfessionen. Während sich Beirut zu einem wichtigen Finanzzentrum des Nahen Ostens entwickelte, das eine wohlhabende christliche Bourgeoisie beherbergte, lebten die Menschen in den ländlichen schiitischen Gebieten des Südlibanon und des Bekaa-Tals in Armut. Die Infrastruktur – Kommunikationsmittel, Straßen, Schulen, ärztliche Versorgung und Krankenhäuser – war dort rudimentär. Viele Dörfer hatten keinen Strom und es fehlte an fließendem Wasser. In den 1950er Jahren war der Lebensstandard der schiitischen Bevölkerung fünfmal niedriger als der der Einwohner von Beirut. Zwanzig Jahre später, 1970, besuchten 50 Prozent ihrer Kinder noch immer keine Schule. Viele verließen die ländlichen Gebiete und zogen in die südlichen und nördlichen Vororte Beiruts, weshalb diese auch als „Gürtel des Elends“ bezeichnet wurden. Sie ließen sich neben den Lagern der palästinensischen Flüchtlinge nieder, die 1948 von Israel aus ihrem Land vertrieben worden waren. Sie teilten ihre Lebensumstände als Arbeiter in den Fabriken und auf dem Bau, fühlten die gleiche Revolte und die gleichen Hoffnungen. Der Mut und die Entschlossenheit der Palästinenser trugen dazu bei, sie zu politisieren und ermutigten sie, sich nicht mehr alles gefallen zu lassen. In den frühen 1970er Jahren fanden sich die armen libanesischen und palästinensischen Massen immer häufiger Seite an Seite in Streiks und Demonstrationen wieder.

 

Der Bürgerkrieg von 1975-1990 gegen die libanesische Linke und die Palästinenser

Dieser wachsenden Mobilisierung wollte die christliche extreme Rechte im Libanon im April 1975 einen Riegel vorschieben: Sie richtete im Beiruter Stadtteil Ain el-Remmaneh ein Massaker unter den palästinensischen und libanesischen Insassen eines Busses an, die von einer Solidaritätsveranstaltung für die Palästinenser zurückkehrten. Dies war der Beginn eines Bürgerkriegs, der bis 1990 dauern sollte und in dem linksgerichtete libanesische und palästinensische Milizen Seite an Seite gegen die rechtsgerichteten Milizen kämpften. Die palästinensischen Führer, die unfreiwillig in diesen Konflikt hineingezogen worden waren, wollten sich jedoch weiterhin auf ihre nationalen Ziele beschränken. Auch die libanesischen linken Parteien waren nicht bereit, an der Spitze der Volksmassen eine Politik zu führen, die deren Bestrebungen nach einer sozialen Umwälzung entsprach.

1976 griff die syrische Armee auf den Befehl von Hafiz al-Assad ein. Dieser wollte die sogenannten „progressiven palästinensischen“ Milizen aufhalten, die immer mehr Erfolge gegen die Milizen der extremen Rechten erzielten. Er ließ die Palästinenser im Flüchtlingslager Tel al-Zaatar massakrieren. Die Hoffnung, dass der Konflikt zu einem Erfolg für die armen Massen führen würde, wurde somit schnell gedämpft. Der vom Bürgerkrieg verwüstete Libanon wurde zu einem Schauplatz, auf dem sich die Regionalmächte Syrien, Israel, Saudi-Arabien und schließlich Iran jeweils mit konfessionellen Milizen bekämpften.

Mit der Operation „Frieden in Galiläa“ drang 1982 die israelische Armee in den Südlibanon ein, entschlossen, die palästinensischen Kämpfer und ihre libanesischen Unterstützer auszuschalten. Sie profitierte von der Neutralität Nabih Berris, des Anführers der mächtigen schiitischen Amal-Miliz, der von Syrien unterstützt wurde und dem Plan zur Vertreibung der Palästinenser zugestimmt hatte.

Die israelische Armee belagerte und bombardierte Beirut mit dem Ziel, ihren christlichen Verbündeten Bashir Gemayel (den Führer der rechtsextremen Phalangisten-Partei) an die Macht zu bringen. Die Offensive endete mit der Vertreibung der PLO-Kämpfer nach Tunis und dem Massaker an den Bewohnern der palästinensischen Flüchtlingslager Sabra und Schatila, das im September 1982 von christlichen Milizen mit Unterstützung der israelischen Armee verübt wurde. Der israelische Plan, in Beirut eine politische Marionetten-Regierung zu installieren, verlief jedoch im Sande: Bashir Gemayel kam bald bei einem Attentat ums Leben, das wahrscheinlich auf syrische Geheimdienste zurückzuführen ist.

 

Die Entstehung der Hisbollah

Anfang der 1980er Jahre war der Bürgerkrieg in eine Sackgasse geraten. Die Organisationen der libanesischen Linken und der palästinensischen Nationalisten der PLO hatten sich als unfähig erwiesen, eine revolutionäre Politik zu führen, wie sie die Situation erfordert hätte. Dies ermöglichte der Hisbollah, sich in Teilen der Bevölkerung zu verankern – insbesondere in der schiitischen Gemeinschaft, die 40% der libanesischen Bevölkerung ausmacht und die ärmste Fraktion ist.

Nachdem es Israel nicht gelungen war, in Beirut ein Regime nach seinen Vorstellungen zu installieren, blieb die israelische Armee im Südlibanon und formte dort aus rechtsradikalen christlichen Milizen die Südlibanon-Armee (SLA). Die Hisbollah entstand als Reaktion auf diese Besatzung. Sie entwickelte sich aus einer kleinen militärische Gruppe von Aktivisten, die entschlossen waren, gegen die israelische Armee und die SLA zu kämpfen. In der Hisbollah taten sich Aktivisten der islamistischen Dawa-Partei, schiitische Studenten und Ulemas (Religionsgelehrte) sowie Dissidenten der mächtigen schiitischen Amal-Miliz, die von Syrien unterstützt wurde, zusammen. Die 30.000 Mann starke Amal-Miliz hatte sich gespalten, als Nabih Berri der geplanten Vertreibung der Palästinenser aus Beirut zugestimmt hatte.

Mit dem Niedergang des Panarabismus, dem Scheitern der PLO und dem offensichtlichen Verrat der palästinensischen Sache durch die arabischen Staaten richteten sich die Blicke auf den Iran. Das Prestige der Revolution, die 1979 ein den USA untergeordnetes Regime vertrieben hatte, war immens – auch wenn sie letztlich die Ayatollahs an die Macht gebracht und das reaktionäre Regime der Islamischen Republik errichtet hatte. In der gesamten muslimischen, schiitischen wie auch sunnitischen Welt wandten sich viele, die sich nach einem Wandel sehnten, radikalen fundamentalistischen Tendenzen zu.

Khomeinis Iran entsandte 1.500 Revolutionswächter, die die zukünftigen Kämpfer der Hisbollah militärisch auszubilden und zu trainieren. Zu ihnen gehörte auch Hassan Nasrallah. Von den gewagten militärischen Operationen der islamistischen Partei begeistert, schlossen sich ihr immer mehr junge Menschen an, die entschlossen waren, der israelischen Besatzung ein Ende zu machen.

1985 erklärte die bis dahin im Untergrund agierende Hisbollah in einem Brief an die Unterdrückten in der Welt ihre Existenz. Sie stellte sich unter die Führung des iranischen Obersten Führers, des Orakels des islamischen Widerstands. In dem Schreiben plädiert sie für die Errichtung einer islamischen Republik im Libanon und geißelt das bisherige Regime mit seiner nach Religionsgemeinschaften geteilten Macht. Sie rief zum Kampf gegen den nordamerikanischen Imperialismus, gegen Israel, die NATO, aber auch gegen die UdSSR und den Kommunismus auf. Die schiitische Jugend war bis dahin von linken Bewegungen beeinflusst worden. Was sie nun für die Hisbollah einnahm, war weniger deren Projekt eines islamischen Staates als vielmehr ihre anti-amerikanischen Reden und ihre erbitterte Opposition gegen die israelische Besatzung.

 

Eine bürgerliche und antikommunistische Partei

Die Hisbollah verbreiterte ihre soziale Basis, indem sie über die Moscheen Netzwerke zur Unterstützung der Ärmsten organisierte. Auf demagogische Weise etablierte sie sich als vermeintlich alleinige Vertreterin der benachteiligten Libanesen. Doch auch wenn die Partei Gottes vorgab, den Ärmsten der Armen zu helfen, erwartete sie von ihnen, dass sie unter ihrer Kontrolle blieben und sich den vom Islam aufgestellten Regeln unterwarfen. Sie ordnete die Schließung von Geschäften an, die Alkohol verkauften. Sie übte Druck auf Frauen aus, sich zu verschleiern. Und ihre Rivalen von der Amal-Miliz bekämpfte sie mit Gewalt. Als erbitterte Gegnerin des Klassenkampfes organisierte die Hisbollah auch eine Serie gezielter Morde unter den Mitgliedern der linken Organisationen, die Einfluss unter den Arbeitern hatten. So ließ ihr Anführer Subhi al-Tufaili 1987 rund 30 Funktionäre der Kommunistischen Partei des Libanon ermorden, unter ihnen Mahdi Amel und Husayn Muruwwa.

1989 beendete das mit Unterstützung der USA in Saudi-Arabien geschlossene Abkommen von Taif den fünfzehnjährigen libanesischen Bürgerkrieg. Dank der Unterstützung ihrer jeweiligen Schirmherren gingen die Milizen der verschiedenen Konfessionen militärisch und finanziell gestärkt aus diesem Abkommen heraus. In der Folge rissen sich die Anführer der Milizen die öffentlichen Unternehmen und Dienstleistungen unter den Nagel und weideten den geschwächten Staat aus. Nichts entging ihrem Raubzug: die nationale Elektrizitätsgesellschaft, die Wassergesellschaft, die Tabakbehörde, die Sozialversicherungskasse und vieles mehr. Der Libanon, dessen Süden weiterhin von Israel besetzt war, stand vor allem unter der Aufsicht Syriens und dessen Herrscher Hafiz al-Assad. Und da dieser das Recht der Hisbollah auf Widerstand gegen Israel verteidigt hatte, durfte die Hisbollah ihre schweren Waffen behalten.

Mitte der 1990er Jahre begann sich die soziale Unzufriedenheit im Libanon erneut zu äußern und eine Streikwelle erschütterte das Land. Angesichts dieser Arbeiterproteste zeigte sich, dass sich die rivalisierenden Milizführer ganz schnell vereinen können, wenn es um die Verteidigung der Interessen der Bourgeoisie geht. Die Regierung des Sunniten Rafik Hariri, die von Saudi-Arabien, der Hisbollah und Amal unterstützt wurde, schob ihre Rivalitäten beiseite, um diese Streiks zu unterdrücken. Darüber hinaus entwickelte sie eine Strategie, um den Allgemeinen Bund der Arbeiter des Libanon (CGTL) zu neutralisieren. Denn die Gewerkschaft CGTL vereinigte Arbeitende aller Konfessionen und war in der Lage gewesen, mitten im Bürgerkrieg Demonstrationen gegen die israelische Besatzung zu organisieren und sich dabei jeder konfessionellen Spaltung und der Macht der Milizen zu widersetzen.

Die Regierung von Rafik Hariri verbot im Juli 1995 alle Demonstrationen während des vom Gewerkschaftsbund ausgerufenen Generalstreiks. Sie konnte dabei auf die Unterstützung der syrischen Armee zählen, die in Beirut und anderen Städten aufmarschiert war. Zwei Jahre später wurde ein Aufstand der armen Bevölkerung im Bekaa-Tal von der libanesischen Armee mit militärischer Unterstützung der Hisbollah niedergeschlagen. Als 2004 Arbeiter dem Aufruf der CGTL zum Streik folgten und von der Armee niedergeschlagen wurden, wobei vier Menschen starben, rechtfertigte die Hisbollah dies mit einer „roten Linie“, die nicht überschritten werden dürfe.

Die Parteiführer einigten sich faktisch auf die Gründung von Gewerkschaften auf konfessioneller Grundlage in der Landwirtschaft, dem Transportwesen, im Baugewerbe, der Druckindustrie, der Presse, im Gesundheitswesen, den Genossenschaften und dem Stromkonzern. Diese Gewerkschaften waren oft leere Hüllen. Doch die extreme Vermehrung an Gewerkschaften ermöglichte es Amal und Hisbollah, die Mehrheit der Führungssitze des Dachverbandes CGTL in ihre Hände zu bringen.

Im Namen der Interessen der schiitischen Gemeinschaft oder im Namen des Widerstands gegen Israel stellten sich diese Gewerkschaftsführer gegen alle offensiven Kämpfen der Arbeitenden. Die Hisbollah, die vorgab, die armen Schichten der Bevölkerung zu vertreten, erwies sich somit in erster Linie als Interessenvertreterin der Bourgeoisie.

 

Eine Verteidigerin der Gesellschaftsordnung

Der andauernde Krieg mit Israel ermöglichte es der Hisbollah im Gegenzug, an Ansehen zu gewinnen und ihre Macht zu festigen. Ihre Popularität wurde im Krieg von 2006 noch gesteigert, als ihre Kämpfer die israelischen Truppen, die in den Südlibanon eingedrungen waren, zum Rückzug zwangen. Vor allem, da die libanesische Armee passiv blieb und zusah, während viele Städte dem Erdboden gleichgemacht und ein Großteil der Infrastruktur des Landes zerstört wurde. Die Hisbollah schien nicht mehr nur die schiitische Bevölkerung zu schützen, sondern wirkte wie ein Bollwerk für alle gegen die israelische Bedrohung.

In der Folgezeit nahm ihr wirtschaftliches, politisches und militärisches Gewicht innerhalb des gescheiterten Staates stetig zu, was zum Teil auf die finanzielle Unterstützung des Iran zurückzuführen war, die sich all die Jahre auf 700 Millionen bis 1 Milliarde US-Dollar pro Jahr belaufen haben soll.

Die Hisbollah zog 1992 zum ersten Mal ins Parlament und 2005 in die Regierung ein. Im Frühjahr 2008 antwortete sie mit einem Militärputsch im Westen der Hauptstadt auf einen Beschluss des Ministerrats, der ihre Interessen bedrohte. Um den Preis von 65 Toten und fast 200 Verletzten erlangte sie ein Veto-Recht gegen Regierungsentscheidungen. Seither wurde also nichts mehr ohne ihre Zustimmung entschieden.

Innerhalb von vierzig Jahren ist die Hisbollah zu einem unumgänglichen Akteur in der libanesischen Politik geworden, der vor allem in der schiitischen Bevölkerung verankert ist. Gesundheitsfürsorge, Arbeit, Sport, Kultur oder Bildung – wer Zugang zu diesen Dienstleistungen haben will, kommt an der Hisbollah nicht vorbei. Sie ist zum größten Arbeitgeber geworden und die von ihm kontrollierten Wohltätigkeitseinrichtungen wurden erheblich ausgeweitet. Der Zusammenbruch des Bankensystems im Oktober 2019 hat den Klientelismus und die Korruption verstärkt. Die Bevölkerung konnte nicht mehr auf ihre Ersparnisse zurückgreifen und wandte sich an die Organisationen der Hisbollah, die normalerweise Mikrokredite vergeben und die die Betroffenen sofort mit Devisen im Tausch gegen Gold versorgten.

Auf militärischer Ebene ist die Hisbollah mittlerweile weitaus größer und stärker als die libanesische Armee, deren schlecht ausgestattete Truppen durch den niedrigen Sold (zwischen 20 Euro für Soldaten und 80 Euro für Offiziere) kaum motiviert werden. Die Hisbollah hingegen kann 100.000 Mann und ein Arsenal von allerlei Waffen, Drohnen sowie 150.000 Raketen für sich beanspruchen. Dennoch wurde ihre Popularität geschmälert, als sie nach 2011 zur Unterstützung des umstrittenen Regimes von Baschar al-Assad in den Syrienkrieg eingriff. Sie entsendete 7.000 bewaffnete Kämpfer, die von einem iranischen Kommando geführt wurden. Dies brachte ihr die Abneigung der anderen Bevölkerungsgruppen ein. Sie war daraufhin weitgehend kompromittiert, als Unterstützerin dieser blutigen Diktatur und als Handlanger des Iran.

Doch auch wenn ihr regelmäßiger Raketenbeschuss Israels und ihre Kriegsrhetorik dem Iran als Mittel der Abschreckung dienen, verteidigt die Hisbollah in erster Linie ihre eigenen Interessen und die der libanesischen Bourgeoisie.

Dies kann auch durch indirekten Handel und Kompromisse mit dem israelischen Staat geschehen. So schlossen Israel und die libanesische Regierung, in der die Hisbollah die vorherrschende Kraft ist, 2022 einen Kompromiss über die Ausbeutung eines Gasfeldes im Mittelmeer durch den Total-Konzern. Die Hisbollah machte damit deutlich, dass die Interessen der libanesischen Bourgeoisie Vorrang vor allen anderen Überlegungen haben.

 

Die israelische Armee auf bekannten Pfaden

Der Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023, gefolgt von der Zerstörung des Gazastreifens, dem Massaker der israelischen Armee an den Palästinensern und nun ihrer Offensive im Libanon hat die Lage verändert. Gestärkt durch die bedingungslose Unterstützung der USA haben Netanjahu und seine Generäle eine kriegerische Flucht nach vorn angetreten und die israelischen Panzer fahren bereits auf Straßen, über die sie in der Vergangenheit bereits mehrfach gefahren sind.

Mit dem Versuch, die Hisbollah zu zerschlagen, will die israelische Regierung nicht nur die Sicherheit der Bevölkerung im Norden Israels wiederherstellen, die von den Raketen der Partei Gottes bedroht werden. Sie will auch eine nationalistische Partei machtlos machen, die einen bedeutenden Teil der libanesischen Bourgeoisie repräsentiert. Wie bei allen anderen Kriegen Israels gegen seine Nachbarn geht es darum, die Versuche des dortigen nationalen Bürgertums, sich ein Stück weit zu entwickeln und sich der Bevormundung durch den Imperialismus ein wenig zu entziehen, im Keim zu ersticken.

Die israelische Führung hat aus ihren früheren Misserfolgen offensichtlich wenig gelernt. Sie ist zweifellos bereit, ihre Versuche zu wiederholen, im Libanon ein ihnen höriges Regime zu installieren. Netanjahus Reden zeigen, dass er sogar davon träumt, dies auch in anderen Ländern der Region, in Syrien oder sogar im Iran zu tun.

Sein kriegerischer Wahnsinn wird nicht mehr Ordnung in den Nahen Osten bringen, sondern im Gegenteil noch mehr Unordnung. Er kann auch das israelische Regime nur in neue Sackgassen führen. Leider kündigt dieser kriegerische Wahnsinn in erster Linie neue Massaker und Zerstörungen im Libanon an, zusätzlich zu denen in Gaza. Diese zunehmende Barbarei ist der horrende Preis für die Aufrechterhaltung der Herrschaft des Imperialismus und seines allmächtigen Dieners Israel über den Nahen Osten.

24. Oktober 2024