Folgender Text wurde vom Kongress von Lutte Ouvrière, der Anfang Dezember 2024 in Frankreich stattfand.
Die Innere Lage in Frankreich
In Frankreich: Zunehmende reaktionäre Ideen vor dem Hintergrund der politischen Krise
Die prägendste Tatsache der innenpolitischen Lage ist die Beschleunigung der reaktionären Entwicklung. Vor dem Hintergrund von Krisen und Kriegen werden sicherheitspolitische, nationalistische und fremdenfeindliche Ideen immer alltäglicher, wie die Ergebnisse der Rassemblement National bei den Europa- und Parlamentswahlen belegen.
Da Macron es für richtig hielt, die Nationalversammlung aufzulösen und vorgezogene Parlamentswahlen herbeizuführen, kommt zum Erstarken der extremen Rechten nun eine politische Krise. Das Parlament ist nun in drei Blöcke von vergleichbarer Größe und in elf Fraktionen unterteilt. Dies macht eine Koalitionsregierung erforderlich, eine Situation, die in vielen Ländern üblich ist, aber in Frankreich während der V. Republik noch nie vorgekommen ist. Die Situation ist umso komplizierter, als das politische Spielchen immer noch darin besteht, die Rassemblement National zu isolieren, die mit ihrem Verbündeten Ciotti zusammen 142 Abgeordnete hat.
Macron brauchte daher zwei Monate, um einen Premierminister zu finden, der in der Lage war, eine Mehrheit zu finden, die die Macronisten einbindet und von Le Pen abgesegnet wurde. Diese Aufgabe (ein befristeter Auftrag, der bis zur nächsten Parlamentsauflösung dauern wird, die frühestens im nächsten Sommer möglich ist) wurde dem konservativen LR-Politiker Michel Barnier anvertraut. Dieser brauchte fast einen Monat, um seine Regierung zusammenzustellen.
Mit Ausnahme von Retailleau, der den medienwirksamen Posten des Innenministers übernommen hat, gibt es in seiner Mannschaft kein einziges Schwergewicht. Denn die wichtigsten Politiker der Rechten und der Macronie wollten nicht auf die Titanic der derzeitigen Regierung steigen. Jeder denkt an seine eigene Zukunft und bereitet sich auf die nächsten Präsidentschaftswahlen vor. Deshalb verbringen Attal, Darmanin, Philippe, Wauquiez, Retailleau oder Bayrou, die angeblich zur Mehrheit gehören, ihre Zeit damit, sich gegenseitig in die Parade zu fahren.
Wie lange hält dieses Gespann durch? In der Haushaltsdebatte, die derzeit im Parlament stattfindet, ist ein Schelm, wer die offiziellen Unterstützer der Regierung von den offiziellen Gegnern unterscheiden kann. Wir kannten bereits die Unterstützung ohne Regierungsbeteiligung der Kommunistischen Partei für die Regierung Blum im Jahr 1936, die dazu diente, der Arbeiterklasse die Hände zu fesseln und sie der bürgerlichen Ordnung zu unterwerfen. Heute experimentieren die Politiker umgekehrt mit der Regierungsbeteiligung ohne Unterstützung der Regierung!
Das Spiel ist aus Sicht der Interessen der Bourgeoisie und ihres Systems unverantwortlich, da es dazu beiträgt, eine Regierung zu schwächen und zu diskreditieren, die die aktuelle politische Kaste vielleicht nur schwer ersetzen kann. Doch die Bourgeoisie, eine individualistische Gesellschaftsklasse von Emporkömmlingen, die kein anderes Prinzip als „nach mir die Sintflut“ kennt, wählt Diener nach ihrem Abbild aus. Diese verschärfen die Instabilität, die untrennbar mit dem kapitalistischen System verbunden ist. Sie sind ein Teil des Problems.
Le Pen und Bardella im Vorzimmer der Macht
Bei den Europawahlen erreichte die Rassemblement National (RN) in 93% der Gemeinden und in 457 von 577 Wahlkreisen den ersten Platz mit 31,5% der Stimmen, beziehungsweise 40%, wenn man die Ergebnisse von Reconquête und den anderen rechtsextremen Listen hinzurechnet. Bei den anschließenden Parlamentswahlen erhielt sie die Stimmen von fast 10 Millionen Wählern – bei den Parlamentswahlen 2022 waren es 4,2 Millionen gewesen. Nur das sogenannte „republikanische Bündnis“ zwischen der Neuen Volksfront (NFP) und der Macronie verhinderte, dass Bardella die Regierungsgeschäfte übernehmen konnte. Die RN ist jedoch mehr denn je in einer starken Position.
Die RN hat sich verpflichtet, die Regierung Barnier nicht sofort zu Fall zu bringen. Das gibt ihr die Möglichkeit, Einfluss auf die Politik der Regierung zu nehmen. Unter dem Druck der RN hat die Regierung angekündigt, ein neues Einwanderungsgesetz vorzulegen – das 19. Gesetz zu diesem Thema in 20 Jahren. Le Pen hat keine Angst, dass Retailleau und die LR ihr damit die Show stehlen könnten. Sarkozy hatte zwar 2007 mit einer solchen Operation erfolgreich die Stimmen der extremen Rechten abschöpfen können. Doch das ist Geschichte. Heute hat sich die RN eine solide Wählerbasis in allen sozialen Schichten und im ganzen Land aufgebaut. Für diejenigen, die eine Politik gegen Einwanderung und für Innere Sicherheit wollen, bedeutet „nützlich wählen“ nun RN zu wählen.
Parallel dazu vollendet die RN ihr Bestreben, dem Großkapital ihre Respektabilität und Glaubwürdigkeit zu beweisen. Sie überarbeitet weiterhin ihr Programm und streicht die Punkte, die für das Kapital abschreckend sind. Um ihre Regierungsfähigkeit zu beweisen, hat sie einen eigenen Haushaltsentwurf (als Gegenentwurf zu dem der Regierung) aufgestellt, in dem Steuerschlupflöcher und Entlastungen für Unternehmen einen großen Platz einnehmen und der selbstverständlich die Interessen der Konzerneigner und Eigentümer großer Vermögen wahrt. Als guter Schüler, der sich integrieren will, beteiligt sie die RN an allen Institutionen, zu der sie Zugang hat.
Die RN muss sich jedoch stark bemühen, um die erste Wahl der Bourgeoisie zu werden. Diese hat nämlich nicht die gleichen Vertrauensbeziehungen zur RN wie zu den Politikern der Rechten, der Macronie oder der Sozialistischen Partei, die vollständig in die Netzwerke der Unternehmer integriert sind. Zwischen letzteren und der Bourgeoisie bestehen langjährige familiäre, freundschaftliche und berufliche Verbindungen, was bei den Funktionären der RN nicht der Fall ist. Großunternehmer wie Bolloré, gut etablierte Journalisten und Kolumnisten bemühen sich, dieses Handicap zu verringern, indem sie die RN-Funktionäre in ihre Kreise einführen. Aber das geschieht nicht von heute auf morgen.
Die RN hat auch Schwierigkeiten, in allen Regionen eine lokale Verankerung aufzubauen. Angesichts der anrüchigen Kandidaten, die sie bei den Parlamentswahlen aufgestellt hat, hat sie noch nicht überall einen Pool an Kadern aufgebaut. Viele der RN-Abgeordneten, die nur für die Wahl in die jeweiligen Wahlkreise gezogen sind, sind ihren eigenen Wählern und den örtlichen Honoratioren noch immer unbekannt. Doch all diese Handicaps sind offensichtlich kein Hindernis auf dem Weg zur Macht.
Le Pen ist noch nicht an der Macht, aber ihr Programm ist es bereits
Die RN beeinflusst bereits das gesamte politische Leben. In Zeiten der politischen Instabilität ist Demagogie gegen Einwanderer und Muslime eine sichere Sache. Um auf dieser Welle mitzuschwimmen, hat Barnier das Innenministerium dem Senator Retailleau anvertraut.
Retailleau wäre auch in einer Le Pen-Bardella-Regierung nicht fehl am Platze. Dieser ehemalige enge Vertraute von Philippe de Villiers (einem konservativen Katholik und Liebhaber rassistischer Klischees, die dem kolonialen Frankreich würdig sind) ist gegen eine angebliche Islamisierung der Gesellschaft. Er will französische Staatsbürger bei staatlichen Leistungen bevorzugen, Migrationsquoten einführen, die Bedingungen für die Familienzusammenführung verschärfen und das Recht auf die französische Staatsbürgerschaft bei Geburt auf französischem Boden einschränken. Mit all dem betreibt er die Politik der Rassemblement National. Dies unterstreicht den Unsinn des sogenannten „republikanischen Bündnisses“, das angeblich die RN verhindert hätte.
Anfang Herbst machte Retailleau auf sich aufmerksam, als er erklärte: „Der Rechtsstaat ist weder unantastbar noch heilig“. Das war kein Versprecher, sondern ein Wink mit dem Zaunpfahl an den reaktionärsten Rand der Gesellschaft, zum Beispiel an das Milieu jener (aktiver oder pensionierter) Generäle, die 2021 in einem offenen Brief in der Zeitschrift Valeurs actuelles ihre Entschlossenheit bekundeten, die Ordnung wiederherzustellen und „die Werte der Nation“ zu verteidigen, notfalls mit Gewalt.
Laut einer von der Zeitung Le Parisien in Auftrag gegebenen Umfrage waren im September 51 Prozent der Bevölkerung der Meinung, dass „nur eine starke Regierung“ Ordnung und Sicherheit wiederherstellen könne. 23 Prozent der Bevölkerung glauben nicht mehr an das „System der Demokratie“. Die Parlamentswahlen haben diese Tendenzen zweifellos verstärkt, da viele Wähler der RN wie auch der NFP das bittere Gefühl haben, um den Sieg betrogen worden zu sein. Angesichts der Tatsache, dass die Regierung von einem Mann geführt wird, dessen Partei nur 5% der Stimmen bekommen hat, haben sie das Gefühl, dass die Demokratie und ihr Ergebnis nicht mehr respektiert würde. Hinzu kommen die zahlreichen Angriffe, die die Regierung in den letzten Jahren mit Hilfe von Notverordnungen über den Artikel 49.3 durchgesetzt hat, angefangen bei der Rentenreform.
Ein bürgerlicher Parlamentarismus, der nichts mehr mit Demokratie zu tun hat
Seit Jahren sprechen wir von der Krise der bürgerlichen Demokratie in Frankreich, da die traditionellen politischen Parteien ihre Glaubwürdigkeit verloren haben und es nicht mehr schaffen, Illusionen zu schüren und sich bei den Wahlen durchzusetzen. Doch das tatsächliche Ende der bürgerlichen Demokratie wurde bereits in dem Moment eingeläutet, als der Kapitalismus in seine imperialistische Phase eintrat.
Die aufstrebende Bourgeoisie hatte das Bedürfnis, Parlamente zu schaffen, in denen sie kollektiv über die Organisation ihres Staates, seine Rolle und die für ihre Geschäfte vorteilhaften Gesetze diskutieren konnte. Einige große Unternehmer, wie der Industrielle Eugène Schneider aus Le Creusot oder der Bankier Casimir Périer, legten Wert darauf, persönlich in diesen Parlamenten zu sitzen. Und jahrzehntelang sorgte das Zensuswahlrecht insbesondere in Großbritannien und Frankreich dafür, dass die Entscheidungen ausschließlich von den Mitgliedern der bürgerlichen Klasse getroffen wurden. Das Wahlrecht wurde schrittweise und mit tausendfacher Vorsicht ausgeweitet, bis es schließlich zum allgemeinen Wahlrecht wurde. Frankreich, das sich seit der Revolution von 1789 als Land der Menschenrechte bezeichnet, führte erst 1944 das allgemeine Wahlrecht ein; erst da erhielten nämlich die Frauen das Wahlrecht, 14 Jahre nach der Türkei unter Mustafa Kemal.
Die parlamentarische Demokratie ist bereits seit langem ausgehöhlt. Seit die kapitalistische Wirtschaft in ihre imperialistische Phase eintrat und große Finanz- und Industriekonzerne das Wirtschaftsleben beherrschten, zwang das Großkapital seine Entscheidungen allen weniger mächtigen Unternehmern auf, ohne das Parlament zu bemühen. Dies war möglich, da ihnen das Regierungs- und Staatspersonal zur Verfügung stand. Die Parlamente, in denen die Interessen der verschiedenen bürgerlichen Fraktionen aufeinander geprallt waren und deren Abstimmungen über wichtige Fragen der kapitalistischen Klasse entschieden hatten, verwandelten sich in Kammern, die nur noch den Vorschlägen der mächtigsten Unternehmensvorstände ihren demokratischen Stempel aufdrückten. Wer im Jahr 2024 davon spricht, dass die Demokratie nicht mehr respektiert würde, kommt also mehr als ein Jahrhundert zu spät.
Die stalinistisch gewordene Kommunistische Partei schürte den Glauben, dass das Parlament und die Stimme jedes Einzelnen wirklich zählen und das Schicksal der Arbeitenden verändern könnten. In dieser Hinsicht spielte Georges Marchais, der oft als radikaler und klassenkämpferischer als seine Nachfolger gilt, die schädlichste Rolle. Denn er schürte diese Illusionen zu einer Zeit, als die Kampfbereitschaft und der Organisationsgrad der Arbeiter/innen viele andere Perspektiven eröffneten.
Der „Rechtsstaat“ ist der bürgerliche Rechtsstaat, für den Freiheit nur für die Reichsten wirklich existiert und für den die Demokratie ein Deckmantel für die Diktatur der Bourgeoisie ist. Aber die Redefreiheit, die Koalitionsfreiheit, die Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit, die er gewährt, sind wertvoll für die Ausgebeuteten und für uns Revolutionäre. Diese wenigen Rechte gibt es nur in den reichsten Ländern, die durch koloniale und imperialistische Ausplünderung genug Reichtum angehäuft haben, um einen Teil der arbeitenden Bevölkerung in den Rang einer Arbeiteraristokratie zu erheben, die sich für die Verteidigung der bestehenden Gesellschaftsordnung einsetzt. Dies geschah nicht an einem Tag. Die Bourgeoisie in den reichen Ländern brauchte fast ein Jahrhundert, um die Ausgebeuteten erfolgreich in den Käfig ihrer Institutionen zu sperren. In Frankreich brauchte sie nicht weniger als fünf Republiken – gegründet auf vielen Massakern in der Arbeiterklasse – um zu einer Formel zu gelangen, die eine stabile Regierung und Institutionen gewährleistet.
Die Tatsache, dass diese Rechte in den Stein von öffentlichen Gebäuden gemeißelt sind, macht sie dennoch nicht ewig gültig. Sie spiegeln einen bestimmten Grad der Anhäufung von Reichtum und einen bestimmten Stand des Kräfteverhältnisses zwischen der Bourgeoisie und der Arbeiterklasse wider. Diese Rechte werden bereits eingeschränkt und können durch reaktionäre Entwicklungen in Frage gestellt werden.
Die gespaltene Linke
Während sich die RN ein Image als starke und respektable Partei aufbaut, erscheint die Linke gespalten. Nachdem sich PS, La France insoumise (Unbeugsames Frankreich), die Grünen und die KP bei den Europawahlen gegenseitig beschimpft hatten, gelang es ihn, sich wieder zusammenzuraufen und die Neue Volksfront zu gründen. Der Wunsch, ihre Sitze im Parlament zu retten, hat sie eine Zeit lang das Kriegsbeil begraben lassen. Auch die Macronisten, die für alle arbeiterfeindlichen Angriffe der letzten sieben Jahre verantwortlich sind, wurden von ihnen als Verbündete im Kampf gegen die RN dargestellt.
Diese Politik wurde von François Hollande (PS) bis Philippe Poutou (NPA-L'Anticapitaliste) unterstützt. Die NPA-L'Anticapitaliste spielte ihren Teil der Komödie: Sie rief dazu auf, bei den Wahlen den Faschismus zu verhindern und stellte ihren ehemaligen Präsidentschaftskandidaten unter dem Banner der NFP auf. Nachdem der Rubikon überschritten war, rief die NPA Besancenot-Poutou auch dazu auf, im Rahmen des republikanischen Bündnisses für die Kandidaten der Macronisten zu stimmen, darunter Borne und Darmanin im zweiten Wahlgang. Sie hat also ihre kleinen Kräfte mit der Regierungslinken und den Führungen der Gewerkschaftsverbünde (angefangen bei der CGT) vereint, um die Arbeiter/innen darüber zu täuschen, wer ihre wirklichen Feinde sind.
Die Flitterwochen all dieser Kräfte dauerten nur bis zu den Wahlen. Schon bei der Benennung eines potenziellen Premierministers der NFP traten Spaltungen auf. Seitdem wird La France insoumise (LFI) regelmäßig mit einem Bann belegt, weil sie angeblich das „republikanische Spektrum“ verlassen würde. Und zwischen Mélenchon, Ruffin und anderer ehemaliger Unterstützer kam es zum Bruch. All das hat die wenigen Hoffnungen auf eine mögliche neue Regierung eines Linksbündnisses endgültig zerstreut. Die Neue Volksfront wirkt schon tot, obwohl sie offiziell noch existiert – und zwar letztlich aus ähnlichen Gründen wie die, die für die Spaltungen zwischen den Konservativen und den Macronisten verantwortlich sind. Mélenchon und seine Partei erscheinen als Hindernisse für die Karrieristen in der NFP, die sich wie Glucksmann oder Roussel vorstellen könnten, einen Ministerposten zu ergattern, wenn nicht sogar mehr.
Diese Politiker suchten und fanden etwas, um Mélenchon zu disqualifizieren: seine Politik gegenüber Israel. Einige waren sich nicht zu schade, ihn des Antisemitismus zu bezichtigen, und beteiligten sich damit an der Hetzkampagne, die die LFI als Partei außerhalb des „republikanischen Spektrums“ darstellt. Damit stimmen sie in den reaktionären Chor ein und bestärken jene Arbeiter, die aus anti-muslimischen Vorurteilen heraus Mélenchon oder die LFI ablehnen.
Im Gegensatz zu Mélenchons Siegesgeschrei nach den Parlamentswahlen, trotz des Versuchs, eine Linksbündnis-Regierung unter Lucie Castets ins Leben zu rufen, und trotz der selbstzufriedenen Beifallsstürme bei jedem von der Linken gewonnenen Änderungsantrag können sich die Abgeordneten der NFP nicht gegen die Umsetzung von Barniers arbeiterfeindlicher Politik stellen.
Der politische Bluff war noch nie eine Waffe für die Arbeiter/innen. Der Reformismus, den diese politischen Kräfte propagieren, ist eine Plage, die jeder bewusste Arbeitende bekämpfen muss.
Die Angriffe von Barnier und der Bourgeoisie
Die Offensive der Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse wird sowohl von der Regierung als auch vom Großkapital geführt, von ersterer an der Haushaltsfront, von letzterem in den Betrieben. So schwach Barniers Regierungsgespann auch sein mag, es hat eine Mission: die Last der Schulden, die unaufhörlich auf 3,2 Billionen Euro angestiegen sind, auf die Arbeiterklasse abzuwälzen.
Auch wenn die Schulden dem Finanzkapital zugutekommen, da sie eine ständige und sichere Einnahmequelle darstellen, müssen sowohl der Staat als auch das Großkapital ein gewisses Gleichgewicht der öffentlichen Finanzen wiederherstellen. Es geht nicht darum, sich irgendeinem europäischen Diktat zu unterwerfen, sondern darum, die allgemeinen Interessen der Kapitalisten zu sichern. Ein bestimmter Defizit- und Schuldenstand droht mit einer Herabstufung durch die Ratingagenturen sanktioniert zu werden. Damit setzt sich der Staat der Gefahr aus, das Opfer von spekulativen Angriffen zu werden, die den Inhabern französischer Schuldverschreibungen große Verluste zufügen und die Zinssätze, zu denen der französische Staat Kredite aufnehmen kann, erhöhen würde.
Eine Schuldenkrise würde einen Teil der Spekulanten bereichern, doch sie würde den Staat die Luft abschnüren und damit auch seinen Subventionen, mit denen er die gesamte Bourgeoisie mästet. Das Gleichgewicht und die Machtverhältnisse innerhalb des Großkapitals selbst wären bedroht, ebenso wie der Staatsapparat und damit die Säule der bürgerlichen Ordnung.
Barnier ist also gezwungen das zu tun, was jede andere Regierung auch hätte tun müssen: unter Zeitdruck die öffentlichen Finanzen wieder in Ordnung zu bringen. Einer seiner entscheidenden Hebel hierzu ist die Erhöhung von Steuern und Abgaben, das schnellste und sicherste Mittel, um Geld in die Kassen zu spülen – wobei die Bourgeoisie um einen symbolischen Beitrag gebeten wird. Was Kürzungen bei den öffentlichen Ausgaben angeht, so setzt Barnier hier eher den Hobel als die Axt an. Diese Entscheidung rührt daher, dass er einerseits dringend sparen muss, andererseits allerdings vorsichtig an die Dinge herangehen muss, um seine irgendwie zusammengeschusterte Mehrheit nicht sofort wieder zu sprengen.
Der brutalste Angriff ist der, über den am wenigsten gesprochen wird. Es sind die Angriffe, die in den Betrieben vom Großkapital direkt geführt werden. Der sichtbarste Aspekt ist der Aderlass in der Automobilindustrie: Gießereien werden geschlossen, Zulieferern und Ausrüstern wird durch die Auftragsrückgänge die Luft abgeschnürt, die Ankündigungen von Entlassungen und Werksschließungen häufen sich. Die großen Autokonzerne selbst bereiten sich darauf vor, die Schließung historischer Fabriken anzukündigen. Beim Pariser Autosalon erklärte Tavares gelassen, dass 10% mehr chinesische Autos in Europa 1,5 Millionen weniger europäische Autos bedeuten würden und damit sieben Montagewerke von der Landkarte verschwinden würden.
In der Chemiebranche wurden in Frankreich seit Anfang 2024 über 1.000 Arbeitsplätze abgebaut, und in den nächsten drei Jahren sollen 15.000 Arbeitsplätze gefährdet sein. Die Industrie droht in kaum verhüllten Worten mit dem Schlimmsten, falls die Regierung die für die 50 wichtigsten Standorte der Branche vorgesehenen 5 Milliarden Euro Subventionen „zur Unterstützung der Energiewende“ nicht zahlen sollte. Man hört, dass die Luxus- und Tech-Branche ebenfalls ins Stocken geraten sei, und bereitet auch hier die Gemüter auf den Abbau von Arbeitsplätzen vor. In einer Zeit des harten Wettbewerbs, der schrumpfenden Märkte und eines veränderten Kräfteverhältnisses zwischen den Kapitalisten in den USA, Europa und ihren chinesischen Rivalen will die Bourgeoisie keinen Cent verlieren und arbeitet daran, die Ausbeutung überall zu verschärfen, indem sie das Arbeitstempo erhöht, die Arbeitsbedingungen verschlechtert oder in Ländern mit billigen Arbeitskräften investiert.
Eine auf sozialem wie politischen Gebiet abwesende Arbeiterklasse
Das Großkapital weiß, dass es auf einem Vulkan sitzt und dass seine Angriffe letztlich zu einer unkontrollierbaren sozialen Explosion führen können. Das Hauptproblem ist, dass die Arbeiterklasse auf diese Situation überhaupt nicht vorbereitet ist. Die meisten Arbeiter sind passiv, resigniert oder sogar fatalistisch. Einige Kämpfe werden mit dem Rücken zur Wand geführt und gehen nicht über lokale Kämpfe hinaus. Die letzten etwas größeren Auseinandersetzungen, gegen die Rente mit 64 und die Gelbwesten-Bewegung, werden als Beweise dafür angeführt, dass man nicht siegen könne. Aber wie schon in der Vergangenheit wird der Kampfgeist auch wieder aufleben.
Das Schlimmste ist, dass die Arbeiterklasse keine politische Führung hat, die in der Lage wäre, ihr bei den Vorbereitungen zu helfen. Im Übergangsprogramm von 1938 prangerte Trotzki „die historische Krise der Führung des Proletariats“ an. Er beschuldigt die Kommunistischen Parteien und die damalige Dritte Internationale, die Interessen der Arbeiterklasse zu verraten: „Das Haupthindernis auf dem Wege der Umwandlung der vorrevolutionären in eine revolutionäre Lage ist der opportunistische Charakter der proletarischen Führung, ihre kleinbürgerliche Feigheit gegenüber der großen Bourgeoisie und ihre verräterischen Verbindungen, die sie mit dieser selbst in deren Todeskampf noch aufrechterhält.“ Später fuhr er fort: „Die Orientierung der Massen ist einerseits durch die objektiven Bedingungen des verfallenden Kapitalismus, andererseits durch die Politik des Verrats der alten Arbeiterorganisationen bestimmt. Entscheidend von diesen beiden Faktoren ist selbstverständlich der erste: die Gesetze der Geschichte sind mächtiger als die bürokratischen Apparate. Wie verschieden auch die Methoden der Sozialverräter sein mögen – von der „Sozial“-Gesetzgebund Leons Blums ist zu den Justizfälschungen Stalins –, es wird ihnen niemals gelingen, den revolutionären Willen des Proletariats zu brechen.“
Heute sind wir nicht mehr an diesem Punkt. Die Kommunistische Partei, die vollständig in den bürgerlichen Staat integriert ist, tut nicht mehr so, als wäre sie die „Führung des Proletariats“. Sie bekennt sich nicht mehr zur Arbeiterklasse und zu ihrem Kampf für den Sturz der Bourgeoisie. Sie muss sich nicht mehr verrenken wie zwischen den 1930er und 1980er Jahren, als sie weiterhin Revolution und Sozialismus versprach, um die Kämpfe der Arbeitenden besser kanalisieren und ersticken zu können. Die LFI wie auch die Grünen haben ihrerseits keine andere Verbindung zur Arbeiterklasse als über die Wahlurne. Sie haben keine Aktivisten und keine Politik für die Arbeiter in den Betrieben. Sie alle haben dazu beigetragen, der RN den Weg zu ebnen.
Dass die wahlpolitisch einflussreichste Partei in der Arbeiterklasse die RN ist, zeugt vom politischen und moralischen Rückschritt unserer Klasse. Denn mit Ausnahme einiger Arbeiter-Vororte von Großstädten wie Paris oder Lyon hat die RN die Mehrheit in der Arbeiterschaft, auf dem Land, in vielen kleinen und mittleren Städten und in ehemaligen Industrieregionen wie Nord-Pas-de-Calais. Solange es keine kollektiven Kämpfe gibt, könnte dies lange so bleiben. Solange die Arbeiter nicht die Kraft finden, die Bourgeoisie und ihre politischen Handlanger anzugreifen, werden sie den Demagogen folgen, die vorschlagen, die Rechte anderer Arbeiter, Arbeitsloser und Ausländer zu beschneiden. Und sie werden anfällig sein für Ideen, die versprechen, sich angeblich zuerst um die eigenen Leute, das eigene Land zu kümmern – wie die Forderung, französische Staatsbürger bei staatlichen Leistungen zu bevorzugen.
Die institutionellen Linken, PCF, LFI, Grüne und Gewerkschaftsverbünde, verstärken ihrerseits diese reaktionären und nationalistischen Ideen, indem sie erklären, dass die nationale Souveränität gesichert, mit Freihandelsverträgen gebrochen und protektionistische Schranken gegen den internationalen Wettbewerb errichtet werden müssten – Ideen, die dem Klassenbewusstsein und der Überzeugung, dass die einzige Heimat der Arbeiter die internationale Arbeiterklasse ist, diametral entgegenstehen.
Diese Ideen können die Arbeiter vergiften und spalten, sie können sie von ihren wahren Feinden und den zu führenden Kämpfen ablenken. Die Realität des Klassenkampfes existiert allerdings dennoch. Dieser konfrontiert die Ausgebeuteten tagtäglich mit der Bourgeoisie. Während die Journalisten mit Begeisterung die politischen Scharmützel der Parteien verfolgen, leiden die Arbeiter unter der Ausbeutung und bieten ihr so gut sie können die Stirn, meist individuell, manchmal aber auch kollektiv. Sie kämpfen angesichts steigender Preise, der Schwierigkeiten bei der medizinischen Versorgung oder dafür, dass ihre Kinder eine normale Schulbildung erhalten.
Auf diese soziale Wirklichkeit müssen wir uns stützen, um Klassenbewusstsein zu wecken, zu schüren und zu verbreiten: das Bewusstsein, dass die Gesellschaft in Ausbeuter und Ausgebeutete geteilt ist; das Bewusstsein, dass die wahren Grenzen nicht zwischen Franzosen und Ausländern, Weißen und Schwarzen, Männern und Frauen verlaufen, sondern zwischen denen, die die Produktionsmittel besitzen, und denen, die sie nicht besitzen; das Bewusstsein, dass hinter menschenverachtenden Politikern, die zu allen schmutzigen Tricks bereit sind, die Kapitalistenklasse die wahre Macht in den Händen hält und es diese Klasse zu stürzen gilt. Wir müssen das Bewusstsein entwickeln, dass die Arbeiterklasse nicht nur eine unterdrückte Klasse und Opfer der Ausbeutung ist, sondern die einzige potenziell revolutionäre Kraft.
Die Notwendigkeit, eine revolutionäre Partei aufzubauen
Trotz der derzeit seltenen und schwachen Kämpfe der Arbeiterklasse ist ihre Stärke ungebrochen. Denn an ihrer grundlegenden Rolle in der Produktion und im Funktionieren der Gesellschaft hat sich nichts geändert. Die Bourgeoisie braucht die Arbeiter und die Ausbeutung, um ihr Kapital zu reproduzieren. Wie Marx und Engels im Manifest der Kommunistischen Partei schrieben, „produziert die Bourgeoisie vor allem ihre eigenen Totengräber“.
Die zunehmenden Krisen und die wachsende Ausweglosigkeit werden Reaktionen hervorrufen und das Bewusstsein verändern. Die dunkelsten Zeiten haben manchmal die größten Revolutionen hervorgebracht – Momente, in denen Millionen von Frauen und Männern zu Kämpfern werden, um ihr Schicksal zu ändern. In solchen Momenten kann die Arbeiterklasse das Antlitz der Welt verändern. Doch genau in diesen Momenten ist eine revolutionäre Partei unerlässlich. Ohne eine solche Partei werden künftige soziale Explosionen immense Gefahren für die Arbeiterinnen und Arbeiter bergen.
Die Existenz einer revolutionären Strömung ist entscheidend in einer revolutionären Zeit, in der die Arbeiter anfangen, sich eigenen Organe der Macht zu schaffen. Sie ist aber auch in einer Zeit des Rückgangs der Kämpfe wichtig, wenn die revolutionären Ideen von der bürgerlichen Ideologie und von reaktionären Ideen verdrängt zu werden drohen.
Was auch immer an Schwierigkeiten und Prüfungen auf uns zukommen mag und wie klein wir auch sein mögen, wir verkörpern eine revolutionäre Strömung. Es liegt an uns, sie am Leben zu erhalten und größer zu machen, selbst wenn sie gegen den Strom schwimmt. Selbst wenn die Arbeiter, die empört über die Zustände sind, schweigen und isoliert sind, liegt es an uns, den Weg zu ihnen zu finden. Es liegt an uns, den Arbeitenden Antworten zu geben und ihnen zu helfen, sich zu organisieren. Es liegt auch an uns, die Jugendlichen zu überzeugen, die keine Zukunft in der kapitalistischen Gesellschaft sehen. Wir müssen diejenigen für den revolutionären Kampf gewinnen, die sich über Rassismus oder die Unterdrückung der Frauen empören. Wir müssen diejenigen, die sich für die Umwelt einsetzen, davon überzeugen, dass der Planet nicht gerettet werden kann, ohne die kapitalistische Minderheit zu stürzen, die die Wirtschaft beherrscht und die das größte Hindernis für eine rationale Organisation der Wirtschaft darstellt, die Mensch und Natur respektiert.
Nur die Arbeiterklasse, die das Herz des kapitalistischen Systems ist und nur ihre Ketten zu verlieren hat, kann den Kampf bis zum vollständigen Umsturz dieses Systems, d. h. bis zur Enteignung der Kapitalisten vorantreiben. Nur die Arbeiterklasse ist in der Lage, eine Umgestaltung der Wirtschaft hin zu einer kollektiven, geplante Wirtschaftsweise in Angriff zu nehmen, die die Bedürfnisse aller Menschen befriedigt. Nur die Arbeiterklasse kann einen Ausweg aus der Krise und der Fäulnis des Kapitalismus in allen Bereichen bieten.
Diese Perspektive erfordert, dass Revolutionäre eine in der Arbeiterklasse und den Betrieben verankerte Partei aufbauen, die bewaffnet ist mit dem immensen politischen Kapital, das Marx, Lenin, Luxemburg und Trotzki hinterlassen haben und die sowohl in Zeiten revolutionärer Aufschwünge als auch in den schlimmsten Jahren der Reaktion Kurs hält.
16. Oktober 2024