Krise, Kriege und veränderte Kräfteverhältnisse

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Texte des Parteitages von Lutte Ouvrière im Dezember 2022
Dezember 2022

 

Der folgende Text wurde auf dem Parteitag von Lutte Ouvrière im Dezember 2022 verabschiedet und in der zweimonatlichen Zeitschrift Lutte de Classe (Nr.228, Dezember 2022/Januar 2023) veröffentlicht.

Weit über die Statistiken über den Rückgang der Produktion materieller Güter und des internationalen Handels hinaus, über die drohende Finanzkrise, über die Bilder von Tod und Zerstörung, die der Krieg in der Ukraine – auf dem privilegierten Kontinent Europa – anrichtet, haben immer größere Massen mit den Folgen der sich verschärfenden Krise des Kapitalismus zu kämpfen.

Selbst in den imperialistischen Ländern, deren Reichtum auf der Ausplünderung und Ausbeutung der armen Mehrheit der Welt beruht und trotz der Wohlfahrtsmaßnahmen dieser Staaten, mit denen sie versuchen, Wutausbrüche zu verhindern und zu entschärfen, werden die Volksmassen in eine Armut getrieben, die uns auf das Niveau des letzten imperialistischen Krieges zurückwerfen wird.

In den armen Ländern, in denen die Grundbedürfnisse der einfachen Bevölkerung selbst in normalen Zeiten nicht befriedigt werden, kommt es bereits zu Hungersnöten.

Die Rückkehr zu den schlimmsten Plagen des Mittelalters in einer Zeit, in der die Menschheit über die wissenschaftlichen, technischen und produktiven Mittel des 21. Jahrhunderts verfügt, ist eines der empörendsten Anzeichen für die Fäulnis einer anachronistischen Gesellschaftsordnung.

Indem sich die Krise des Kapitalismus verschärft, macht sie den Krieg zu einer ständigen Erscheinungsform des gesellschaftlichen Lebens.

Auf der Suche nach einer Bezeichnung für das angebrochene Zeitalter schwankt selbst eine für den bürgerlichen Konformismus so repräsentative Zeitung wie Les Échos zwischen Bezeichnungen wie „der neue Kalte Krieg“, „die Vorzeichen des Dritten Weltkriegs“ oder „das Zeitalter des Chaos“.

Die Produktion materieller Güter und die Bereitstellung von Dienstleistungen, die der gesamten Bevölkerung zugutekommen, sind überall rückläufig. Die Lebenshaltungskosten steigen, während die Arbeitslosigkeit zunimmt und der internationale Handel stagniert.

Die explodierenden Energiepreise ersticken die europäische Metallindustrie, die „innerhalb weniger Wochen die Hälfte ihrer Produktionskapazitäten verloren hat(Les Échos vom 22. August 2022). „Es könnte zehn bis zwanzig Jahre dauern, bis Deutschland seine frühere Wettbewerbsfähigkeit wiedererlangt(Les Échos vom 4. August). „Die große Angst vor einer Metallknappheit(Les Échos vom 26. September). „Energie: Preise explodieren, Fabriken stehen still(Le Monde vom 21. September).

Auf den Wirtschaftsseiten der Tageszeitungen wird die Liste der großen Unternehmen, die ihre Produktion herunterfahren oder dauerhaft einstellen, immer länger – in Deutschland, Großbritannien, Schweden... bis hin zur Slowakei.

In Frankreich spricht man eher von „Verlangsamung“ oder „vorübergehender Stilllegung“. Aber zugleich „verzeichnet London Rekordaktivitäten auf dem Devisenmarkt“ (Les Échos).

Die latente Finanzkrise, mit ihren krampfhaften Zuckungen, wird erneut bedrohlich, diesmal durch den Zinsanstieg beim Dollar. Diese Entscheidung der US-Regierung zieht eine Kapitalflucht aus armen oder halbentwickelten Ländern nach sich, die wiederum zum Verfall ihrer Währungen führt.

Zu den betroffenen Ländern gehören Kenia, Tunesien, Ägypten, Ghana, die Mongolei, aber auch Chile oder Ungarn. Was Ungarn betrifft, behauptet ein Analyst gar, dass sich dort die Situation wiederholen könnte, die vor einigen Jahren Argentinien heimgesucht hat. Der Verfall ihrer Währungen verschärft in diesen Ländern die hohen Lebenshaltungskosten und die Auslandsverschuldung.

Im Kapitalismus sind wirtschaftliche und politische Aspekte seit jeher eng miteinander verwoben, bedingen und widersprechen sich gegenseitig und sind ständig in Bewegung. Die Widersprüche des senilen Kapitalismus treten jedoch in Zeiten von Krise und erhöhter Gewalt zwischen den sozialen Klassen und Nationen am stärksten zutage. Im Zuge des verschärften Wettbewerbs zwischen kapitalistischen Konzernen und kapitalistischen Nationen kommt es zu extremen Spannungen in den internationalen Beziehungen. Internationale Spannungen und Kriege als militärischer Ausdruck dieser Spannungen sowie die Reaktionen, die mit ihnen einhergehen, wie Sanktionen, Boykotte usw., haben einen maßgeblichen Einfluss auf die Wirtschaftslage.

Der Krieg in der Ukraine zwischen Russland und den im militärisch-politischen Bündnis NATO zusammengeschlossenen imperialistischen Mächten sowie die damit einhergehenden Wirtschaftssanktionen sind ein mächtiger Indikator für wirtschaftliche Entwicklungen, die schon lange vor Ausbruch des Krieges eingesetzt haben. Sie geben zudem Aufschluss über die Kräfteverhältnisse sowie deren Veränderungen. Kriege sind Geburtshelfer der Geschichte, genau wie Revolutionen.

Krieg in der Ukraine und sich ändernde Kräfteverhältnisse

Der Krieg wird wohl am unmittelbarsten das Kräfteverhältnis zwischen Russland und der Koalition der westlichen imperialistischen Mächte verändern. Aber nicht nur. Eine Veränderung des Kräfteverhältnisses zugunsten Letzterer wird sich unweigerlich auf das Kräfteverhältnis zwischen den USA und China auswirken. Nicht umsonst zeigt China eine gewisse Solidarität mit Putins Russland, wobei die in den letzten Jahren geknüpften Beziehungen zwischen der chinesischen und der US-amerikanischen Wirtschaft allerdings ein starker Hemmschuh für diese Solidarität sind. Nicht umsonst zögern auch einige unterentwickelte Länder, den USA in Bezug auf die Sanktionen gegen Russland zu folgen. Sie umgehen sie oder weigern sich sogar ganz, sie anzuwenden. Darunter sind nicht zuletzt einige der Staaten, die über Rohstoffmonopole oder andere wirtschaftlichen oder demographischen Mittel verfügen, um eine begrenzte Autonomie gegenüber dem Druck des US-Imperialismus beanspruchen zu können.

Durch seine wirtschaftlichen Folgen verändert der Krieg auch das Kräfteverhältnis zwischen den imperialistischen Mächten, zugunsten des US-Imperialismus und zum Nachteil der wichtigsten Großmacht in Europa: Deutschland. Dies hat unausweichliche Folgen für die Europäische Union.

Das wachsende wirtschaftliche Gewicht Deutschlands, das während des Kalten Krieges den militärischen und diplomatischen Schutz der USA genoss, beruhte nach dem Zusammenbruch der UdSSR auf drei Säulen: dem russischen Gas, dem chinesischen Markt und dem „Hinterland“, das die osteuropäischen Länder darstellen.

Es ist das historische „Hinterland“ des deutschen Imperialismus, das nach dem Zerfall der UdSSR in unabhängige Staaten und dem Zusammenbruch der Volksdemokratien wiederhergestellt wurde. Dieser arme Teil Europas, der qualifizierte und gleichzeitig wesentlich billigere Arbeitskräfte als in Westeuropa bereitstellt, ermöglichte es dem deutschen Großkapital, einen Teil seiner Zulieferer und sogar einen Teil seiner Produktion in eine nahegelegene Region zu verlagern (also von vorneherein mit dem Vorteil, nicht den Unwägbarkeiten eines Transports über weite Entfernungen ausgesetzt zu sein). „Von 1991 bis 1999 sind die Ströme deutscher Direktinvestitionen in die Länder Osteuropas um das Dreiundzwanzigfache gestiegen“, berichtete Le Monde diplomatique (Februar 2018), und ergänzte: „Fabriken für Autozulieferer, Kunststoffverarbeitung und Elektronik schießen wie Pilze aus dem Boden, denn von Warschau bis Budapest betragen die Durchschnittslöhne nur ein Zehntel dessen, was 1990 in Berlin gezahlt wurde.“ Auf diese Weise sorgen die kapitalistischen Unternehmen der imperialistischen Mächte Europas dafür, dass der arme Teil Europas in einer untergeordneten Position, als Zulieferer, sprich in einer unterentwickelten Wirtschaft verharrt.

Mercedes, BMW und Audi tragen zwar den Stempel „Made in Germany“, doch viele ihrer Bauteile werden in Ungarn, der Slowakei oder Polen hergestellt (im letzteren Fall oft von ukrainischen Arbeitern, die noch schlechter bezahlt werden als polnische Arbeiter). Hinter den großen Reden über „Demokratie“ oder dem „Selbstbestimmungsrecht des ukrainischen Volkes“ liegen hier die wahren Gründe für das Interesse der imperialistischen Mächte Europas an der Ukraine.

Die Profite, die das deutsche, aber auch das französische Großkapital (insbesondere die französischen Autokonzerne PSA und Renault) aus den osteuropäischen Ländern ziehen, werden in der Ukraine durch den Krieg gestört und in Russland durch die Sanktionen, die gegen das Land verhängt wurden, weil es die jüngste Episode des Krieges ausgelöst hat.

Die USA hingegen können nun ihr Schiefergas vermarkten, das dank der steigenden Preise auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig geworden ist. Außerdem sind ihre kapitalistischen Unternehmen nun im Vorteil, weil die Preise, zu denen sie ihren Gas- bzw. Energiebedarf decken, deutlich weniger stark gestiegen sind als die ihrer europäischen Konkurrenten.

Angesichts des Gewichts Deutschlands in der Europäischen Union wird sich die Schwächung Deutschlands unweigerlich auf die Festigkeit, wenn nicht gar auf den nackten Fortbestand der Union auswirken. Es ist möglich, dass die USA, die einst den Gemeinsamen Markt ins Leben gerufen haben, haben, auch dahinterstecken, wenn er in seiner aktuellen Form, der Europäischen Union, zu Grabe getragen wird.

Bereits während der Pandemie haben die absurden Streitereien um Masken und Impfstoffdosen gezeigt, wie schwierig schon einfache Solidarität zwischen den Ländern der Europäischen Union ist.

Der Schrei der Entrüstung mehrerer EU-Staaten über das 100-Milliarden-Euro Hilfspaket, das der deutsche Staat „seinen“ Konzernen versprochen hat, ist in dieser Hinsicht bezeichnend. Für die Protestierenden handelt es sich um eine Wettbewerbsverzerrung, die den deutschen Kapitalisten ihren Kapitalisten gegenüber einen Vorteil verschafft. Die meisten Staaten, deren Finanzpolster weniger gut ausgestattet ist als das Deutschlands, fordern lautstark, dass diese Art der Subventionierung EU-weit zum Nutzen aller stattfindet. Trotz ihres pompösen Namens kann die „Union“ dem durch die Krise angeheizten Konkurrenzkampf zwischen den Staaten innerhalb Europas nicht standhalten.

 

Militärausgaben, Verschwendung und Rationierung

Die Militärausgaben, die vor allem in Deutschland in die Höhe geschnellt sind – nun, da sich die europäischen Länder hinter den USA in Stellung gebracht haben – stellen zusätzliche Abgaben zu Lasten der unerlässlichen kollektiven Ausgaben dar. Die Versorgungsschwierigkeiten, die sich aus den wirtschaftlichen Bocksprüngen insbesondere bei der Energieversorgung ergeben, führen für die einfache Bevölkerung zur Rationierung. Die deutschen Regierungsvertreter kündigen ihrer Bevölkerung bereits an, dass sie sich auf eine Gas-Rationierung einstellen müsse.

Wenn dem Otto-Normalverbraucher das Gas rationiert wird, berührt das die Bourgeoisie nicht übermäßig. Regierungen werden dafür bezahlt, solche Angelegenheiten zu managen und Rechtfertigungen für die Maßnahmen zu erfinden.

Aber wie sollen sie das für mächtige deutsche Industrie anstellen? Sie braucht dringend Gas, und zwar nicht nur als Energiequelle, sondern auch als Rohstoff. Die Wirtschaftszeitung Les Échos vom 14. bis 15. August stellt die Frage: „Allein in den Produktionsanlagen des Chemieriesen BASF werden 45.000 verschiedene Produkte hergestellt. Wie soll man da entscheiden?“ Die Zeitung lässt einen Topmanager der Chemiebranche zu Wort kommen, der daran erinnert, dass sein Wirtschaftszweig, der 15% der Gasreserven schluckt, „im Zentrum des deutschen Wirtschaftsmodells steht und für die Landwirtschaft, die Pharmaindustrie, das Baugewerbe und auch für die Automobilindustrie unverzichtbar ist“.

 

Halbleiter und Automobilindustrie: zwei Industriezweige in der Krise

Die Öffentlichkeit erfuhr im Laufe des Jahres, dass zwei taiwanesische Konzerne über ein Quasi-Monopol bei der Herstellung eines bestimmten Typs von Hochleistungs-Mikrochips verfügten, auf den mehrere Industriezweige, insbesondere die Automobilindustrie, nicht verzichten können. „Im Jahr 1990 entfielen 44% der weltweiten Chip-Produktion auf die USA und 37% auf Europa.“ „Heute werden 53% der weltweiten Halbleiterherstellung allein vom taiwanesischen Konzern TSMC sichergestellt“. „Mit UMC, Taiwans Nr.2, klettert der Marktanteil auf 60%“.

Für die US-amerikanischen und europäischen Kapitalisten, die im Besitz der Patente sind, gab es eine Zeit, wo es profitabler war, die Produktion in ein Land wie Taiwan auszulagern. Dort waren qualifizierte Arbeitskräfte wesentlich billiger als in den USA und zudem sorgte ein autoritäres Regime dafür, dass die Löhne niedrig blieben.

Die privaten Entscheidungen kapitalistischer Unternehmen in der Halbleiterindustrie haben eine kollektive Bewegung ausgelöst: Ihre nachgelagerten Partner und Kunden sind schließlich einem der Mechanismen ihrer Wirtschaft zum Opfer gefallen.

Kaum bekamen die Konzerne der Automobil- und Telefonindustrie, die Hersteller von Computern usw. die Blockade durch das Monopol für hochspezialisierte Halbleiter zu spüren, wurden ihre jeweiligen Staaten aktiv, um die Herstellung der betreffenden elektronischen Bauteile auf eigenem Territorium zu verwirklichen.

Ist die weltweite Elektronik dabei, vom Mangel in den Überfluss zu kippen?, fragte Le Monde am 20. September 2022.

Die Regierungen der Staaten, die dazu in der Lage waren, sind ihren Kapitalisten zu Hilfe geeilt.

Die Finanzspekulation mischte auch mit. Daraufsetzend, dass diese staatlichen Subventionen neue Fabriken und damit Überkapazitäten in der Fertigung hervorbringen werden, wetten Spekulanten bereits auf die Kehrtwende auf der Angebotsseite!

Le Monde hat ein Foto veröffentlicht, das dieses Problem viel besser veranschaulicht als viele Erklärungen: Biden, der am 9. September das versprochene 52-Milliarden-Dollar-Geschenk an die Branche ankündigt, im Hintergrund Baumaschinen, die ein Baugrundstück von Intel roden, um dort den Grundstein für eine zukünftige Fabrik in Ohio zu legen. Auch wenn die Fabrik sehr schnell aufgebaut wird, ist der Markt bereits gesättigt, wenn sie mit dem Verkauf beginnt!

Die Wirtschaftsgeschichte des kapitalistischen Frankreichs der letzten Jahrzehnte erinnert sich noch an den Bau von Hochöfen in der Region Fos-sur-Mer Anfang der 1970er Jahre, zu einer Zeit, als man mit einer erhöhten Nachfrage nach Stahl seitens der expandierenden Automobilindustrie rechnete. Aber die Nachfrage hatte bereits ihren Höhepunkt erreicht. Und so wurde der Bau einer riesigen Stahlfabrik am Meer mit vier Hochöfen mitten im Bau gestoppt. Es endete damit, dass eine vollkommen überdimensionierte und unvollständige Anlage mit zwei Hochöfen entstand.

Es ist also nicht nur so, dass die ausgebeuteten Klassen gezwungen werden, eine Investition zu finanzieren, die nur den Kapitalisten Vorteile bringt. Die staatliche Intervention beseitigt obendrein die Krisen nicht. Sie kann vielmehr dazu beitragen, sie zu verstärken. Das Beispiel der Hochöfen von Fos sowie das Beispiel der Halbleiter – ein Beispiel von weit größerem Ausmaß – verdeutlicht dies.

Die Vorherrschaft Taiwans in der Halbleiterindustrie ist Ausdruck der mächtigen Tendenz hin zu Zentralisierung und Konzentration, in der Marx und später Lenin (Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus) eines der grundlegenden Merkmale der Entwicklung des Kapitalismus zum Imperialismus erkannt hatten. Sie ist aber auch Ausdruck davon, wie notwendig eine weltweite Planung geworden ist.

Solange der Kapitalismus andauert, sind Globalisierung und Konzentration im Weltmaßstab so starke und unumstößliche Gesetze wie das Gesetz der Schwerkraft. Die Ursachen für diese grundlegende Entwicklung, deren Folgen sogar die Kapitalisten selbst und ihre politischen Sprecher zum Teil beklagen, liegen in den Gesetzen eines anarchischen Wirtschaftssystems.

Der Notwendigkeit weltweiter Planung, die der Kapitalismus aus allen seinen Poren schwitzt, stehen zwei grundlegende Eigenschaften des Kapitalismus entgegen: das Privateigentum an den Produktionsmitteln und die Zersplitterung in Nationalstaaten. Beide machen es unmöglich, das zu Ende zu führen, was die kapitalistische Entwicklung selbst erfordert: die weltweite Planung der Nutzung der wichtigsten Produktionsmittel.

Die Deregulierung des Energiemarktes, die von den Finanzhaien selbst gewollt war, wendet sich nun gegen die Kapitalisten und veranschaulicht denselben grundlegenden Widerspruch: Dass im Kapitalismus einerseits eine zunehmende Koordination zwingend erforderlich ist, diese aber nicht so weit vorangetrieben kann, wie es notwendig wäre.

Selbst die Großbourgeoisie fordert, dass der Staat eingreift und reguliert. Sie will behördlich verwaltete Preise für Energie. Sie ist damit einverstanden, dass der Staat die Energieverteilung organisiert und plant. Dies ist ihr immer noch lieber als ein Blackout. Dies ist ein Eingeständnis, dass die Gesetze des Marktes und des Wettbewerbs nicht mehr mit der Konzentration vereinbar sind. Es ist das Eingeständnis, dass das Gesetz des Profits absurd ist – wie auch die Grenzen absurd sind.

Trotzki sagte 1934, mitten in der Weltwirtschaftskrise: „Wäre es möglich, mit einem Schlage alle Staatsgrenzen wegzufegen, so könnten sich die Produktivkräfte, auch unter dem Kapitalismus, während einer gewissen Periode – allerdings um den Preis unzähliger Opfer – noch auf ein höheres Niveau erheben.“ Und er schloss: „Bei Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln können die Produktivkräfte, wie die Erfahrung der UdSSR bezeugt, sogar im Rahmen eines einzigen Staates zu größerer Entfaltung gelangen. Doch nur die Aufhebung sowohl des Privateigentums wie der Staatsschranken zwischen den Nationen vermag die Voraussetzungen für die neue Wirtschaftsordnung zu schaffen: die sozialistische Gesellschaft.“

Das ist heute, wo die Menschheit in vielen Bereichen globalen Problemen gegenübersteht, wie die globale Erwärmung oder der rationale Umgang mit dem Leben in den Ozeanen usw., noch viel offensichtlicher als 1934.

Und die Notwendigkeit besteht sogar zunehmend in jenen Bereichen, in denen der Kapitalismus bereits gezwungen war, zumindest einen karikaturalen Ersatz für eine solche Konzentration zu schaffen: mittels Verhandlungen zwischen Nationalstaaten, bei denen jeder versucht, seine eigenen Interessen durchzusetzen. So zum Beispiel im Energiebereich, wo es Jahrzehnte gedauert hat, ein System zu errichten, das die unterschiedlichen Interessen sowohl derjenigen berücksichtigt, die leichteren Zugang zu Gas und Öl haben, als auch derjenigen, die leichter an Kohle oder an Wasser- oder Windkraft kommen.

Finanzkrisen, Mangel und wirtschaftliche Stürme sind keine Unfälle oder Verirrungen des Kapitalismus, sondern seine unvermeidlichen Folgen.

Die Gesellschaft ist reif für den Sozialismus, reif für die Planung, reif für die Kollektivierung und die rationale Organisation der Produktionsmittel.

Die Kontroverse zwischen Verbrennungsmotor und Elektroautos, die den Umweltschützern so sehr am Herzen liegt, dient als Deckmantel für die großen Manöver der Automobil- und Ölkonzerne.

Die Zeitung Les Échos vom 9. August 2022 drückt in einem Artikel mit vielsagender Überschrift ihre Bewunderung für die Manager der Automobilindustrie aus: „Sieben Jahre nach dem ,Dieselgate‘ hat das Auto seine Revolution vollzogen“. Nach einer Aufzählung der Probleme, mit denen die Branche zu kämpfen hat – Einbruch der Verkaufszahlen, insbesondere bei Dieselfahrzeugen, Mangel an Bauteilen, Störungen in der Produktionskette usw. – heißt es in dem Artikel: „Am erstaunlichsten ist bei alledem, dass die Automobilhersteller diese Probleme in eine Goldgrube verwandelt haben. Sie haben die Gelegenheit genutzt, um von einem Geschäftsmodell zum anderen zu wechseln. Und zu ihrem Vorteil. Vom Wettlauf um Absatzmengen sind sie übergegangen zum reinen Profitabilitätsstreben. [...]

Das ist ein Paradigmenwechsel. Bisher kämpften die Industrieunternehmen um Marktanteile. Nun, da die operative Marge den Takt vorgibt, geben sie Fahrzeugen mit hoher Rentabilität den Vorzug.“

Das ist die eigentliche große Wende, die sich in der Automobilbranche abzeichnet: auf die Oberklasse zu setzen, sowohl beim Verbrennungsmotor als auch beim Elektroantrieb.

Und für Autos mit Verbrennungsmotoren wird es immer einen Markt geben, und sei es nur in unterentwickelten Ländern.

Autos mit Verbrennungsmotor sind seit über einem Jahrhundert die Antwort auf das Profitstreben und haben die Nachfrage nach Erdöl in die Höhe getrieben. Diese Sicherheit fehlt aus vielen Gründen bei den Elektroautos, unter anderem weil viele Gemeinschaftseinrichtungen für Langstreckenfahrten erforderlich sind (Aufladen der Batterien usw.).

Kapitalistische Konzerne können in dieser Frage auf die Staaten zählen. In der Vergangenheit, insbesondere in den USA, wurde die „Fordisierung“ der Produktion und die „Demokratisierung“ des Konsums nicht dadurch aufgehalten, dass es eine nur unzureichende Infrastruktur gab, angefangen bei befahrbaren Straßen und einem dichten Netz an Tankstellen.

Bei Elektroautos hinkt die Herstellung der Batterien ebenso hinterher wie das Netz der Schnellladestationen entlang der Straßen. Vor allem weiß niemand, ob die benötigten Rohstoffe (Lithium, Nickel, Kobalt, seltene Erden usw.) eine so unbegrenzte Entwicklung ermöglichen, wie sie Autos mit Verbrennungsmotor bisher gekannt haben. Darüber hinaus befinden sich die Seltenen Erden vor allem in China, in Russland…

Angesichts dieser fehlenden Sicherheiten haben die Kapitalisten der Automobilindustrie und die Ölkapitalisten ein gemeinsames Interesse, ähnlich vorzugehen wie die Ölkonzerne während der Krise Anfang der 1970er Jahre: ihre Monopolstellung zu nutzen, um weniger, dafür aber teurer zu verkaufen. Mit dem zusätzlichen Vorteil, der damit einhergeht, nämlich dass die Verbraucher bereits jetzt und im Voraus für die gegenwärtigen und zukünftigen Investitionen bezahlen müssen.

Noch bevor bekannt ist, welche Zukunft das Elektroauto haben wird, sind die Konzerne bereits zu Rivalen geworden in Bezug auf Länder, von denen man annehmen kann, dass sie über die für die Herstellung von Elektroautos notwendigen Metalle verfügen. „Die Automobilindustrie im Wettlauf um Rohstoffe“, lautete eine Schlagzeile von Les Échos vom 26. September 2022. Elon Musk hat sich bereits bestimmte Regionen von Indonesiens gesichert.

Der Krieg um Rohstoffe ist ein Aspekt des Imperialismus. Die Auseinandersetzungen zwischen den Großmächten – manchmal offen, manchmal verdeckter – um eine Neuaufteilung Afrikas sind ein Beispiel dafür.

Seit der ersten Berliner Konferenz (1878) hat der wissenschaftliche und technische Fortschritt einen Bedarf an Rohstoffen geschaffen, von denen man vor mehr als einem Jahrhundert noch nicht einmal ahnen konnte, wofür man sie eines Tages brauchen würde. Seitdem werden einige von diesen Rohstoffen bereits ausgebeutet. Andere noch nicht. Aber Konzerne können vorausschauend handeln und versuchen, sich mitteleuropäische Reserven zu sichern, und sei es nur, um einen Konkurrenten daran zu hindern, sie sich unter den Nagel zu reißen. Das ist z.B. in Kongo-Kinshasa der Fall – ein Land, das Geologen aufgrund seines Reichtums an seltenen Metallen als „geologisches Wunder“ bezeichnen. Manche, wie z. B. Kobalt, werden bereits unter abscheulichen Bedingungen abgebaut, für andere wurden Konzessionen vergeben.

Je länger der Krieg in der Ukraine andauert, desto deutlicher wird, dass das Interesse der USA an diesem Land nicht nur auf dem Wunsch beruht, das Land politisch und militärisch auf die Seite des Westens zu ziehen, sondern auch auf einträglichen wirtschaftlichen Interessen. So deckte der Journalist Marc Endeweld in seinem Buch „Verborgene Kriege. Die Hintergründe des russisch-ukrainischen Konflikts“ das jahrelange Interesse des spezialisierten Konzerns Westinghouse und des US-amerikanischen Baukonzerns Bechtel an den ukrainischen Atomkraftwerken auf.

 

Der grundlegende Kampf

Nur ein einziges Mal war die bürgerliche Ordnung bislang in ihrer Existenz bedroht: während der revolutionären Welle, die im Oktober 1917 mit dem Sieg des Proletariats in Russland begann, aber nicht damit endete.

Diese Welle wurde eingedämmt. Die internationale proletarische Revolution wurde besiegt. Nicht im offenen Krieg zwischen der imperialistischen Bourgeoisie und dem Proletariat, sondern auf eine andere, von Marx nicht vorhergesehene Weise: durch die bürokratische Entartung des vom russischen Proletariat geschaffenen Arbeiterstaates.

Diese erste große Schlacht, in der es um die Frage ging, welche Klasse auf internationaler Ebene die Macht ausüben würde, hat die Geschichte der darauffolgenden Jahre geprägt.

Auch zwischen den beiden Weltkriegen war der Klassenkampf weiterhin ausgesprochen heftig. Die imperialistische Bourgeoisie ging siegreich daraus hervor, um den Preis von Faschismus, autoritärer Regime und schließlich eines Weltkriegs.

Die tiefe Furcht der Bourgeoisie vor dem Proletariat, hervorgerufen durch die Bedrohung, die die revolutionäre Welle nach dem Ersten Weltkrieg darstellte, dauerte eine Generation lang an. Sie war ein entscheidender Grund für die Bombardierung von Dresden sowie von Hiroshima und Nagasaki.

Eine begründete Furcht! Denn auf den Zweiten Weltkrieg folgte wie auf den vorherigen eine neue revolutionäre Welle: die Revolutionen in den Kolonien. Aber diese Revolution, ebenso breit und ebenso entschlossen wie die erste Welle, stand nicht mehr unter der Führung des Proletariats, mit dem Ziel, die kapitalistische Ordnung zu stürzen. Sie wurde von nationalen Bourgeoisien angeführt, deren Ziel sich darauf beschränkte, ihr Existenzrecht gegen die direkte Aneignung durch den Imperialismus zu verteidigen.

Diese Führer, selbst die entschlossensten und kämpferischsten unter ihnen wie Mao, Ho Chi Minh, Castro und viele andere, hatten nicht die Zerstörung des Imperialismus durch die Beseitigung des Kapitalismus zum Ziel, sondern nur, diese Gesellschaftsordnung so zu gestalten, dass sie ihnen einen kleinen Platz an der Sonne lässt.

Die kapitalistische Ordnung konnte all diese Versuche absorbieren und in ihre Gesellschaftsordnung integrieren. Das imperialistische Großkapital blieb Herrscher über den Planeten. Dies ist jedoch nicht das „Ende der Geschichte“.

Der triumphierende Kapitalismus blieb Kapitalismus, und die Übel, die ihn von innen heraus untergraben, sind integraler Bestandteil des Systems.

Der Kapitalismus wird weiterhin von innen heraus zerfressen, auch ohne, dass das Proletariat – die neue Klasse, die in der Lage ist, eine höhere Gesellschaftsform in der menschlichen Entwicklung zu verkörpern – zu irgendeinem Zeitpunkt die Herrschaft der Bourgeoisie in Frage stellt.

Der Aufbau einer revolutionären kommunistischen Partei mit dem Ziel, die Macht der Bourgeoisie zu stürzen, ist keine Prognose, sondern ein Kampfziel.

 

Die Aktualität des Übergangsprogramms

Der 1938 verfasste Text ist hochaktuell. In vielerlei Hinsicht scheint es, als sei er erst kürzlich geschrieben worden, um die gegenwärtige Krise zu analysieren und daraus Anhaltspunkte für ein Kampfprogramm abzuleiten, mit dem das Proletariat seinen grundlegenden Kampf für den Sturz der bürgerlichen Macht wieder aufnehmen kann. Es ist unmöglich, heute für die proletarische Revolution zu kämpfen, ohne sich auf diesen Text zu stützen.

Obwohl er vor vierundachtzig Jahren in einem anderen Kontext als der heutigen internationalen Lage geschrieben wurde, beruht er auf einem sozusagen intimen Verständnis der Krise des Kapitalismus und der Intensivierung des Klassenkampfes, die diese Krise nach sich zieht oder nach sich ziehen kann.

Die meisten der auf „die objektiven Voraussetzungen der sozialistischen Revolution“ gestützten Forderungen sind nach wie vor hoch aktuell. So heißt es im Kapitel über die Sowjets: „Keine der Übergangsforderungen kann mit der Aufrechterhaltung des bürgerlichen Regimes vollständig verwirklicht werden.“ Sie alle setzen einen „wachsenden Druck der Massen“ voraus, der dazu führen kann, dass die Bewegung „in eine offen revolutionäre Phase“ eintritt.

Es handelt sich nicht um eine Aneinanderreihung von Rezepten, sondern um ein Kampfprogramm. Zu versuchen, die Mobilisierung der Arbeiterschaft und damit auch die Forderungen, die sich aus der veränderten Situation ergeben, zu erahnen, würde zu nichts führen. Wir müssen uns jedoch darüber im Klaren sein, dass sich in einer Zeit aufflammender Kämpfe der Arbeiterklasse die Situationen rasant ändern und ebenso schnell verlangen, angemessene Forderungen und Losungen aufzustellen. Den Überlegungen revolutionärer kommunistischer Aktivisten müssen die Analyse und das Verständnis der konkreten Etappen der Mobilisierung der Arbeitenden zugrunde liegen.

Machen wir uns z.B. klar, dass einige der Losungen des Übergangsprogramms heute für weitere Kreise verständlich sind als die bescheidene Zahl der revolutionären Aktivisten, und das noch bevor die Arbeiter sich überhaupt in Bewegung gesetzt haben.

Angesichts steigender Arbeitslosigkeit war die Losung der „Aufteilung der Arbeit unter allen ohne Lohnkürzung“ ein nützliches Propagandamittel und unter bestimmten Umständen sogar für die Agitation. Der jüngste Preisanstieg und das wachsende Bewusstsein für die hohen Lebenshaltungskosten lassen die Forderung der gleitenden Lohnskala verständlich werden. Der Ausbruch des Krieges auf europäischem Boden hat gerade die Kapitel des Übergangsprogramms über den „Krieg und den Kampf gegen den Imperialismus“ verständlich gemacht.

Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, wie schnell eine Welle von Streiks – und erst recht von anhaltenden Streiks – umgehend das Problem der Streikposten und damit der Arbeitermilizen aufwerfen wird. Wie sich auch sofort die Frage der Streikkomitees stellen wird, d. h. „dieser Fabrikausschüsse“, die „ein Element der Doppelherrschaft in der Fabrik“ sind.

Es hat keinen Sinn, darüber zu spekulieren, in welcher Reihenfolge all diese Forderungen vorgebracht werden können. Alle im Übergangsprogramm vorgebrachten Ziele sind in Ursache und Wirkung miteinander verwoben.

Man könnte versucht sein, das Kapitel „Die Lage der Sowjetunion und die Aufgaben der Übergangsepoche“ als überholt zu betrachten. Es ist überholt in Bezug auf seinen Gegenstand (die Sowjetunion gibt es nicht mehr), nicht aber in Bezug auf die dortige Argumentation und auch nicht in Bezug auf Trotzkis Standpunkt, dass die russische Revolution eine Vergangenheit ist, auf die das Proletariat stolz sein kann.

Trotz der Entwicklung der sowjetischen Bürokratie, sagen wir seit den 1930er Jahren, also ab der Zeit, in der sie ihre Macht für eine gewisse Zeit festigte, sind es immer noch Trotzkis Analysen, die es ermöglichen, die Realität in Russland so genau wie möglich zu erfassen.

 

10. Oktober 2022