Großbritannien: Wo steht die Streikwelle und die Wiederbelebung des Kampfgeistes?

Yazdır
Sommer 2023

(übersetzt aus Lutte de Classe von Juli-August 2023)

 

Ein Eisenbahnerstreik mit hoher Beteiligung am 21. Juni 2022 war der Beginn einer seit den 1970er Jahren beispiellosen Protest- und Forderungswelle in Großbritannien. In den Monaten darauf beteiligten sich Millionen Arbeitende in der Privatwirtschaft und dem Öffentlichen Dienst an den Streiks. Wo steht diese Wiederbelebung des Kampfgeistes ein Jahr später und welche Bilanz lässt sich daraus ziehen?

Eine Feststellung ist leider unumgänglich: Die Streiks der letzten zwölf Monate haben es den Arbeitenden nicht ermöglicht, bedeutende Zugeständnisse zu erzwingen. Wie unsere britischen Genossen von Workers' Fight schreiben: „Unternehmer und Regierung weigern sich noch immer, Lohnerhöhungen in Höhe der Inflation zu gewähren, was die Arbeitenden aller Branchen seit Monaten fordern. Gleichzeitig aber beharren die Gewerkschaftsführungen auf ihrer engstirnigen und berufsständischen Herangehensweise an die Konflikte in den Betrieben.[1] Wir gehen hier auf die wesentlichen Merkmale der derzeitigen Streikwelle, ihre Grenzen und Perspektiven ein.

 

Zwölf Monate wiederentdeckter Kampfgeist

Auch nach einem Jahr sind die Ursachen der Unzufriedenheit nicht verschwunden, ganz im Gegenteil. Im letzten Winter mussten viele Arbeitenden angesichts explodierender Energie-Rechnungen wählen, ob sie heizen oder essen wollten. Heute liegt die Inflation für Lebensmittel immer noch bei 19%. Die britische Bevölkerung, die durch die Krise von 2008 und die Pandemie in Mitleidenschaft gezogen wurde, zahlt auch den Preis für den Brexit, der 2016 beschlossen wurde und seit 2021 umgesetzt wird. Die britische Wirtschaft steht am Rande einer Rezession, und die Arbeitenden sind die Leidtragenden.

Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Arbeiterklasse, nachdem sie die Schläge lange Zeit hingenommen hatte, 2022 wieder den Weg des Kampfes einschlug. Die zentrale Forderung waren dabei Lohnerhöhungen, die mindestens die Inflation ausgleichen sollten. Die Streikwelle ging von der Bahn aus und erfasste bald auch die Post, bevor sie im Herbst auf die schottischen Schulen und Universitäten übergriff. Im Dezember schloss sich der öffentliche Dienst an, bald gefolgt von den Krankenhäusern. Trotz der arbeiterfeindlichen Propaganda der Medien ebbte die Welle 2023 nicht ab: Im Februar traten auch die Krankenhausärzte und die englischen und walisischen Lehrer in den Kampf.

Die Arbeiter stimmten oft zu 90 Prozent für den Streik und überwanden damit die zahllosen rechtlichen Hürden, die unter Thatcher[2] errichtet worden waren. Neben der Lohnfrage wollten die Arbeitenden sich vielfach auch gegen schlechtere Arbeitsbedingungen, Flexibilisierung und Stellenabbau wehren. An manchen Tagen (1. Oktober 2022, 1. Februar und 15. März 2023) streikten mehr als eine halbe Million Arbeitende; in einigen Großstädten demonstrierten sie gemeinsam. Im November 2022 konnten Hafenarbeiter in Liverpool und Busfahrer in Hull durch einen mehrwöchigen Streik Lohnerhöhungen von über 14 % durchsetzen. Streiks, die über zwei oder drei Tage hinausgingen, waren jedoch die Ausnahme. Nirgendwo streikten die Arbeitenden über die von den Gewerkschaften festgelegten einzelnen Streiktagen hinaus weiter.

 

Gegenwehr unter der Kontrolle der Gewerkschaftsbürokratie

Im Juli 2022 erklärte Mick Lynch, der Eisenbahner und Sekretär der Gewerkschaft RMT[3], auf der großen jährlichen Gala der Bergarbeiter in Durham: „Die Arbeiterklasse ist wieder da.“ In einer Zeit, in der Unternehmer und Regierung in die Offensive gehen, um die Arbeiter für die Krise ihres Systems bezahlen zu lassen, wurde vielen Arbeitern bei diesem Satz warm ums Herz. Die Tatsache, dass es endlich wieder Kämpfe gab, belebte sie und machte ihnen Mut. Aber ein Blick auf den Stand der Bewegung in drei Branchen mit der größten Streikbeteiligung zeigt die engen Grenzen auf, innerhalb derer die Gewerkschaftsbürokraten, selbst wenn sie wie Lynch radikal klingen, diese Rückkehr der Arbeiterklasse belassen wollen.

Im britischen Gesundheitssystem, dem NHS[4], gab es zahlreiche, aber verstreute Streiks. Die kämpferischen und beliebten Krankenhausärzte haben mehrmals zwei bis drei Tage am Stück gestreikt, erst kürzlich vom 14. bis 17. Juni. Ihre Gewerkschaft rief jedoch zu Aktionen auf, die von den anderen vierzehn Gewerkschaften des NHS getrennt waren. Auch bei den Pflegekräften führten populäre Streiks dazu, dass die Regierung Verhandlungen aufnahm. Allerdings bot sie nur eine Lohnerhöhung von 5 % an, was einer Reallohnsenkung entspricht. Die Gewerkschaften RCN[5] und Unite[6] lehnten dies ab, aber Unison[7] und GMB[8] nahmen das Angebot an, was zu einer Spaltung zwischen den Gewerkschaftsmitgliedern und damit auch zwischen den Arbeitenden führte. Die Sekretärin der RCN Pat Cullen schwört, dass der Kampf „bis Weihnachten“ weitergehen wird, hat aber noch keine neuen Streiktermine bekannt gegeben.

Bei Royal Mail (RM)[9] streikten die Postboten im Jahr 2022 an 18 Tagen. Aber Dave Ward, der Vorsitzende der Communication Workers' Union (CWU) – der größten Gewerkschaft der Post- und Telekommunikationsbeschäftigten – ist bereit, ihre Kämpfe für ein Linsengericht zu verscherbeln, wie er es bereits 2007 nach einer Reihe erfolgreicher Streiks getan hatte. Während die Mitglieder im Februar mit 96 % für den Streik stimmten (laut Gesetz muss diese Abstimmung alle sechs Monate erneuert werden), empfahl Ward ihnen, das Angebot der RM-Führung anzunehmen, obwohl es weit unter ihren Forderungen liegt: 6 % Lohnerhöhung für das Geschäftsjahr 2023-2024, 2 % für 2024-2025 sowie ein Bonus von 500 Pfund. Das Angebot beinhaltete außerdem längere Arbeitszeiten. Und darüber hinaus hat RM gerade 10.000 Stellen gestrichen und weigert sich, 200 Beschäftigte wieder einzustellen, die wegen eines Streiks entlassen worden waren. Dieses unwürdige Angebot wurde mit spontanen Arbeitsniederlegungen (sogenannten wilden Streiks) beantwortet. Und Ward, der nun an einen für ihn glücklichen Ausgang der Abstimmung über diesen Kuhhandel zweifelte, schlug schließlich einen neuen, kaum verbesserten Entwurf vor. In der Zwischenzeit wurden die Streiks ausgesetzt.

Auch bei den Eisenbahnen hat der Erfolg der Streiks dazu geführt, dass die Gewerkschaftsführungen wieder an den Verhandlungstisch gebeten wurden. Im Jahr 2023 schlug Mick Lynch den bei Network Rail (NR)[10] beschäftigten RMT-Mitgliedern vor, für einen Tarifvertrag zu stimmen, der eine Lohnerhöhung von 9 % vorsah, die unter der Inflationsrate lag. Er erhielt eine Mehrheit, allerdings zu einem hohen Preis: nicht nur die Beschneidung der realen Kaufkraft, sondern auch die Spaltung der Eisenbahner untereinander, da die 40.000 Beschäftigten von NR nicht mehr zum Streik aufgerufen werden. Dieser berufsständische oder sogar mikro- berufsständische Ansatz schwächt genau wie im Gesundheitswesen die Kampfkraft der Arbeitenden. Ein aktuelles Beispiel: Die RMT rief am 2. Juni bei 14 von 25 Eisenbahnunternehmen zum Streik auf, während die Gewerkschaft der Lokführer, ASLEF, am 3. Juni zum Streik aufrief. Beide erklärten, dass sie auf diese Weise für mehr sichtbarer Störungen sorgen würden. Aber es wurde eine weitere Gelegenheit verpasst, in der die Arbeitenden das „alle zusammen“ direkt hätten erleben können. Während wir dies schreiben, befinden sich die Führer von RMT und ASLEF in Gesprächen, aber man wagt kaum zu glauben, dass daraus endlich gemeinsame Aktionen hervorgehen werden.

 

Die Reaktionen der Regierung und der Opposition auf die Streiks

Die konservative Regierung von Rishi Sunak stellte sich zunächst taub und verweigerte jegliche Lohnerhöhung. Irgendwann schlug sie dann in den Bereichen, in denen sie über die Löhne entscheiden kann, eine Lohnerhöhung vor, die jedoch bei weitem nicht ausreichte und einer realen Lohnsenkung gleichkommt. Er hat die Streikenden verunglimpft und versucht, sie mit der Vogelscheuche eines gesetzlichen Notdienst[11] einzuschüchtern. Wie in Frankreich und anderen Ländern üblich, versuchte Sunak, die Aufmerksamkeit vom sozialen Geschehen abzulenken, indem er ein angebliches Migrationschaos heraufbeschwor. Arbeiter mit Migrationshintergrund und ihre Familien zu Sündenböcken zu machen, während britische Unternehmen sich gleichzeitig lautstark über einen Mangel an Arbeitskräften beklagen, erscheint surreal. Aber das ist alles, was Sunak als Ablenkungsmanöver einfällt.

Nach den repräsentativen Umfragen für die Kommunalwahlen am 5. Mai zu urteilen, haben Sunaks Manöver nicht gefruchtet: Seine Regierung bleibt äußerst unpopulär und in der Arbeiterklasse nimmt man dem Millionär kein bisschen seine Versprechen ab, „die Inflation zu halbieren“ oder „die Wartelisten beim NHS abzubauen“. Wenn morgen jedoch Parlamentswahlen wären, würde die Labour-Opposition – trotz der Ablehnung Sunaks und seiner konservativen Tory-Partei – Schwierigkeiten haben, ohne ein Bündnis mit den Grünen und den Liberaldemokraten die Wahlen zu gewinnen. Der Vorsitzende der Labour Party, Keir Starmer, unterscheidet sich kaum von Sunak. Er behauptet lediglich, der bessere Manager des Kapitalismus und der bessere Jäger illegaler Einwanderer zu sein. Auch hat er Labour-Abgeordneten, die es gewagt hatten, sich bei den Streikenden zu zeigen. Keine guten Voraussetzungen, um in der Stammwählerschaft Begeisterung zu wecken.

 

Welche Perspektiven haben die Arbeitenden?

Heute wird weiterhin in Museen und Bibliotheken, im Innenministerium usw. gestreikt. Die jüngsten Abstimmungen über die Fortführung der Streiks in verschiedenen Branchen (insbesondere bei den Eisenbahnern RMT und ASLEF) zeigen, dass die Wut nicht verschwunden ist, ebenso wenig wie die Entschlossenheit zurückzuschlagen. Das Gefühl, dass punktuelle und voneinander isolierte Streiks nicht zum Sieg führen werden, ist weit verbreitet: Viele Arbeitenden äußern ihren Wunsch nach einem Generalstreik, in dem alle Ausgebeuteten zusammenkommen.

Der Trades Union Congress (TUC)[12], der angeblich eine gewisse Arbeitersolidarität verkörpern soll, vertritt diese Perspektive jedoch nicht. Er redet nur darüber. Doch er versucht nicht, die Gewerkschaften oder Verbände unter seinem Dach dazu zu bewegen, die Streiks zusammenzuführen. Während die Arbeitenden mit wachsenden Schwierigkeiten konfrontiert sind, verschanzen sich die Führungen der großen Gewerkschaftsapparate hinter dem Vorwand der Illegalität von Solidaritätsstreiks, um nicht zu einer breiten Gegenwehr aufzurufen. In Wirklichkeit haben diese Apparate weniger Angst vor dem Gesetz als vor ihrer Basis. Klar, natürlich haben sie auch Angst vor den juristischen Angriffen, die bei einer Ausweitung der Kämpfe auf sie niederprasseln könnte. Aber sie haben vor allem Angst vor Streiks, die – wenn sie sich ausbreiten und länger dauern – es den einfachen Arbeitern ermöglichen würden, ihre kollektive Stärke als Klasse zu erproben und sich der Bevormundung der Gewerkschaftsführungen zu entziehen.

In den kommenden Monaten wird es also entscheidend darauf ankommen, ob die Arbeitenden in der Lage sind, die engen Grenzen zu sprengen, die die Gewerkschaftsführungen ihrer Bewegung bislang erfolgreich auferlegt haben. Die derzeitige Streikwelle hat noch nicht die Kraft der Streikwelle der 1970 Jahre[13]. Aber die britischen Arbeitenden haben noch nicht das letzte Wort gesprochen. Inmitten der Krise häufen die Spitzen der Gesellschaft Milliarden an. Unanständig hohe Summen wurden für die Beerdigung von Elizabeth II. und die Krönung von Charles III. versenkt. Die Telekommunikationsriesen entließen Zehntausende Beschäftigte, während sie gleichzeitig hohe Gewinne vermeldeten. Die Könige der Supermarktketten und der Lebensmittelindustrie, die Banker und die Energiekonzerne fressen sich satt. All das ist bekannt und macht die Explosion der Lebenshaltungskosten für diejenigen, die nur ihre Arbeit haben, um zu leben oder vielmehr zu überleben, umso unerträglicher.

Angesichts einer herrschenden Klasse, die fest entschlossen ist, der Arbeiterklasse die Rechnung für ihre Krise zu präsentieren, bleibt als einziger Ausweg eine Gesamtbewegung. Sie kann nur Gestalt annehmen, wenn die Arbeiterinnen und Arbeiter die Gewerkschaftsbürokraten umgehen und über Vollversammlungen der Streikenden und Streikkomitees ihre Bewegungen selber in die Hand nehmen, damit sie zu der massiven sozialen Explosion werden können, die die Bourgeoisie und ihre Komplizen so sehr fürchten.

 

18. Juni 2023

 




[1] Editorial in Class Struggle Nr. 118, Frühjahr 2023

[2] Die Labour-Partei, die zwischen 1997 und 2010 wieder an die Macht kam, hat dieses Arsenal nie zurückgenommen.

[3] National Union of Rail, Maritime and Transport Workers (Gewerkschaft der Transportarbeiter)

[4] Der vor 75 Jahren gegründete National Health Service (NHS) befindet sich in einer Krise: Es fehlen 150.000 Pflegekräfte, 7 Millionen Patienten warten auf einen Termin oder eine Behandlung.

[5] Das Royal College of Nursing (RCN), ein 1916 gegründeter Berufsverband, ist seit 1977 eine Gewerkschaft für Krankenpflege.

[6] Die Gewerkschaft Unite the Union (allgemein bekannt als Unite), die 2007 aus dem Zusammenschluss der beiden Gewerkschaften Amicus und TGWU hervorging, hat 1,2 Millionen Mitglieder in Großbritannien und Irland. Sie ist der britischen und der irischen Labour-Partei angeschlossen.

[7] Unison ist die größte britische Gewerkschaft (1,2 Millionen Mitglieder), die 1993 aus dem Zusammenschluss von drei Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes hervorging und ebenfalls der Labour Party angehört.

[8]Die General, Municipal, Boilermakers' and Allied Trade-Union (GMB), die 1982 aus einem Zusammenschluss von Gewerkschaften hervorgegangen ist, hat eine halbe Million Mitglieder aus allen Industrie- und Dienstleistungssektoren. Sie ist der Labour Party angeschlossen.

[9] Royal Mail: Unternehmen, das Briefe sortiert und zustellt und seit 2015 zu 100 % privatisiert ist.

[10] Network Rail: halbstaatliche Einrichtung, die für die Instandhaltung der Eisenbahninfrastruktur zuständig ist.

[11] Gesetzliche Notdienste und strenge Regeln und Einschränkungen des Streikrechts gibt es bereits. Es handelt sich also in erster Linie um politische Posen.

[12] Eine 1868 gegründete Organisation, die alle Gewerkschaftsorganisationen in einer Dachorganisation zusammenfasst.

[13] Im Jahr 1974 hatten sie den konservativen Premierminister zum Rücktritt gezwungen. Während des „Winters der Unzufriedenheit“ 1978/79 wurden in der Privatwirtschaft zum Teil erhebliche Lohnerhöhungen durchgesetzt.