Haiti: Redebeitrag der OTR (aus Lutte de Classe - Klassenkampf - von Dezember 2017)

Yazdır
Redebeitrag der OTR [Organisation der Revolutionären Arbeiter] von Haiti beim LO-Parteitag 2017
Dezember 2017

Redebeitrag der Organisation des travailleurs révolutionnaires (OTR) [Organisation der Revolutionären Arbeiter] von Haiti beim LO-Parteitag 2017

Der derzeitige Präsident Jovenel Moïse, der aus derselben Partei stammt wie sein Vorgänger Martelly, hat das Kunststück geschafft, bei den Wahlen im Januar 2017 mit einer halben Million Stimmen Präsident zu werden - bei 6 Millionen Wählern. Möglich gemacht haben dies die massive finanzielle Unterstützung, die ihm die Reichen des Landes gewährt haben, und nicht zuletzt Betrügereien auf höchster Ebene. Über 80% der Wahlberechtigten sind gar nicht erst zur Wahl gegangen. Dies gibt einen kleinen Eindruck von seiner Unbeliebtheit.

Bereits in den ersten Monaten seiner Präsidentschaft gab es zahlreiche Skandale in seiner Regierung: Korruptionsskandale, Unterschlagungen öffentlicher Gelder... Dies ist keine Überraschung, wenn man seine politische Zugehörigkeit kennt und die Clique der Politiker, die ihn umgeben. Seine Gleichgültigkeit und seine kriecherische Haltung gegenüber den hohen, korrupten Regierungsbeamten steht im Kontrast zu der Rede, die er bei seiner Amtseinführung gehalten hat und zu seinen zahlreichen öffentlichen Auftritten, bei denen er versprach, der Kampf gegen die Korruption würde für ihn an erster Stelle stehen.

Stattdessen hat er einen erbitterten Kampf gegen die armen Bevölkerungsschichten geführt. Insbesondere hat er wenige Monate nach seinem Amtsantritt diese Preise für Erdölprodukte erhöht. Brennstoff ist ein strategisches Produkt. In der Folge haben sich daher die Preise des öffentlichen Nahverkehrs automatisch verdoppelt, ja in manchen Fällen sogar verdreifacht. Und in einer Kettenreaktion sind ebenfalls die Lebensmittelpreise gestiegen. Die Lebenshaltungskosten steigen, was die Lebensbedingungen der armen Bevölkerungsschichten noch weiter verschlimmert. Die Ausgaben steigen und die Löhne sinken. Zahlreiche Arbeiter sind nun gezwungen, zu Fuß zur Arbeit zu gehen, andere kaufen sich tagsüber nichts zu essen. Familien gestehen, dass sie nur noch einmal pro Woche etwas zu Essen kochen können. Die Mehrheit der Arbeitenden des Industriegebiets müssen Kredite zu Wucherzinsen aufnehmen, um durchzuhalten und verschulden sich dadurch bis zum Hals. Die ernüchtern und hoffnungslosen jungen Leute fliehen zu tausenden aus dem Land. Sie gehen vor allem nach Chile, weil man hier kein Visum braucht.

Überall erheben sich Stimmen gegen die Politik des Präsidenten, der der armen Bevölkerung den Hals umdreht, während er den Reichsten Geschenke macht.

Proteste der arbeitenden Klasse

Aber der Staatschef schenkt ihnen keine Beachtung. Im Gegenteil, er hat entschieden, noch einen drauf zu setzen und im Rahmen des neuen Staatshaushaltes die Gebühren für mehrere Dienstleistungen zu erhöhen, die sehr viel von der armen Bevölkerung genutzt werden. Der Präsident wollte den Mindestlohn nicht anpassen, aber er passt die Gebühren an und erfindet noch neue Steuern dazu. Das hat die Stimmung unter der armen Bevölkerung angeheizt.

Die Führer der politischen Opposition haben versucht, diese Wut auszunutzen und haben dazu aufgerufen, die Straße zu erobern. Zehntausende Bewohner der Armenviertel sind ihrem Aufruf gefolgt, um ihrer Wut Luft zu machen. Und bei jeder Demonstration steigt die Anzahl der Teilnehmer. Noch nie stand der Staatshauhalt so sehr im Zentrum der Diskussionen der armen Bevölkerung. In den Betrieben, in den Arbeitervierteln, in den Bussen diskutieren sie über diesen verbrecherischen Staatshaushalt, über den Präsidenten und die Abgeordneten, die die arbeitenden Klassen mit ihren Steuern noch mehr ausbluten lassen wollen. Die Demonstrationen haben die Regierung gezwungen, zurückzuweichen, keine neuen Steuern einzuführen und auch die meisten Gebührenerhöhungen zurückzunehmen.

Die Regierung ist durch die Protestwelle geschwächt worden. Und der Protest ist mit Sicherheit noch lange nicht vorbei. Erst letzte Woche sind erneut tausende Jugendliche auf die Straße geströmt, um den Rücktritt des Präsidenten zu fordern.

Auch die Arbeitenden in den Betrieben haben es der Regierung mit gleicher Münze heimgezahlt. Ja, sie haben sogar als erste losgeschlagen und damit den Ton angegeben.

Einige Monate nach dem Regierungsantritt kam es zu einer bedeutenden Mobilisierung der Arbeiter, die ungefähr drei Monate andauerte, von Mai bis Juli 2017. Mit ihr verschwanden auch noch die letzten wenigen Illusionen in Bezug auf die Regierung, die es in der Arbeiterklasse noch gegeben hatte. Präsident Moïse, Geisel der Unternehmer und selbst Kleinunternehmer, wollte den Mindestlohn nicht mal um einen Cent erhöhen - bis die wachsenden Demonstrationen der Arbeiter ihn dazu gezwungen haben.

Zwischen 15.000 und 20.000 Arbeiter zogen bei jeder Demonstration vor den Nationalpalast, das Parlament oder den Sitz des Arbeitsministeriums und forderten die Erhöhung des Mindestlohns.

Diese soziale Bewegung stand ein Viertel Jahr lang im Mittelpunkt der Öffentlichkeit. Die bürgerliche Presse war gezwungen, über sie zu berichten. Und einige Journalisten haben sich auf die Seite der Arbeiter gestellt und öffentlich die Gewalt der Polizei gegen die Demonstranten verurteilt, die viel arbeiten und wenig verdienen.

Anfang des Jahres 2017 hatte die OTR im Industriegebiet und in der Presse eine Kampagne für die Erhöhung des Mindestlohns und für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen begonnen. Diese Agitationskampagne sollte bei der Demonstration am 1. Mai ihren Höhepunkt finden. Die Demonstration mit ihren rund 300 Teilnehmern hat in der Presse und vor allem im Industriegebiet Widerhall gefunden, wo sie zu einem Gesprächsthema in den täglichen Diskussionen wurde. Als wir diese positiven Reaktionen auf die Demonstration gesehen haben, haben wir die Agitationskampagne mit Hilfe von Flugblättern fortgesetzt. Wir wurden herzlich von den Arbeitenden empfangen. Die Idee, die Mobilisierung weiterzuführen, hat sich in der Arbeiterklasse mehr und mehr durchgesetzt. Die Textilgewerkschaft fühlte sich genötigt, zu einer Demonstration für die Anhebung des Mindestlohns aufzurufen. Viele Arbeiter bereiteten sich darauf vor, dem Aufruf zu folgen, als dieselben Gewerkschafter plötzlich entschieden, ihren Aufruf zurückzuziehen und die Demonstration auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. Ihre Begründung: Sie würden mit der Regierung verhandeln. Die Arbeiter waren enttäuscht und wütend und beschimpften die Gewerkschafter als kleine Schwindler und Handlanger der Unternehmer.

Einige unserer Genossen aus den Betrieben haben uns geraten, in diesen Tagen nicht in das Industriegebiet zu gehen. Sie befürchteten, die auf die Gewerkschafter wütenden Arbeiter könnten auf uns losgehen, weil viele uns mit ihnen verwechseln. Wir haben uns entschieden, dennoch mit Flugblättern hinzugehen, die die Arbeiter dazu aufriefen, sich auf niemand anderen als sich selber zu verlassen und zu demonstrieren - ob mit oder ohne die Gewerkschafter. Am Anfang waren die Diskussionen mit den Arbeitern nicht einfach, aber am Ende wurde den Genossen applaudiert und die Flugblätter gingen weg wie warme Semmeln. Das war ein kleiner Sieg unserer Ideen und unserer Taktik.

Die Gewerkschafter haben sich schnell anders besonnen und hastig zu einer neuen Demonstration in der darauffolgenden aufgerufen. Mehrere tausend Arbeitende haben sich in den Betrieben versammelt, bevor sie auf die Straße gegangen sind, um eine Erhöhung des Mindestlohns zu fordern. Fast ein Vierteljahr lang lief es bei jedem Aufruf so ab. Dabei kam es zu Demonstrationen und Streiks. Klar, dass die Bosse wütend waren. Sie haben auf zwei Ebenen reagiert. In der Presse haben sie die ihre netten, respektvollen und freundlichen Arbeiter gelobt und haben scharf die gewalttätigen, radikalen Gewerkschafter und anderen Unruhestifter angegriffen, die angeblich kommen würden, um in ihren Unternehmen Chaos zu verbreiten. Gleichzeitig haben sie in den Betrieben sehr brutal reagiert. Sie riefen die Polizei gegen die Arbeiter und in manchen Betrieben forderten sie die Polizei sogar dazu auf, die Arbeiter in der Fabrik zu verprügeln. Außerdem schmissen sie jeden raus, der als Anführer denunziert wurde. Es gab also eine Entlassungswelle, aber die meisten der entlassenen Arbeiter konnten schnell in anderen Fabriken des Industriegebiets Arbeit finden, da die Unternehmer eben auch erfahrene Arbeitskräfte brauchen, um die Bestellungen der Kunden termingerecht ausführen zu können.

Ein Teil der Arbeitenden hat sich von den Repressalien der Unternehmer entmutigen lassen. Aber die Mehrheit hat ihren Kampfgeist das ganze Jahr über nicht verloren und immer wieder die Arbeit niedergelegt, um gegen diese oder jene Ungerechtigkeit zu protestieren. Vor kurzem haben Arbeitende in einem Unternehmen eine Woche lang gestreikt, um zu erreichen, dass eine Abgabe, die die Unternehmer eingeführt und ihnen vom Lohn abgezogen hatten, wieder abgeschafft wird. Die Arbeiter mehrerer Dutzend anderer Fabriken haben sich ihnen angeschlossen und auch gewonnen. Das war eine fast gleichzeitige Reaktion von tausenden Arbeitern aus verschiedenen Fabriken, die sich wie ein Mann erhoben haben, um gegen diese Abgabe zu protestieren, die die Unternehmensleitungen ihnen vom Lohn abziehen. Nach und nach gewinnen die Arbeiter an Bewusstsein. Sie erheben wieder ihren Kopf und haben verstanden, dass sie nur durch Kampf die Erfüllung ihrer Forderungen durchsetzen können. Das ist ein qualitativer Schritt, der nicht unbemerkt geblieben ist. [...]