Frankreich: die Gründe des Generalstreiks der EisenbahnerInnen und des Misstrauens gegenüber den Gewerkschaftsleitungen (aus Lutte Ouvrière - Arbeiterkampf - Dezember 1986)

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Frankreich: die Gründe des Generalstreiks der EisenbahnerInnen und des Misstrauens gegenüber den Gewerkschaftsleitungen
Dezember 1986

Jeder hat es gesagt, wenn der Streik einmal angefangen hatte: Die Unzufriendenheit war stark unter den Eisenbahnern und die Kampfgründe wuchsen immer noch während der letzten Zeit. Seit September hatte die Betriebsleitung der SNCF (französischen Staatsbahnen) angekündigt, dass Arbeitsplätze nochmals abgebaut werden sollten (offiziell 8.200 für das Jahr 1987), was verschlechterte Arbeitsbedingungen hieß. Seit November 1985 gab es eine Lohnnullrunde und in manchen Konzernabteilungen sah man die SNCF, es zu versuchen, einige Zulagen, die zum Lohn fest gehören, zu kürzen oder zu streichen.

Die Reservierungsangestellten kämpften seit zwei Wochen gegen die Streichung der Datenerfassungszulage; einige Wochen eher, genau im Sektor der Lokführer vom Pariser Nordbahnhof hatte der Versuch, eine wichtige Prämie infrage zu stellen, einen ersten Streik des fahrenden Personals verursacht.

Zu diesen immer schwereren Arbeitsbedingungen kamen offen provozierende Erklärungen und Verhalten gegenüber den Eisenbahnern hinzu: Letzten Sommer griff der Verkehrsminister Douffiagues ihren "Statut" an und er stellte die Altersrente der Lokführer in Frage, da "es keine Flugasche mehr gibt", wie zur Zeit der Dampflokomotiven. Die SNCF hat Pläne für Lohntabellen ausgearbeitet, bei denen Beförderungen nicht mehr nach Dienstalter sondern nur noch nach Verdienst erfolgen. Seit dem Ende der Sommerpause wurden die leitenden Angestellten mobilisiert, um so genannten "Reiz und Fortschritt"-Gruppen aufzustellen, deren Motto in gewisser Weise so lautet: "Man soll Opfer bringen und schweigen, um den Betrieb zu retten". Endlich wurden auch die Betriebsärzte dafür eingespannt, um die Eisenbahner, die nach dem Geschmack der Betriebsleitung zu oft krank wären, zu bestrafen. Und während der letzten Monate hagelte es an Strafmaßnahmen und sogar die Entlassungen vermehrten sich.

Das alles hat die SNCF gesät; das alles hat sie auch ab dem 18. Dezember geerntet.

150 Lokführer des Nahverkehrs von Paris-Nord haben den Streik angefangen. Bereits vor mehreren Wochen verbreiteten einige unter ihnen eine Petition, die zu einer von den Gewerkschaften unabhängigen Bewegung der Lokführer rief. Anfang Dezember verteilten sie unter den Lokführer anderer Bahnwerke ein Flugblatt, das ihre Entscheidung mitteilte, sich "ab den 18 um 0 Uhr und bis zu vollständiger Befriedigung ihrer Forderungen" in den Streik einzutreten.

Die angezeigten Gründe der Unzufriedenheit waren folgende: "das Projekt einer neuen Tariftabelle; die Löhne; der dauernde Abbau der Errungenschaften; der Stopp der Laufbahnentwicklung; die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen."

Schließlich erklärten die Lokführer von Paris-Nord, dass sie "die verschiedenen gewerkschaftlichen Organisationen aufforderten, ihre Bewegung zu unterstützen", und dass sie "ihre Verantwortlichkeiten gegenüber den Gewerkschaften übernehmen könnten, die ihnen ihre Unterstützung nicht gewähren würden".

Tatsächlich wird die Forderungsplattform von Paris-Nord bis auf einige Details von vielen Lokführern übernommen.

Ein Streik, der sich ausweitet...

Am Morgen des 18. Dezembers scheint es, dass es in der Region Paris-Nord weitgehend gestreikt wird, und bald ist das ganze Netz lahmgelegt. Vor allem folgen die nahegelegenen Bahnwerke (Mitry, Beaumont, La Plaine, Bobigny) sofort der Bewegung, aber auch weiter entfernte: Creil, Trappes, Calais, Fives, Lille-Délivrance, Boulogne. Tatsächlich wird vom ersten Tag an fast das gesamte nördliche Schienennetz bereits betroffen.

… trotz der Desinformation

Aber nur die von Paris-Nord wissen es Bescheid. Am ganzen Tag, am ganzen Abend und bis zum nächsten Tag wiederholen Radiosender und Fernseher, dass der Bahnverkehr in den nördlichen Vororten von Paris gestört ist, aber dass alles anderswo normal läuft; es geht darum, den Eindruck zu erwecken, dass die Lokführer von Paris-Nord, auch wenn sie entschlossen sind, isoliert bleiben. Und die Gewerkschaftsorganisationen beteiligen sich ihrerseits an diesem Schweigen. Der Anrufbeantworter der CGT für die Aktivisten spricht nur noch ... vom Streik des Reservierungsdienstes und gibt diesbezüglich zu verstehen, dass es eine Stimmung für den Wiederbeginn der Arbeit herrscht...

Die KP-Tageszeitung L‘Humanité vom 19. erwähnt es widerwillig: „In der Provinz breitete sich die Bewegung gestern wenig aus, sie betraf jedoch Städte wie Amiens oder Lille, bevor sie wiederholte: „Nach Anhörung der seit zehn Tagen streikenden Beschäftigten der Reservierungsschalter herrscht eine Stimmung für den Wiederbeginn der Arbeit“.

Die CGT in einer mehrdeutigen Position

Vor Ort bei dem Nahverkehr von Paris-Nord haben nur die CFDT und die FGAAC die Erwartungen der Lokführer etwas, erfüllt und eine erneuerbare Streikankündigung von 5 Tagen einreichten. Aber was in den Medien zu hören war, ist, dass dies ein Streik der Gewerkschaften CGT, CFDT und FGAAC Streik ist.

Tatsächlich war die Haltung der CGT in den Bahnwerken während den ersten drei Tagen oft ganz verschieden, auch wenn sie öffentlich darauf hindeutet, dass sie die Aktion unterstützt. Ihre offiziellen Erklärungen waren mindestens mehrdeutig. Sie werden unterschiedlich interpretiert und je nach dem Bahnwerk verwirklicht. Im Südosten gibt die CGT bereits am 19. ein gemeinsames Flugblatt mit der FGAAC und der CFDT heraus, in dem darüber informiert wird, dass das gesamte nordische Netz gestreikt wird, und in dem sie die meisten Forderungen der Lokführer von Paris-Nord aufgreifen. Aber gleichzeitig setzt die CGT in der Region Südwesten alles gegen den Streik daran: Im Pariser Bahnwerk des Südosten-Bahnnetzes und in den Vororten werden echte „Arbeitsposten“ gebildet, um dem ihren Dienst beginnenden Zugpersonal auszureden, in den Streik einzutreten. Die Plakate, die zum Streik aufrufen, werden abgerissen; und man wird sehen, wie das Management und die CGT-Gewerkschaft offen zusammenarbeiten. So stellt die Leitung ein Mitglied der CGT in die „Reserve“. Auf diese Art von seiner Arbeit als Zugführer befreit, wird ihm ermöglicht, die Kollegen die Arbeit wieder aufnehmen zu lassen.

Erst am späten Samstagnachmittag, dem 20., als sich die Bewegung diesmal auf 75 von den 94 Bahnwerken ausgeweitet hatte, rief die CGT überall offen zum Streik auf. Es war wohl spät. Die Presse verglich diesen Streik mit dem „wilden“ Streik der Lokführer vom 1. Oktober 1985, der wie ein Lauffeuer von Chambery aus losgegangen war. Doch diesmal hatte sich die CGT nirgendwo gegen die Ausweitung des Streiks eingesetzt. Sie hatte im Gegenteil darauf bestanden, überall zum Streik aufzurufen, dort wo es noch nicht gestreikt wurde, und hatte nicht mit Mitteln gespart, benutzend dafür die Zug-Boden-Funkverbindungen. Diesmal ging es aber nur darum, die Prüfungen, die nach den Unfällen des vergangenen Sommers auferlegt wurden, zu widerrufen; es kostete der Leitung nur ... eine Frage des Prinzips.

Heute im Gegenteil - und alle haben es gesagt - geht es um die gesamte Sparmaßnahmenpolitik der Regierung selbst. Und jetzt will die CGT sich „verantwortungsvoll“ verhalten. Auch nachdem sie die Realität des Streiks überall unter den Lokführern anerkannte, verzichtete die CGT, wie alle anderen Gewerkschaftsbünde, weiterhin darauf, von einem „Generalstreik“ zu sprechen; und unter dem Vorwand der Sorge um den öffentlichen Dienst wollte sie zum Beispiel weiterhin ihre Bereitschaft zeigen, bestimmte Züge fahren zu lassen.

Die Mitteilung der CGT vom 20. Dezember um 18. Uhr gab genau an, dass sie beabsichtigt, „die maximale Anzahl von Personenzügen für die Urlauber“ zu gewährleisten. In Chambéry jedenfalls waren 17 solche Züge am 21. Dezember um 16. Uhr von der CGT beansprucht. Die Gewerkschaft sollte dann darauf hinweisen, dass die SNCF-Leitung diese Gelegenheit genutzt hat, um Stückgüterzüge verkehren zu lassen. Doch am Freitag, dem 19., weitet sich der Streik in andere Netzwerke als im Norden weiter aus. Im Südosten, nach dem Bahnwerk von Charolais in Paris, das am Morgen begonnen hatte, weitet sich der Streik auf Laroche, Avignon, Marseille aus; diejenigen von Paris-Saint-Lazare stimmen für den Streik; während der Südwesten eine längere Zeit brauchen wird, um wirklich in den Streik zu eintreten. Am Sonntag, dem 21., wurde der Streik unter den Lokführern verallgemeinert.

Ab Montag beginnt das nichtfahrende Personal in den Bahnhöfen, Werkstätten oder Rangierbahnhöfen mit einzusteigen. Aber auch gegenüber ihm wie gegenüber den Lokführern ist die Haltung der Gewerkschaftsführer unterschiedlich und widersprüchlich. Hier rufen sie zum Streik auf, dort bremsen sie die Bewegung. Und fast überall organisiert die CGT, im Namen der Demokratie, geheime Abstimmungen, um über den Streik zu entscheiden.

Das Misstrauen der Eisenbahner

In manchen Sektoren, bei dem Fahrpersonal wie bei den nichtfahrenden Eisenbahnern, besteht ein gewisses Misstrauen gegenüber den gewerkschaftlichen Organisationen.

Die Eisenbahner haben in letzter Zeit völlig nachgeprüft, dass die von den Gewerkschaftsorganisationen vorgeschlagenen Aktionen gar nicht wirkungsvoll waren. Sie haben die Grenzen der schon programmierten "Aktionstage" öfters gesehen, die die Betriebsleitung überhaupt nicht erschrecken und sie kaum verhin¬dern, ihre Angriffe weiterzuführen. Seit September haben vier "Aktionstage" ohne Perspektive viele kampfbereiten Eisenbahner dazu gebracht, sich darüber zu fragen, welches Ziel die Gewerkschaften hatten.

Und dann, auch wenn es zweifellos im Geist der Eisenbahner konfuser ist, bezahlt auch die CGT besonders die Politik Fitermans, des früheren kommunistischen Verkehrsministers, und die der Kommunistischen Partei (PCF) in der Regierung. Zu dieser Zeit (1981-1984) hatte sich die CGT allen Bewegungen entgegengesetzt, und sie hatte den Arbeitsplatzabbau am Anfang der Mitterrand-Präsidentschaft einstecken lassen.

Also, als die Bahnbeschäftigten dem Aufruf der Lokführer von Paris-Nord Folge leisteten, als der Streik sich ausbreitete, wurde die einzige Tatsache, von der die Gewerkschaftsorganisationen sich hüteten (einen allgemeinen Aufruf zu geben), ein neuer Grund zum Misstrauen; auch wenn sich persönlich viele Gewerkschaftsaktivisten in manchen Konzernbereichen in Aktivisten des Streiks verwandelt hatten.

Das einzige Mittel, nicht vom Willen der Gewerkschaftsleitungen abhängig zu sein, liegt darin, dass die Eisenbahner sich selbst organisieren. Am Dienstag, dem 23. konnte man feststellen, dass die Eisenbahner, in der Pariser Gegend oder in der Provinz, darauf bestanden, sich zu versammeln, und dass die Vollversammlungen der Strei¬kenden entscheiden. Auch die CGT musste diese Ansicht berücksichtigen, und überall zu Versammlungen auffordern. Und soweit wir es wissen, hatten diese Versammlungen zur Umsetzung ihrer Entscheidungen in mindestens 20 Sektoren Streikkomitees gewählt. Die Mitglieder dieser Streikkomitees waren sowohl organisierte Arbeitende aller gewerkschaftlichen Richtungen als auch nicht gewerkschaftlich organisierte Eisenbahner, die bei jeder Versammlung gewählt wurden und der Kontrolle der Versammlung unterstanden.

Das Ergebnis der ersten Verhandlungen am Montagabend hatten nirgendwo die Streikenden erschüttert; im Gegenteil die Eisenbahner waren ja überall noch entschlossener.

Aus Lutte Ouvrière vom 23/12/1986