Ungarn - Wir sind alle Mörder!

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Leitartikel der Betriebszeitungen von Voix Ouvrière - 11. November 1956
November 1956

Der ungarische Aufstand wurde von den Panzern der russischen Armee zermalmt. Trotz des Missverhältnisses der Kräfte leisteten und leisten die ungarischen Kämpfer noch Widerstand. Trotz Hungersnot und Unterdrückung kam es zu einem Generalstreik. Es handelte sich um einen Volksaufstand, wenn nicht sogar um einen proletarischen Aufstand, egal was die stalinistische Presse behauptet. Es ist ganz klar, dass eine Minderheit von Aufrührern einen solchen Kampf nicht hätte führen können und dass es - um so lange durchzuhalten - notwendig war, dass sich die gesamte Bevölkerung den 200.000 Soldaten und 3.000 Panzerfahrzeugen der Unterdrückung entgegenstellte. Es ist das erste Mal in der Geschichte, dass die russische Bürokratie die Rote Armee benutzt, um eine Revolution niederzuschlagen; bislang hatte sie sie nur von den Armeen anderer niederschlagen lassen. Alle Arbeitende in Frankreich, einschließlich einer großen Zahl von kommunistischen Aktivisten, empfanden angesichts dieses Verbrechens die gleiche Empörung. Ein Verbrechen, das noch größer ist, als es auf den ersten Blick erscheint, da es über die Grenzen Ungarns hinausgeht. Die Unterdrückung in Ungarn hat allen europäischen Faschisten den Kopf verdreht. Die Russen haben den Faschismus nicht in Ungarn bekämpft, sondern in Frankreich verstärkt. Die KP und ihre Tageszeitung L’Humanité haben das in den letzten Tagen am eigenen Leib erfahren.

Was auch immer die Forderungen der ungarischen Arbeiterschaft waren, es war ihr Recht, sie zu stellen, bis hin zu einer Rückkehr zum Kapitalismus, die sie übrigens nicht wollten. Für ihr Massaker gibt es keine Entschuldigung, das weiß jeder. Die Abscheu ist umso größer, als diejenigen, die am lautesten protestieren, gerade diejenigen sind, die schweigen sollten.

Die französischen Regierenden verteidigen einen Arbeiteraufstand nur, wenn er in den östlichen Ländern stattfindet, während sie im Westen bei jedem Streik den Knüppel einsetzen und nicht zögern würden, einen Arbeiteraufstand im Blut zu ertränken. Hunderttausende Soldaten, die gesamte Ausrüstung einer modernen Armee gegen ein kleines Land mit ein paar Millionen Einwohnern - das ist Ungarn, ja, aber das ist auch Algerien. Und der Zynismus der französischen Führer, die das Schicksal der ungarischen Arbeitenden beweinen, während sie in Algerien und Ägypten morden, wird nur noch von den Machthabenden im Kreml übertroffen, die dasselbe andersherum tun. Der Gewerkschaftsbund FO, die Ministerkollegen hat, war durchaus in der Lage, die Initiative für eine Streikbewegung zu ergreifen, um gegen die brutale Niederschlagung des ungarischen Aufstands zu protestieren. Aber das Gleiche für Algerien zu tun, dazu war sie ebenso wenig in der Lage wie die CGT, und doch ist Beides miteinander verbunden. Gerade weil der Westen in Nordafrika, Kenia, Zypern oder Guatemala Massaker verübt, konnten die Russen dieses Verbrechen gegenüber der Weltarbeiterklasse begehen, und im Grunde ist es teilweise so, dass unsere Brüder, die ungarischen Arbeiter, unter Kugeln und Granaten sterben, weil wir französischen Arbeiter durch unsere Passivität die Unterdrückung in Algerien tolerieren. Desgleichen wäre die Intervention in Ägypten ohne die Ereignisse in Ungarn wahrscheinlich nicht möglich gewesen. Heute ist jedes dieser Ereignisse Teil eines Ganzen. Die ungarischen Arbeiter führten einen aussichtslosen Kampf, der so weit ging, dass einige Posten der Aufständischen nach einer westlichen Intervention riefen. Das war nichts anderes, als eine andere Art zu sterben zu wählen. Die westlichen Armeen hätten gewiss nicht eingegriffen, um den Arbeitern die Waffen und den Arbeiterkomitees die Macht zu überlassen. Eine solche Intervention wäre nur der Beginn eines dritten Weltkriegs und einer Ära namenloser Barbarei gewesen. Kein/e Arbeiter/in hätte ein Interesse daran gehabt. In der gegenwärtigen Spaltung der Welt in zwei rivalisierende und gegensätzliche Blöcke ist es die Niedertracht des einen, die dem anderen seine eigene Niedertracht ermöglicht. Die Massen beider Seiten stellen sich nur deshalb gegen ihre eigenen Herrscher, weil die anderen es auch nicht besser machen und sie nur die Wahl zwischen dem einen oder dem anderen sehen. Und egal, was die französischen Regierenden, die sozialdemokratischen Führer, sagen, die französischen Arbeitende konnten den ungarischen Arbeitern eher dadurch helfen, den Algerienkrieg zu beenden und die Ägyptenexpedition zu verhindern, als durch die Unterstützung derjenigen -, die den Parteisitz der PCF anzündeten.

Und die jüngsten Ereignisse haben uns gezeigt, dass das Schicksal der ungarischen Arbeitende auch das unsere sein könnte: Die Handlangerbanden, die Zeitungen und Büros der PCF angriffen, nutzten die durch die russische Unterdrückung geschaffene Verwirrung, um Organisationen anzugreifen, die sich auf die Arbeiterklasse berufen; ihre tugendhafte Empörung über die Henker des ungarischen Proletariats verbirgt in Wirklichkeit nur den Wunsch, den französischen Arbeitenden das gleiche Schicksal zu bereiten. Die stalinistischen Führer können an Niedertracht kaum übertroffen werden, aber es ist Sache der Arbeitenden, über sie zu urteilen und sie abzulehnen. Wir können den reaktionären Elementen des Landes nicht erlauben, in unseren eigenen Reihen aufzuräumen. Die Typografen der Presse haben das sehr gut verstanden, als sie die Arbeit niederlegten, weil einige von ihnen in den Räumen der Humanité verletzt worden waren. Über die PCF hinaus ist die unabhängige Organisation der Arbeiterklasse das Ziel. Es liegt an uns, uns um unsere eigenen Angelegenheiten zu kümmern und nicht den stalinistischen oder sozialdemokratischen Führern, die alle Arbeiterblut an ihren Händen haben, die Herrschaft über unsere Geschicke zu überlassen. Andernfalls werden wir uns morgen in der Situation der ungarischen Arbeitern wiederfinden: von den einen oder den anderen massakriert. Wir können dann nur uns selbst die Schuld geben, denn „man darf nie fragen, wem die Stunde schlägt, sie schlägt immer für uns“.