(aus der Zeitschrift Lutte de Classe, April 2023)
Nach drei Monaten der Proteste und wöchentlichen Demonstrationen verschob Premierminister Benjamin Netanjahu die Erörterung seiner geplanten Justizreform auf Mai: auf die Zeit nach den Parlamentsferien während des jüdischen Passahfestes. Die immer massiver werdenden Proteste hatten schließlich zu Rissen in seiner eigenen Likud-Partei geführt. Netanjahu sah sich gezwungen, seinen Verteidigungsminister zu entlassen, nachdem dieser eine „Pause“ im Gesetzgebungserfahren gefordert hatte.
Doch dann hatte es Netanjahu selber angesichts des Ausmaßes der Proteste vorgezogen, ein bisschen zurückzuweichen. Dabei ging er allerdings das Risiko ein, die Unterstützung seiner Koalitionspartner zu verlieren: der ultranationalistischen und religiösen Organisationen der extremen Rechten zu verlieren, die er braucht, um in der Knesset (dem israelischen Parlament) eine Mehrheit zu haben. Die wichtigste von ihnen ist die Partei Religiöser Zionismus. Ihr Stimmanteil ist bei den Parlamentswahlen im November 2022 von 4 Prozent auf 10 Prozent gestiegen, womit sie zur drittstärksten politischen Kraft geworden ist. Ihr Sprecher Bazille Smotrich, der für den Ausbau der jüdischen Siedlungen im Westjordanland eintritt und selbst in einer solchen Siedlung lebt, wurde Finanzminister. Er hat auch ein eigens für ihn geschaffenes Ministerium innerhalb des Verteidigungsministeriums bekommen, das es ihm ermöglichen soll, den Bau jüdischer Siedlungen im Westjordanland zu unterstützen. Als Befürworter der Annexion des Westjordanlandes und eines Groß-Israels erklärte er anlässlich einer Reise nach Paris, dass für ihn „die Palästinenser nicht existieren, weil es das palästinensische Volk nicht gibt“. Er macht keinen Hehl aus seinem Rassismus, unterstützt die ‚Rassentrennung‘ arabischer und jüdischer Frauen auf den Entbindungsstationen der Krankenhäuser und bezeichnet sich selbst als „homophoben Faschisten“.
Der Vorsitzende der rechtsextremen Partei Jüdische Macht, Itamar Ben Gvir, hat die Leitung eines Superministeriums für nationale Sicherheit übernommen. In der Vergangenheit wurde dieser Aktivist der jüdischen Siedlungsbewegung, der ebenfalls in einer Siedlung im Westjordanland lebt, wegen rassistischer Hetze und Unterstützung jüdischer Terrororganisationen verurteilt und befürwortet nach eigenen Angaben die Umsiedlung eines Teils der arabischen Bevölkerung Israels in die Nachbarländer.
Während die extreme Rechte bei den letzten Parlamentswahlen an Zustimmung gewann, erlebte die gesamte Linke ein regelrechtes Debakel. Die Arbeitspartei erreichte mit Mühe und Not etwas mehr als 3 % der Stimmen und hätte beinahe jede parlamentarische Vertretung verloren. Die Meretz-Partei, die sich als Partei links der Arbeitspartei versteht, hatte zum ersten Mal in ihrer Geschichte keinen einzigen Abgeordneten.
Diese beiden Entwicklungen sind eng miteinander verknüpft. Das Gewicht, das die rassistische und faschistische extreme Rechte erlangt hat, gibt Anlass zur Sorge, nicht nur für die Palästinenser. Das Ausmaß der Mobilisierung in den letzten Monaten hat gezeigt, dass sich ein Teil der israelischen Bevölkerung der Bedrohungen bewusst ist, die diese politischen Kräfte für ihre Freiheiten darstellen. Auf den Charakter dieser Demonstrationen werden wir später noch eingehen. Zunächst müssen wir uns jedoch fragen, wie solche Parteien an die Macht kommen konnten – in dem Land, das von den Regierenden in Israel stolz als die einzige Demokratie im Nahen Osten bezeichnet wurde.
Die Entwicklung, die dazu geführt hat, dass diese rechtsextremen Bewegungen einen solchen Einfluss erlangt haben, ist eine Folge der Bedingungen, unter denen der Staat Israel entstanden ist. Sie liegt im Wesen des Zionismus selbst begründet, der die Grundlage für diesen Staat bildet.
Der Zionismus – ein koloniales Programm
Die Ende des 19. Jahrhunderts entstandene zionistische Bewegung setzte sich zum Ziel, einen jüdischen Staat zu gründen. Aber auf welchem Territorium? Die Antwort auf diese Frage lag nicht auf der Hand, da die jüdische Bevölkerung im Laufe ihrer Geschichte über viele Länder verstreut worden war.
Nach einer Debatte innerhalb der zionistischen Bewegung entschied der Kongress in Basel 1903 die Frage zugunsten Palästinas. Selbst diejenigen, die nicht religiös waren, waren der Ansicht, dass nur der Mythos des „gelobten Landes“ eine Rechtfertigung für ihre politischen Ziele liefern konnte. Seit ihrer Entstehung waren die Verbindungen zwischen der zionistischen Bewegung und der Religion sehr eng.
Palästina war entgegen den Erklärungen der Zionisten kein Land ohne Volk. Es wurde überwiegend von arabischen Volksgruppen bewohnt. 1914 machten die Juden weniger als 10 % der Einwohner aus. Die Region war eine Provinz des Osmanischen Reiches, dessen Herrscher die Pläne der Zionisten kaum unterstützen würden.
Die Gründung eines jüdischen Staates war daher nur mit der Unterstützung einer Großmacht möglich. Lange Zeit zeigten die Führer des britischen Imperialismus kein Interesse an den Zielen der Zionisten. Im Ersten Weltkrieg suchten sie jedoch nach einem Weg, das Osmanische Reich zu schwächen, das mit Deutschland verbündet war. Sie beschlossen daher, die Bewegung zu unterstützen. Im November 1917 veröffentlichte der damalige Außenminister Lord Balfour einen Brief, der als Balfour-Erklärung bekannt wurde und in dem er sich für die Schaffung einer nationalen jüdischen Heimstätte in Palästina aussprach.
Gleichzeitig versprachen die britischen Diplomaten jedoch arabischen Stämmen im Gegenzug für ihre militärische Unterstützung die Gründung eines Großkönigreichs auf demselben Territorium. Das Sykes-Picot-Abkommen, benannt nach den britischen und französischen Diplomaten, die es ausgehandelt hatten, wurde im Mai 1916 in Moskau unter der Schirmherrschaft des russischen Zaren geheim unterzeichnet und von den Bolschewiki nach ihrer Machtübernahme veröffentlicht. Dieses Abkommen plante die Aufteilung des Osmanischen Reiches zwischen Frankreich, das Syrien und den Libanon im Visier hatte, und dem Vereinigten Königreich, das Palästina in die Hände bekommen wollte. Indem sie sowohl die Juden als auch die Araber unterstützten und sie so gegeneinander aufhetzten, wollten sich die britischen Führer als Schiedsrichter der Situation in Stellung bringen. Nach dem Ersten Weltkrieg erhielten die Briten vom Völkerbund, dem Vorläufer der Vereinten Nationen, ein Mandat für Palästina, wo sie ihre eigene Verwaltung aufbauten.
Der Zionismus blieb eine extrem kleine Minderheit Bewegung unter den europäischen Juden, die nicht die Absicht hatten, sich in dieser armen Region niederzulassen, in der sie nicht erwünscht waren. Es bedurfte der barbarischen Verfolgung durch die Nazis und der Vernichtungslager, damit sich Hunderttausende Juden in ihrer Verzweiflung an zionistische Organisationen wandten. Diese erklärten ihnen, dass sie nur durch die Gründung eines jüdischen Staates, der sie schützen würde, sicherstellen könnten, dass sie einen derartigen Horror nie wieder erleben würden.
Auf diese Weise konnten die zionistischen Organisationen die Truppen gewinnen, mit denen sie das Vereinigte Königreich zwingen konnten, seine Herrschaft in Palästina zu beenden.
Die Entstehung Israels und die Vertreibung der Palästinenser 1948
1947 stimmten die Vereinten Nationen für einen Plan, der die Teilung Palästinas und die Gründung eines jüdischen und eines arabischen Staates dort vorsah. Es war der erste Entwurf einer Zwei-Staaten-Lösung.
Die zionistischen Organisationen akzeptierten diese Teilung nicht. Sie setzten sich zum Ziel, so viel Land wie möglich zu besetzen und so viele Araber wie möglich zu vertreiben, um so einen Staat zu schaffen, in dem die Juden die Mehrheit bilden würden. Für diese ethnische Säuberung wurde ein sorgfältig ausgearbeiteter Plan, der Daleth-Plan, erstellt, dessen Umsetzung noch vor der Ausrufung des Staates Israel am 15. Mai 1948 begann. Am Ende des ersten arabisch-israelischen Krieges kontrollierte der Staat Israel, dem laut UN-Plan 55% des palästinensischen Territoriums zugesprochen werden sollte, 78% des Landes. 800.000 Palästinenser waren aus ihrem Land vertrieben worden, was die Palästinenser als Nakba (Katastrophe) bezeichnen. Ein Großteil von ihnen fand Zuflucht in den Flüchtlingslagern, in denen ihre Nachkommen noch heute leben.
Die arabischen Staaten bildeten keine einheitliche Front gegen den israelischen Staat. Sie waren korrupt und vertraten die privilegierte Minderheit ihrer jeweiligen besitzenden Klassen. Sie kümmerten sich nicht darum, die Interessen der palästinensischen Bevölkerung zu verteidigen. König Abdullah I. von Transjordanien führte die größte Streitmacht an und annektierte 1948 das Westjordanland. Die ägyptischen Streitkräfte eignete sich im selben Jahr den Gazastreifen an. Von dem arabischen Staat, für dessen Gründung die Vereinten Nationen gestimmt hatten, war nichts mehr übrig.
Nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 besetzte die israelische Armee das Westjordanland und den Gazastreifen. Diese Gebiete wurden nicht annektiert, da ihre überwiegend arabischen Bewohner den Anteil der nichtjüdischen Bürger in Israel erhöht hätte. Es wurde eine Verwaltung der besetzten Gebiete unter der Leitung der Armee eingerichtet. Offiziell war die Besetzung nur vorübergehend, doch schon bald begannen die damaligen Regierungen, an deren Spitze die Arbeitspartei stand, die Gründung jüdischer Siedlungen zu fördern, um ihre Präsenz dort dauerhaft zu sichern.
Seit der Gründung Israels im Jahr 1948 hat die israelische Führung einen permanenten Kriegszustand mit den arabischen Staaten aufrechterhalten und die Politik der USA im Nahen Osten unterstützt. Im Gegenzug sicherten die USA dem Land eine unerschütterliche Unterstützung zu, um einen sicheren Verbündeten in der Region zu haben.
Um ihre Interessen in dieser für sie strategisch sehr wichtigen Region durchzusetzen, haben die imperialistischen Mächte den Konflikt zwischen Juden und Arabern, den sie selber mit verursacht haben, in den letzten 100 Jahren immer wieder angeheizt.
Als die Arbeitspartei eine hegemoniale Stellung einnahm
Die Organisationen, die in diesen Jahren eine führende Rolle spielten, gehörten nicht der extremen Rechten an, sondern beriefen sich auf den Sozialismus.
Die Linke spielte in der frühen zionistischen Bewegung eine führende Rolle. Dies hing mit der großen Zahl an Juden aus Osteuropa, vor allem aus dem Russischen Reich zusammen, wo es eine starke Arbeiterbewegung gab. Die Arbeitspartei, die Mapai, wurde 1930 gegründet. Die große Mehrheit der zionistischen Strömungen, die sich auf den Sozialismus beriefen, schlossen sich ihr an. Es gelang ihr gelang relativ schnell, die jüdischen Institutionen zur Zeit der britischen Herrschaft in Palästina unter ihre Kontrolle zu bringen.
Ihr Sozialismus war jedoch auf die Juden beschränkt und schloss die arabische Bevölkerung völlig aus. Um den Kibbuz – dieser kollektiven Form der landwirtschaftlichen Nutzung, in der ein egalitärer Geist herrschen sollte und die angeblich ein sozialistisches Ideal verkörperte – entstand eine ganze Mythologie. Das eigentliche Ziel der Kibbuz war jedoch die Eroberung des Landes. Sie ließen sich auf Land nieder, das sie von abwesenden Großgrundbesitzern gekauft hatten, und vertrieben die dort lebenden arabischen Bauern.
In der Gesellschaft, die diese angeblichen Sozialisten schaffen wollten, hatten die Araber keinen Platz. Und so ist es nicht verwunderlich, dass sie auch im israelischen Staat Bürger zweiter Klasse blieben und der anti-arabische Rassismus immer stark ausgeprägt war.
Das wachsende Gewicht der religiösen extremen Rechten
Die Arbeitspartei nahm dreißig Jahre lang eine hegemoniale Stellung in der israelischen Politik ein. Dennoch haben sie es den religiösen Bewegungen ermöglicht, eine zentrale Rolle in der Gesellschaft einzunehmen. Der Premierminister der Arbeitspartei David Ben Gurion suchte die Unterstützung von Rabbinern und Geistlichen. Er räumte ihnen erhebliche Macht über das gesellschaftliche Leben ein und überließ ihnen die Verwaltung des Standesamtes, also Eheschließungen, Scheidungen und alle Familienangelegenheiten.
Die religiösen Kräfte hatten auch einen Teil des Bildungssystems unter ihrer Kontrolle. Darüber gelang es ihnen im Laufe der Jahre, immer mehr an Einfluss in der Gesellschaft zu erlangen. Die Entwicklung von Siedlungen, in denen religiöse Strömungen eine dominante Rolle spielten, trug ebenfalls dazu bei, dass die religiösen Kräfte zahlenmäßig an Gewicht und Einfluss gewannen. Auf politischer Ebene waren die Siedlerbewegungen eindeutig am äußersten rechten Rand angesiedelt und befürworteten die Annexion der besetzten Gebiete und die Vertreibung ihrer arabischen Bewohner.
Diese Entwicklung stärkte die Rechte, die schließlich in der Lage war, die Arbeiterpartei zu verdrängen. 1977 gewann die größte rechte Partei, die Likud-Partei, die Parlamentswahlen. Ihr Vorsitzender Menachem Begin, der 1948 der rechtsextremen Terrorgruppe Irgun angehört hatte, wurde Ministerpräsident.
Das Osloer Abkommen und der sogenannte „Friedensprozess“
Nachdem sie einige Jahre in der Opposition geblieben war, beteiligte sich die Arbeitspartei an mehreren sogenannten Regierungen der nationalen Einheit mit der Rechten. So war einer ihrer wichtigsten Politiker, Jitzchak Rabin, zwischen 1984 und 1990 Verteidigungsminister. In dieser Funktion sah er sich mit dem Ausbruch der ersten Intifada im Jahr 1987 konfrontiert, einer Revolte junger Palästinenser, die sich der israelischen Armee nur mit Steinen bewaffnet entgegenstellten. Rabin gab die Anweisung, den Jugendlichen Arme und Beine zu brechen. Doch die Gewalt, die die Soldaten an den Tag legten, reichte nicht aus, um die Entschlossenheit der palästinensischen Jugend zu brechen.
Der israelischen Führung gelang es nicht, die Intifada zu beenden. Sie sah sich daher gezwungen, Verhandlungen mit den nationalistischen palästinensischen Organisationen aufzunehmen, was sie bis dahin abgelehnt hatte.
Dies führte am 13. September 1993 zur Unterzeichnung des Osloer Abkommens zwischen Arafat, dem Führer der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), und Rabin, der nach seinem Wahlsieg ein Jahr zuvor Premierminister geworden war. Das Abkommen sah die Einrichtung autonomer Gebiete unter Leitung einer Palästinensischen Autonomiebehörde vor, außerdem einen Zeitplan für Verhandlungen über die Gründung eines palästinensischen Staates, der den totgeborenen arabischen Staat von 1947 wiederbeleben sollte. Im September 1995 wurde im Oslo-II-Abkommen der Status des Westjordanlandes festgelegt, das in drei Zonen aufgeteilt wurde. Nur die Zonen A und B wurden von der Palästinensischen Autonomiebehörde verwaltet, während die dritte Zone, die mehr als 60% des Westjordanlandes ausmachte, einschließlich aller Siedlungen unter der Kontrolle der israelischen Armee blieb.
In Wirklichkeit dachte die israelische Führung nie daran, einen echten palästinensischen Staat anzuerkennen. Die Kolonisierung des Westjordanlandes wurde zu keinem Zeitpunkt gestoppt. Während dieser Zeit verschlechterten sich die Lebensbedingungen in den besetzten Gebieten immer weiter, da die israelischen Behörden die autonomen palästinensischen Gebiete abriegelten und die Palästinenser daran hinderten, nach Israel zu kommen, um dort zu arbeiten. Unzufriedenheit und Enttäuschung führten schließlich im Jahr 2000 zum Ausbruch der zweiten Intifada. Die islamistische Organisation Hamas gewann an Zulauf und profitierte davon, dass sie sich gegen das Osloer Abkommen gestellt hatte. Um ihr radikales Image bei den Palästinensern zu stärken, verübte sie vermehrt tödliche Selbstmordanschläge.
Der rechtsgerichtete Führer Ariel Sharon wurde im Februar 2001 Premierminister, wobei er sich auf das Gefühl von Angst stützte, das sich unter der israelischen Bevölkerung ausbreitete. „Oslo ist Geschichte“, soll er bei seinem Amtsantritt gesagt haben. Er kehrte zur Politik der israelischen Regierungen vor der Unterzeichnung des Osloer Abkommens zurück, verweigerte jeden Kontakt mit der PLO und begann eine Politik heftiger Repression. Die israelische Armee setzte Panzer im Westjordanland ein, bombardierte palästinensische Städte und machte sogar ganze Stadtviertel mit Bulldozern dem Erdboden gleich. Das Hauptquartier der Palästinensischen Autonomiebehörde in Ramallah, wo sich Arafat aufhielt, wurde zwei Jahre lang belagert und zeitweise von Wasser und Strom abgeschnitten.
Als Scharon zu der Politik zurückkehrte, die vor 1993 vorherrschte, hatte er nicht die Absicht, das gesamte Westjordanland zu annektieren. Er begann mit dem Bau einer Mauer, die von den israelischen Behörden als „Trennungsmauer“ bezeichnet wurde. Man pries sie als Mittel an, durch die endgültige Trennung von Israelis und Palästinensern die Terroranschläge zu beenden. Der Verlauf der Mauer ermöglichte es, dem israelischen Gebiet 65 weitere jüdische Siedlungen, aber ebenso 11.000 Palästinenser und die große Mehrheit der 250.000 Palästinenser in Ost-Jerusalem einzuverleiben.
Da der Schutz der Siedlungen in Gaza zu schwierig und zu teuer gewesen wäre, ließ Sharon sie räumen. Er zögerte nicht, die Siedler, die sich weigerten zu gehen, mit militärischen Mitteln zu vertreiben. Um diese Politik umzusetzen, die ihn in Konflikt mit Teilen der extremen Rechten brachte, suchte Sharon die Unterstützung der Arbeitspartei und bot ihnen an, sich an seiner Regierung zu beteiligen. Indem sie das Angebot annahmen, machte die Arbeitspartei deutlich, dass sie nicht in der Lage war, eine politische Alternative anzubieten. Von da an war die Arbeitspartei nie wieder in der Lage, anders an die Macht zu kommen als durch die Beteiligung an Regierungen, die von der Rechten oder sogar der extremen Rechten geführt wurden.
Netanjahu: zunehmend eine Geisel der extremen Rechten
Ab 2009 gelang es Netanjahu, der Vorsitzender der Likud-Partei geworden war, sich zwölf Jahre lang im Amt des Premierministers zu halten und damit den bis dahin von Ben Gurion gehaltenen Rekord über die längste Amtszeit zu brechen. Dafür brauchte er jedoch die Unterstützung der extremen Rechten, die er auf diese Weise stärkte und von der er zunehmend abhängig wurde.
So verbündete er sich mit den religiösen Nationalisten der Partei Jüdisches Heim, von deren führenden Köpfen einer (Naftali Bennett) als Sprecher der Siedler im Westjordanland fungierte. Und Avigdor Lieberman, der dazu aufgerufen hatte, „israelische Araber, die Israel untreu sind, mit einer Axt zu enthaupten“, war in den Regierungen Netanjahus nacheinander Außen- und dann Verteidigungsminister.
2018 erzwangen die gemeinsam regierenden Rechten und Rechtsextremen die Abstimmung über einen Text mit dem Titel Israel als Nationalstaat des jüdischen Volkes, was die bisherige offizielle Bezeichnung Israels als „jüdischen und demokratischen Staat“ ersetzen sollte. Mit dieser Änderung sollte der Stellenwert der israelischen Araber, die 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen, weiter verringert werden. Außerdem wurde symbolisch der Status des Arabischen als Amtssprache neben dem Hebräischen abgeschafft. Schließlich hieß es in einem Artikel: „Der Staat betrachtet die Entwicklung jüdischer Siedlungen als nationales Ziel und wird zu deren Gründung und Ausweitung ermuntern und beitragen.“
Was das angeht, haben sich die Netanjahu-Regierungen nicht mit Absichtserklärungen begnügt. Sie haben den Bau Hunderter Wohnungen in den jüdischen Siedlungen genehmigt und Palästinenser aus ihren Häusern vertrieben, indem sie diese für illegal erklärten. Heute wohnen 475.000 Israelis in Siedlungen im Westjordanland, wo 2,9 Millionen Palästinenser leben. Hinzu kommen 230.000 Siedler in Ost-Jerusalem, wo mehr als 360.000 Palästinenser leben.
Im Juni 2021 wurde Netanjahu von einer Acht-Parteien-Koalition aus der Macht verdrängt, die aus der Arbeitspartei, Vertretern der extremen Rechten wie Bennett und Lieberman, Mitte-Rechts-Politikern wie Yair Lapid (einem ehemaligen prominenten Fernsehjournalisten) und sogar einer arabisch-islamistischen Gruppierung bestand. Bennett wurde Netanjahus Nachfolger im Amt des Premierministers und setzte die Politik seines Vorgängers in allen Bereichen fort, insbesondere gegenüber den Palästinensern.
So begann die israelische Armee aufgrund wachsenden Widerstands vor allem von Seiten der palästinensischen Jugend im vergangenen Frühjahr eine Militäroperation mit dem eindeutigen Namen „Breaking the Wave“ (Die Welle brechen). Das Jahr 2022 wurde für die Palästinenser mit 144 Opfern das tödlichste seit achtzehn Jahren. Am 31. Dezember befanden sich nach Angaben des israelischen Gefängnisdienstes 4.658 Palästinenser wegen Sicherheitsverstößen in Untersuchungshaft. Mehr als 900 von ihnen sind in sogenannter Verwaltungshaft, die willkürlich und unbegrenzt verlängert werden kann.
Die bunt zusammengewürfelte Bennett-Lapid-Koalition zerbrach schließlich nach einem Jahr und Netanjahu gelang es, bei den Wahlen im November 2022 wieder an die Macht zu kommen.
„Verteidigung der Demokratie“ - ohne die Unterdrückung der Palästinenser anzuprangern!
Netanjahus Rückkehr an die Macht bedeutete eine Verschärfung der Repression gegen die Palästinenser. Die israelische Armee führt immer tödlichere Razzien durch, bei denen Dutzende von Menschen getötet werden, und das sogar in palästinensischen Städten wie Dschenin und Nablus.
Diese Politik, die man als notwendige Reaktion auf die Anschläge junger Palästinenser darstellt, führt zu einer weiteren Eskalation. Da sie sich geschützt fühlen, greifen rechtsextreme jüdische Siedler immer häufiger Palästinenser an. Die palästinensische Stadt Huwara im nördlichen Westjordanland wurde am Sonntagabend, dem 26. Februar, von Gruppen jüdischer Siedler angegriffen, die ein anti-palästinensisches Pogrom veranstalteten. Es gab einen Toten und etwa 100 Verletzte. Zahlreiche Gebäude wurden vor den Augen des passiven oder sogar aktiv beteiligten israelischen Militärs verwüstet und in Brand gesteckt.
Die Zehntausenden, die seit Monaten in den Großstädten Israels auf die Straße gehen, prangern das Bündnis zwischen Netanjahu und der extremen Rechten an, weil sie die Demokratie verteidigen wollen. Bemerkenswert ist jedoch, dass sie die Regierungspolitik gegenüber den Palästinensern überhaupt nicht in Frage stellen.
Ihr einziges Ziel ist die Verhinderung der geplante Justizreform, die Netanjahu ausgearbeitet hat, um sein Versprechen gegenüber seinen rechtsextremen Verbündeten zu erfüllen. Der Entwurf sieht vor, die Befugnisse des Obersten Gerichtshofs zu beschneiden. Künftig soll er keine Gesetze mehr verhindern können, die das Parlament verabschiedet hat.
Bislang haben viele im Obersten Gerichtshof eine Art Gegenmacht zur Regierung gesehen, vor allem weil dieser sich manchmal gegen die Gründung bestimmter Siedlungen oder gegen bestimmte religiöse Bewegungen ausgesprochen hat.
Ein Teil der Bevölkerung ist besorgt darüber, dass die Regierung ihre Macht ausbauen will. Und sie ist umso besorgter, da angesichts des Gewichts, das die extreme Rechte in der Regierung hat, sehr wahrscheinlich mit Angriffen zu rechnen ist: auf die Rechte der Frauen, der Homosexuellen, der palästinensischen Araber, die bereits jetzt als Bürger zweiter Klasse gelten, und allgemein auf die bürgerlichen Freiheiten.
Zu den Initiatoren der Demonstrationen gehört Yair Lapid, der wieder an die Macht zu kommen versucht, indem er sein Image als Gegner Netanjahus festigt. Zu den Demonstranten gehören auch zahlreiche prominente Persönlichkeiten, ehemalige Minister, ehemalige Chefs der Sicherheitsdienste, pensionierte Generäle usw. Dies erklärt die politischen Grenzen, die die Organisatoren dieser Mobilisierung auch nicht überschreiten wollen. Denn sonst würden sie die Politik in Frage stellen, die sie selber über Jahre umgesetzt haben.
Um eine Alternative zur heutigen Entwicklung zu ermöglichen, wird es nicht ausreichen, sich die Verteidigung einer Demokratie auf die Fahne zu schreiben – eine Demokratie, die es für die Palästinenser nie gegeben hat. Man kann den Einfluss der extremen Rechten in Israel nicht bekämpfen, ohne die Siedlungspolitik in Frage zu stellen und ohne sich generell gegen die Unterdrückung zu wenden, der die Palästinenser seit 1948 ausgesetzt sind.
Das Erstarken der extremen Rechten und die Entwicklung hin zu einem zunehmend autoritären Regime sind die Folge des Kriegszustands, in dem das Land ständig leben muss. Man kann sich dieser Entwicklung nur entgegenstellen, wenn man die Politik in Frage stellt, die seit der Entstehung Israels gegenüber den Palästinensern und der arabischen Bevölkerung in der Region betrieben wird.
Es wird keine Lösung geben, ohne den Imperialismus zu bekämpfen
Im Nahen Osten, wie auch in anderen Regionen der Welt sind die imperialistischen Staaten, allen voran die der USA, einzig daran interessiert, die Regime zu schützen und zu stärken, die ihnen dabei helfen können, den Bevölkerungen die imperialistischen Interessen aufzuzwingen. Seit seiner Entstehung spielt der israelische Staat diese Rolle als Gendarm der imperialistischen Ordnung, wofür er im Gegenzug machen kann, was er will – ohne irgendetwas zu befürchten zu haben. Doch die derzeitige Eskalation der Gewalt zeigt einmal mehr, dass die israelische Bevölkerung nicht in Frieden leben kann, solange die Rechte der Palästinenser nicht anerkannt werden.
Als Revolutionäre sind wir bedingungslos solidarisch mit dem Kampf der Palästinenser für die Anerkennung ihrer nationalen Rechte. Nichts kann die Missachtung und die Gewalt seitens der israelischen Regierungen, die militärische Besatzung und den Siedlungsbau rechtfertigen. Doch die nationalistischen Organisationen der Palästinenser haben selber dazu beigetragen, ihr Volk in eine Sackgasse zu führen. Nach dem Sechstagekrieg, der die arabischen Staaten in Misskredit gebracht hatte, war der Kampf der Palästinenser zu einem Vorbild für die arabischen Massen geworden. Dies hätte ihnen ermöglichen können, eine Revolte der arabischen Volksmassen im gesamten Nahen Osten anzuführen, die sich sowohl gegen die bestehenden arabischen Staaten als auch gegen das imperialistische System richtete, das sie in Unterentwicklung und Elend hält. Doch die nationalistischen palästinensischen Führer beschränkten sich darauf, die Gründung eines Staates im Rahmen der imperialistischen Ordnung und die diplomatische Anerkennung durch die Großmächte zu erreichen.
Heute kontrollieren die PLO im Westjordanland und die Hamas in Gaza jeweils einen Teil der aus den Osloer Verträgen hervorgegangenen Palästinensischen Phantom-Autonomiebehörde und üben dort eine diktatorische Macht aus. Neben der Gewalt der israelischen Armee muss die Bevölkerung in diesen Gebieten auch die Gewalt des palästinensischen Polizeiapparats ertragen, der die Interessen einer privilegierten Minderheit schützt. Der Vormarsch der islamistischen Strömung, der Hamas oder anderer konkurrierender Bewegungen, und ihrer reaktionären Ideen ist das Gegenstück zum Aufstieg der extremen Rechten in Israel. Beide Entwicklungen verstärken sich gegenseitig und führen die beiden Völker in die gleiche Sackgasse.
Ein Ausweg aus diesem Konflikt kann nur in einem Kampf gefunden werden, der von den Ausgebeuteten der Region, Juden und Arabern, gemeinsamen gegen ihre eigenen Herrscher und die besitzenden Schichten, deren Interessen sie dienen, geführt wird – ebenso wie gegen den Imperialismus, der alles getan hat, um diese Völker gegeneinander auszuspielen und aufzuhetzen.
30. März 2023