aus Lutte de Classe von Juli-August 2023.
Die Europäische Union (EU), die bereits durch den Brexit im Jahr 2020 geschwächt wurde, wird durch die Verschärfung der internationalen militärischen und wirtschaftlichen Spannungen auf eine harte Probe gestellt. Zum einen greifen die USA verstärkt in Ost- und Nordeuropa ein, was den Einfluss der beiden größten europäischen Mächte, Frankreich und Deutschland, auf dem europäischen Kontinent schmälert. Zum anderen haben die Mitgliedsländer der EU unterschiedliche wirtschaftliche Interessen, die auch durch die Existenz der Europäischen Union nie beseitigt wurden und die mit der Verschärfung der Wirtschaftskrise und der internationalen Spannungen immer größer werden. In dieser Situation versucht jeder Staat, seine Karten so vorteilhaft wie möglich auszuspielen, während sich die Europäische Union zunehmend als machtlos erweist.
Militärische Unterstützung im Alleingang
Es wirkt auf den ersten Blick zwar so, als wäre die Europäische Union, der derzeit 27 Staaten angehören und die sich über mehr als die Hälfte des europäischen Kontinents erstreckt, vereint gegen Russland und in ihrer Unterstützung des ukrainischen Staates. Wenn man den Vertretern der europäischen Institutionen zuhört, ist die EU sich hier einig. Doch die politischen Positionierungen der Mitgliedstaaten weisen Unterschiede auf, die mehr als nur Nuancen sind. Während die italienische Regierungschefin Meloni die USA und die NATO unterstützt, erklärte Macron im Mai 2022, dass Russland nicht gedemütigt werden dürfe, und im Februar 2023, dass er nicht zu denen gehöre, die Russland zerschlagen wollen. Damit versucht er, die traditionelle Haltung des französischen Staates beizubehalten, die seit de Gaulle darin besteht, sich ein wenig von den USA zu distanzieren, während man dennoch grundsätzlich Teil des westlichen Lagers ist. Während Griechenland der erste EU-Staat war, der Waffen an die Ukraine schickte, dauerte es ein Jahr, bis Deutschland unter dem Druck der NATO zustimmte, Panzer zu liefern. Jetzt positioniert sich Deutschland jedoch als einer der größten europäischen Unterstützer der Ukraine, und zwar weitaus aktiver als Frankreich.
Auch in Bezug auf die direkte militärische Unterstützung der Ukraine sind solch widersprüchliche Entwicklungen zu beobachten. Der Krieg hat die Instrumente gestärkt, die die EU zur Finanzierung eines Teils der Militärhaushalte geschaffen hatte. Das Budget der Europäischen Friedensfazilität (EFF) wurde erhöht. Aus diesem im März 2021 geschaffenen Fonds können sich die Mitgliedsstaaten einzelne Waffenlieferungen erstatten lassen. Für den Zeitraum 2021-2027 sollten dafür eigentlich 5,6 Milliarden Euro zur Verfügung stehen. Im März 2023 wurde das Budget bereits auf 7,9 Milliarden Euro aufgestockt. Der Chef der EFF, Josep Borrell, trägt seinen Teil zum Diskurs bei, mit dem die Menschen auf eine Ausweitung des Krieges vorbereitet werden sollen. So erklärte er, man müsse "zu einer Kriegsmentalität übergehen".
Die paar Milliarden, die die EFF bereitstellt, fallen jedoch kaum ins Gewicht im Vergleich zu den 48 Milliarden Dollar, die die USA bereits bereitgestellt haben. Und vor allem machen sie nur einen kleinen Teil der europäischen Militärausgaben zur Unterstützung der Ukraine aus. Denn jeder Mitgliedstaat verfolgt in diesem Bereich seine eigene Politik. Der Großteil der Unterstützung der europäischen Länder für die Ukraine erfolgt über ihre nationalen Haushalte. Und zwischen Frankreich (650 Millionen Euro), Deutschland (3,6 Milliarden) und Polen (3,5 Milliarden, bei einem viel niedrigeren Bruttoinlandsprodukt) sind die finanziellen Anstrengungen in diesem Bereich sehr unterschiedlich.
Überall wird außerdem das Budget der nationalen Verteidigungshaushalte erhöht. Doch die Europäische Union rüstet nicht als Union auf. Jeder Mitgliedsstaat rüstet für sich auf, was etwas völlig anderes ist. Und jeder geht auf Einkaufstour, ohne Rücksicht auf seine europäischen Partner zu nehmen. So hat Deutschland US-amerikanische und nicht französische Kampfflugzeuge gekauft. Nur bei 18 % der Militärausgaben in der EU gibt es eine Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten. Die europäischen Staaten bereiten sich also auf Krieg vor, aber jeder für sich. Es gibt übrigens kein europäisches Militärkommando, das mit dem der NATO vergleichbar wäre, der 22 der 27 EU-Staaten angehören. Es gibt auch keine europäische Rüstungsindustrie: Das Projekt eines europäischen Kampfflugzeugs (FCAS), das Frankreich, Deutschland und Spanien gemeinsam entwickeln wollten, tritt seit Monaten auf der Stelle – gelähmt durch die Konkurrenz zwischen den französischen und deutschen Industriellen. Im Dezember 2022 konnte Frankreich punkten: Der französische Rüstungskonzern Dassault bekam die Leitung des Projekts übertragen. Aber die Telenovela ist sicher noch nicht zu Ende. Und das Flugzeug wird frühestens in einigen Jahren fliegen... wenn es überhaupt je das Licht der Welt erblickt.
Wirtschaftssanktionen gegen Russland: unterschiedliche Auswirkungen innerhalb der EU
Die industriellen und finanziellen Interessen der europäischen Staaten unterscheiden sich in der Frage, wie sich die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Russland und dem übrigen Europa entwickeln sollten. Diese Beziehungen waren bereits nach der Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 eingeschränkt worden. Doch mit dem derzeitigen Krieg wurden die Wirtschaftsbeziehungen in einem ganz anderen Ausmaß zurückgefahren.
Unter dem Druck der USA war ein Teil der europäischen Unternehmen tatsächlich gezwungen, sich aus der russischen Wirtschaft zurückzuziehen. Nicht alle taten dies: Bis Ende November 2022 waren nur 8,3% der russischen Tochtergesellschaften europäischer Konzerne verkauft worden, während 18% der Tochtergesellschaften US-amerikanischer Konzerne verkauft worden waren. Die europäischen Konzerne haben bei diesem Rückzug allerdings auch viel mehr zu verlieren als die US-Kapitalisten. Auch innerhalb der EU ist das Problem jedoch nicht für alle Mitgliedsländer gleich groß. Zweifellos ist die Situation für die deutschen Unternehmen am problematischsten. Sie sträuben sich daher auch am meisten dagegen, Russland zu verlassen. Dies erklärt, warum im November 2022 19,5% der in Russland tätigen ausländischen Unternehmen aus Deutschland stammten (gegenüber 12,4 % aus den USA, 7 % aus Japan und 5,6 % aus Frankreich).
Zwar haben auch französische Kapitalisten bedeutende Interessen in Russland. Im Jahr 2019 war Frankreich nach Deutschland der zweitgrößte ausländische Investor in Russland. Auchan, Leroy Merlin, Danone, Saint-Gobain, LVMH, Société Générale, Renault, Total... viele große französische Konzerne waren dort ansässig. Einige von ihnen, wie Auchan, haben Russland nicht verlassen. Was die Société Générale betrifft, die ihre Tochtergesellschaft Rosbank verkauft hat, so soll sie mehr als 3 Milliarden Euro verloren haben.
Die wirtschaftlichen Beziehungen Russlands zu Deutschland waren und sind viel stärker als zu jedem anderen großen europäischen Land. Zu Beginn des Krieges hatten deutsche Unternehmen nach Angaben des deutschen Wirtschaftsministers rund 20 Milliarden Euro in Russland investiert. Im Jahr 2015, als nach der russischen Annexion der Krim die ersten EU-Sanktionen verhängt wurden, war deutsches Kapital an über 8.000 in Russland tätigen Unternehmen beteiligt. Für einige deutsche Konzerne war Russland ein sehr wichtiger Markt: Siemens investierte dort zwischen 2005 und 2015 1,3 Milliarden Euro. 2015 erhielt Siemens einen Auftrag im Wert von über einer Milliarde Euro für die Wartung von Zügen über einen Zeitraum von vierzig Jahren. Der Krieg hat nicht alle wirtschaftlichen Aktivitäten des Westens in Russland beendet, aber er hat sie verlangsamt und verkompliziert. Und diese Entwicklung hat für Deutschland weitaus schwerere Folgen als für jedes andere EU-Land.
Dasselbe gilt für die Verlangsamung des Handels. Diese hat viele Sektoren getroffen. Doch sie belastet die deutsche Wirtschaft stärker als andere. Während der drastische Rückgang der italienischen Exporte im Bekleidungssektor für einzelne italienische Kapitalisten sicherlich ein Problem darstellt, ist das Problem in Deutschland von ganz anderem Ausmaß: Dort sind die Exporte nach Russland 2022 um 60 % zurückgegangen.
Die gravierendste Auswirkung des Krieges auf die Wirtschaft einiger europäischer Länder, insbesondere Deutschland, haben jedoch die EU-Sanktionen, die den Import russischer Waren betreffen. Für Deutschland bedeuteten sie das Ende des Zugangs zum russischen Gas, was ein großes Problem für die deutsche Wirtschaft darstellt. Deutschland hatte auf russisches Gas gesetzt und in entsprechende Pipelines investiert: in Nord Stream 1, die 2012 eröffnet wurde, und Nord Stream 2, die eröffnet werden sollte, als die russische Invasion den Vorgang unterbrach. Die USA waren schon lange vor dem Krieg in der Ukraine dagegen und drohten US-amerikanischen Unternehmen mit Sanktionen, sollten diese sich an dem Bau der Pipeline beteiligen. Die EU war sich in dieser Frage nicht einig. Polen kritisierte, dass die Pipelines Europa zu sehr an Russland binden und vor allem Polen umgehen würden: Russland hatte so die Mittel, die Gaslieferungen nach Polen zu unterbrechen, während es die Lieferungen nach Deutschland aufrechterhalten konnte. Dieses Problem wurde mit der Eröffnung der Baltic Pipe, durch die norwegisches Gas über Dänemark nach Polen geleitet werden kann, weniger akut. Frankreich war seinerseits an dem Projekt interessiert, da der Konzern Engie einer der größten Akteure war, unterstützte es aber nicht immer offen. Zu Beginn des Krieges musste Deutschland die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 aufgeben. Der Krieg in der Ukraine entschied so in dem Streit zwischen den EU-Ländern – zum Nachteil der deutschen Kapitalisten, die gezwungen sind, viel mehr für Energie zu bezahlen als zuvor, und zum Vorteil der USA, denen die Beschränkungen für russisches Gas Absatzmärkte für das in ihrem Land geförderte Schiefergas eröffnen.
Frankreich hat mit der Kernenergie bislang mehr Erfolg. Noch im Februar 2023, als das Europaparlament eine Resolution verabschiedete, die alle russischen Unternehmen vom europäischen Markt ausschließen sollte, schränkte die Europäische Kommission die Wirkung dieser Resolution sofort ein: Das russische Unternehmen Rosatom, einen Atomriesen, der für 40 % der weltweiten Uran-Anreicherung verantwortlich ist, wurde von den Sanktionen ausgenommen. Diese Entscheidung entspricht den Interessen Frankreichs, wo drei Viertel des Stroms von Atomkraftwerken erzeugt wird. Tatsächlich ist die Kernenergie bis heute von den europäischen Sanktionen verschont worden.
Frankreich und Deutschland sind nicht die einzigen, die ihre spezifischen Interessen verteidigen. Das zehnte Sanktionspaket, über das Ende Februar abgestimmt wurde, verzögerte sich, weil Polen größere Importbeschränkungen für russischen synthetischen Kautschuk forderte. Schließlich wurden die geplanten Ausnahmen und Übergangsfristen beibehalten, um die Reifenindustrie zu schützen, insbesondere auf Bestreben Italiens. Bei diesem polnischen Widerstand spielte die Tatsache, dass der größte europäische Hersteller von synthetischem Kautschuk, Synthos, seinen Sitz in Polen hat, sicherlich eine ebenso große Rolle wie der Widerstand gegen russischen Kautschuk.
Auf der anderen Seite kann sich Griechenland über die Unterbrechung des Gashandels mit Russland nur freuen, da dies den Import von verflüssigtem Erdgas (LNG) über die Ägäis fördert. Der griechische Hafen Alexandroupolis an der Grenze zur Türkei wird derzeit umgebaut, um amerikanisches LNG löschen zu können. Über diesen Hafen wird übrigens auch ein Teil der für die Ukraine bestimmten US-Waffen abgewickelt. Andererseits hindert dies griechische Reedereien keineswegs daran, vom Embargo für russische Ölprodukte zu profitieren. Sie transferieren diese auf ihre Schiffe (zu Dumpingpreisen, da Russland keine andere Wahl hat), um sie dann unter der Flagge eines Billiglandes zu einem guten Preis weiterzuverkaufen.
Was die osteuropäischen Länder betrifft, so leiden selbst diejenigen unter ihnen, die der militärischen Unterstützung der Ukraine sehr positiv gegenüberstehen, unter den ukrainischen Agrarprodukten, die den lokalen Markt überschwemmen und die Preise für lokale Agrarprodukte drücken. Mitte April 2023 verhängten Polen, Ungarn und die Slowakei daher ein Einreiseverbot für diese Produkte, ohne vorher die EU zu konsultieren, was sie nach den geltenden Regeln in der EU hätte tun müssen. Die Europäische Kommission protestierte und schließlich wurde der Transit von ukrainischem Getreide durch diese drei Ländern wieder erlaubt, nachdem sie dafür finanzielle Unterstützung von der EU erhalten hatten. Aber andere landwirtschaftliche Erzeugnisse, darunter Fleisch und Milch, unterliegen weiterhin Beschränkungen. Die Episode macht deutlich, dass jeder Staat bei Themen, die für seine Wirtschaft wichtig sind, macht, was er will – ebenso wie jedes Sanktionspaket die Unterschiede in den Handelsbeziehungen und industriellen Interessen innerhalb der EU offenbart.
Dasselbe gilt für die Frage einer möglichen Aufnahme der Ukraine in die EU. Aus Gründen der politischen Selbstdarstellung wurde die Kandidatur der Ukraine im Juni 2022 angenommen, aber Frankreich ist von dieser Aussicht nicht gerade begeistert, vor allem weil die Ukraine ein großer Agrarproduzent ist und ein EU-Beitritt die Gewinne gefährden würde, die der französische Agrar- und Lebensmittelsektor aus der GAP (Gemeinsame Agrarpolitik) zieht.
Ob es nun um die militärische Unterstützung der Ukraine, die wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland oder die künftigen Beziehungen zur Ukraine geht: In allen Fragen gehen die Interessen und Positionen der Mitgliedsländer auseinander, auch wenn es der EU derzeit gelingt, relative Einigkeit zu demonstrieren.
Der Krieg verschärft die Spannungen in der EU
Und es ist nicht sicher, wie lange selbst die Fassade der Einigkeit aufrechterhalten werden kann. Denn der Krieg in der Ukraine verschärft die unterschiedlichen wirtschaftlichen Interessen der europäischen Bourgeoisien, insbesondere gegenüber dem US-Kapital.
Mittels der NATO stärkt der Krieg diplomatischen und militärischen Einfluss der USA in Ost- und Nordeuropa – auf Kosten von Frankreich und Deutschland. Seit 1991 ist die NATO in Osteuropa kontinuierlich stärker geworden. Die Aussicht, dass die Ukraine in die NATO aufgenommen werden könnte, ist im Übrigen einer der Gründe für die russische Invasion. Seit Beginn des Krieges wurde Finnland in die NATO aufgenommen und Schweden wird voraussichtlich folgen, womit diese Länder mit ihrer jahrzehntelangen Neutralität brechen. Die Präsenz von NATO-Truppen in Europa wurde verstärkt, was US-Präsident Joe Biden dazu brachte, im Juni 2022 von einer „Natoisierung Europas“ zu schwärmen. Obwohl die NATO formal eine multinationale Führung hat, die sogenannte integrierte Kommandostruktur, ist sie im Grunde ein bewaffneter Arm der Vereinigten Staaten. Die USA verstärken außerdem ihre direkte militärische Präsenz in Europa: 100.000 US-Soldaten sind derzeit in Europa stationiert, 20.000 mehr als vor dem Krieg.
Das Land im Osten der Europäischen Union, das sich am deutlichsten auf die Seite der USA geschlagen hat, ist zweifellos Polen. Als Nachbarland der Ukraine hat es seit Beginn des Konflikts bereits 3,5 Milliarden Euro für militärische, humanitäre und finanzielle Hilfe für die Ukraine aufgewendet, was 0,6 % des polnischen BIP entspricht (während die entsprechenden Ausgaben in Frankreich 0,07 % des BIP ausmachen). Der polnische Staat lieferte acht Kampfjets. Präsident Duda erklärte sich sogar bereit, seine gesamte Flotte von MiG-29-Kampfflugzeugen (zugegebenermaßen sehr alte Modelle) zu liefern. Ungarn seinerseits hat eine viel abwartendere Haltung, was vor allem auf seine Abhängigkeit von russischen Atomwaffen zurückzuführen ist. So hat Ungarn beispielsweise die Zustimmung zum NATO-Beitritt Finnlands hinausgezögert, ebenso wie Bulgarien. Die gemeinsame EU-Mitgliedschaft Ungarns und Polens wiegt also im Vergleich zu ihren wirtschaftlichen und strategischen Interessen nicht viel und begrenzt die Spannungen zwischen diesen beiden Ländern nur sehr oberflächlich.
Diese Haltungen sind bezeichnend für die Funktionsweise der Europäischen Union, deren Erweiterung in den letzten dreißig Jahren keine Realität geschaffen hat, die über nationale Interessen hinausgeht. In der gegenwärtigen Krise können diese nationalen Interessen jedoch deutlicher an die Stelle der Vorteile treten, die den europäischen Kapitalisten durch die Vereinheitlichung des Marktes und den freien Warenverkehr entstanden sind. Davon zeugen die Spannungen zwischen Frankreich und Deutschland, für die historisch gesehen die europäische Einigung als Arena für friedliche Verhandlungen dienen sollte.
Trotz der gegenseitigen Freundschaftsbekundungen zwischen Emmanuel Macron und Olaf Scholz und trotz der Inszenierung der "deutsch-französischen Tandems“ nehmen auch hier die Spannungen zu. Sie drehen sich um die Energiepreise, um die Unterstützung jedes Staates für seine eigenen Kapitalisten auf Kosten anderer europäischer Unternehmen, um die Entwicklung der Automobilindustrie, die europäische Währungspolitik usw. Bei allen Themen, in denen die deutsch-französischen Interessen bereits vor dem Krieg auseinandergingen, wird das Verhältnis heute noch angespannter und konfliktreicher. Und auch die Beziehungen zwischen den anderen Mitgliedsländern dürften sich mit der Verschärfung der internationalen Spannungen verändern. Während Deutschland versucht, seine privilegierten Beziehungen zu den mittel- und osteuropäischen Ländern aufrechtzuerhalten, in denen es aktuell wie auch historisch große wirtschaftliche Interessen hat, baut Frankreich beispielsweise seine Beziehungen zu Spanien aus, mit dem es gerade einen bilateralen Freundschafts- und Kooperationsvertrag unterzeichnet hat.
Selbst die Reaktionen auf die massiven protektionistischen Maßnahmen der USA, die für alle europäischen Staaten ein Problem darstellt, sind keineswegs einheitlich oder gar abgesprochen. Der Plan der USA – der im Sommer 2022 verabschiedete Inflation Reduction Act – sieht vor, dass der US-Staat über 430 Milliarden US-Dollar zur Verfügung stellt. Von einem Teil davon sollen Unternehmen produziert werden, die in den USA produzieren – teilweise mit Klauseln, dass auch die Vorprodukte in den USA hergestellt werden müssen. Auch wenn damit vor allem die Abhängigkeit der USA von chinesischen Lieferanten begrenzt werden soll, besteht für europäische Unternehmen die Gefahr, Aufträge zu verlieren. Einige große Unternehmen wie BMW oder Volkswagen versuchen daher, sich in den USA niederzulassen, um von den Subventionen des amerikanischen Staates zu profitieren. Das hindert sie jedoch nicht daran, gleichzeitig europäische Subventionen zu fordern und dafür mit der Verlagerung ihrer Produktion zu drohen. Die EU ist jedoch nicht in der Lage, eine einheitliche Subventionspolitik für die Kapitalisten zu betreiben: Die Entscheidungen über Subventionen scheitern an der EU-internen Konkurrenz. Eine der wichtigsten Entscheidungen, die die EU im Februar im Rahmen ihres Grünen Industrieplans getroffen hat, ist daher ... den Mitgliedstaaten zu erlauben, ihre eigenen nationalen Subventionen zu erhöhen – auf die Gefahr hin, dass die europäischen Staaten noch stärker untereinander darum konkurrieren, wem es gelingt, Investoren anzulocken.
Natürlich versucht die Europäische Union auch, die europäischen Kapitalisten direkt zu unterstützen, wie sie es übrigens auch während der Coronakrise getan hat. Der Grüne Industrieplan, ein Ableger des Grünen Deals, erhöht unter dem Vorwand, den Klimawandel zu bekämpfen, die Zölle auf Produkte, die aus Ländern mit höheren Treibhausgasemissionen importiert werden. Das Argument ist, dass diese importierten Produkte genauso besteuert werden sollen wie in Europa produzierende Unternehmen, die eine CO2-Steuer zahlen müssen, wenn sie einen bestimmten Emissionswert überschreiten. Dies ist jedoch wenig im Vergleich zu den festgefahrenen Verhandlungen über ansonsten brennende Themen. Insbesondere streiten sich die Mitgliedsländer über die Reform des europäischen Strommarktes. Derzeit wird der Großhandelspreis für Strom hauptsächlich durch die Kosten des teuersten Rohstoffs bestimmt. Die Explosion der Gaspreise hat daher die Strompreise selbst in Frankreich in die Höhe getrieben, wo der Strom hauptsächlich in Kernkraftwerken produziert wird. In der derzeitigen Situation nutzt dieses System eher den Interessen der deutschen Industrie, die sich daher vehement gegen eine Neugestaltung wehrt. Auch die Geldpolitik wird durch die Existenz von Nationalstaaten und Staatshaushalten behindert: Während Deutschland für höhere europäische Zinssätze plädiert, könnte das besonders hoch verschuldete Italien darunter leiden, da es sich zu einem noch teureren Zinssatz auf den Finanzmärkten Geld leihen müsste.
In Wirklichkeit ist in der EU jede Änderung der Handels- und Finanzregeln zwischen Staaten seit jeher das Produkt langer und komplexer Verhandlungen. Erst 2023 gelang es 17 EU-Mitgliedsstaaten, ein Einheitspatent zu schaffen, dass es der Industrie erspart, in jedem Mitgliedsland einzeln ein Patent anzumelden. Dazu mussten diese 17 Staaten ein zwischenstaatliches Abkommen ohne offizielle, juristische Bindung an die EU unterzeichnen, weil einige Mitgliedsstaaten wie Spanien ein einheitliches Patent konsequent verweigern. Und es dauerte zehn Jahre, bis man sich auf eine Richtlinie geeinigt hatte, die ab 2024 ein einheitliches Ladegerät für in der EU verkaufte Mobiltelefone vorschreibt. Auf einem ganz anderen Gebiet dauerte es Monate, bis man sich – als Reaktion auf den US-Plan – im Februar 2023 auch nur auf die Einrichtung eines simplen Unterstützungsfonds einigen konnte. Wenn er denn auch wirklich eingerichtet wird, dann wird die Einrichtung erneut harte Verhandlungen zwischen den Mitgliedsländern über die Verwendung der Gelder mit sich bringen, insbesondere da die Einrichtung des Fonds zwar von Frankreich und Italien unterstützt wird, Deutschland und die Niederlande dem Prinzip aber nur zögerlich zugestimmt haben. Die EU ist also weit davon entfernt, auf Situationen reagieren zu können wie die USA.
In der Tat verfolgt jedes der reicheren EU-Mitgliedsländer seine eigene Politik, sowohl um seine Industrie vor der Konkurrenz auf dem europäischen Markt zu schützen als auch um seinen Platz auf dem amerikanischen Markt zu behaupten. Und um dies zu erreichen, verfügen nicht alle über die gleichen Mittel. Deutschland, das vor dem Krieg seine Energieversorgung zu einem großen Teil durch russische Gasimporte gesichert hat und daher von den steigenden Energiepreisen stark betroffen ist, hat einen 200-Milliarden-Plan zur Unterstützung seiner Kapitalisten angekündigt und seine europäischen Partner vor vollendete Tatsachen gestellt. Zwar unterstützen alle europäischen Staaten ihre Kapitalisten massiv, aber die Mittel, über die der deutsche Staat verfügt, verleihen ihm ein weitaus größeres Gewicht als den anderen, einschließlich Frankreich. Dieser deutsche Plan droht daher aufgrund seines Umfangs den Subventionswettlauf in Europa und den Wettbewerb zwischen den Mitgliedsländern weiter zu verschärfen, weshalb ihn die Zeitung Les Échos im Oktober 2022 als "Zeitbombe für Europa (...), das Gefahr läuft, ein echter Wilder Westen zu werden", bezeichnete.
Die Bourgeoisie ist unfähig, eine echte europäische Einheit zu schaffen
Die Europäische Union ist in der gegenwärtigen Krise zunehmend von inneren Spannungen durchzogen. Die Mitgliedsländer verkünden ihre Verbundenheit mit der EU, aber hinter den Worten stehen die Tatsachen: Jeder spielt zunehmend sein eigenes Blatt aus, sowohl strategisch als auch wirtschaftlich - und zwar sowohl gegenüber Russland wie auch gegenüber den Vereinigten Staaten.
Wie weit können diese Spannungen zwischen den Mitgliedstaaten noch gehen? Es ist unmöglich, dies vorherzusagen. Aber es wäre töricht, sich darauf zu verlassen, dass dieses Bündnis zwischen imperialistischen Staaten die Rückkehr des Krieges nach Westeuropa verhindern wird. Die Europäische Union wurde nicht geschaffen, um den Frieden zwischen den Völkern zu sichern, sondern um als Verhandlungsrahmen für die reichsten europäischen Länder zu dienen, ihre Herrschaft über den Rest des Kontinents zu organisieren und ihnen Zugang zu einem großen, einheitlichen Markt zu verschaffen. Es handelt sich um eine Institution im Dienste der Bourgeoisien in Europa, die im Grunde die gleiche Rolle bei der Verteidigung der kapitalistischen Interessen wie die Nationalstaaten hat, aber nicht über vergleichbare Mittel verfügt. Vor allem aber hat das in kapitalistischer Manier vereinte Europa auch nach mehreren Jahrzehnten seines Bestehens die Interessenunterschiede zwischen den europäischen Bourgeoisien nicht überwunden. Es hat die verschiedenen nationalen Interessen der europäischen Bourgeoisien nicht beseitigt. Die EU rahmt sie nur ein, solange es für die Bourgeoisien vorteilhafter ist zusammenzuarbeiten als sich zu bekämpfen.
Die Existenz der EU ist ein Produkt der Widersprüche des verrottenden Kapitalismus: Die nationalen Grenzen sind längst überholt. Die Kapitalisten müssen Formen der Vereinigung und Kooperation entwickeln. Aber gleichzeitig können sie auf die ihnen dienenden Nationalstaaten und die Einflussgebiete, die diese ihnen verschaffen, nicht verzichten.
In einer Zeit zunehmender wirtschaftlicher und militärischer Spannungen kann die Europäische Union den europäischen Kapitalisten noch nutzen, um sich der US-amerikanischen Konkurrenz entgegenzustellen und weil sie ihnen einen Binnenmarkt bietet, der viel größer ist als der größte nationale Markt. Sie kann sich aber - aus Sicht der Bourgeoisie - angesichts der sich verschärfenden globalen Krise des kapitalistischen Systems auch als ein veralteter, überholter Rahmen erweisen.
Ob die Europäische Union für die europäischen Bourgeoisien nützlich bleibt und sie sie aufrechterhalten, oder ob sie für Länder, die jeder ihren eigenen Interessen nachgehen möchten, lästig wird, ändert für die Arbeitenden nicht viel - zumindest in dem Sinne, dass die Nationalstaaten ebenso wie die Europäische Union Werkzeuge im Dienste der Bourgeoisie sind. Ob die Schläge aus Brüssel oder Paris kommen, sie bleiben Schläge. Aber es ist sicher, dass die Politiker der Bourgeoisie (egal welcher politischer Richtung) versuchen werden, die Arbeiter mit der Politik zu solidarisieren, die ihnen die Interessen ihrer Kapitalisten diktieren. Sie werden entweder mit Reden über Frieden und Einheit zwischen den europäischen Völkern kommen, die das gnadenlose Feilschen zwischen den EU-Ländern und die imperialistische Politik Europas in der Welt verschleiern sollen - oder mit Reden über die Verteidigung der Nation gegen die angeblichen Diktate der EU. In beiden Fällen werden diese Reden dazu dienen, die Bevölkerung vor den Karren der kapitalistischen Interessen zu spannen.
Es gibt keinen Grund, warum sich die europäischen Arbeiter zwischen der EU und den Nationalstaaten entscheiden sollten. Beide sind Instrumente der Bourgeoisie. Angesichts des zunehmenden Säbelrasselns müssen die Arbeiter ihre eigene Politik verteidigen, mit einer internationalistischen Perspektive. Nationale Grenzen dienen nur dazu, die Völker zu spalten und den Kapitalisten in diesem oder jenem Land Märkte zu sichern. Auch wenn die Europäische Union nichts mit der Vereinigung des europäischen Kontinents zu tun hat, ist diese dennoch eine Notwendigkeit. Sie wird jedoch nur unter der Führung des Proletariats an der Macht möglich sein. Wie Trotzki bereits 1914 schrieb: „Für das Proletariat kann es sich bei diesen historischen Bedingungen nicht um die Verteidigung des überlebten nationalen „Vaterlandes“ handeln, das zum hauptsächlichsten Hemmnis für die ökonomische Entwicklung geworden ist, sondern um die Schaffung eines weit mächtigeren und widerstandsfähigeren Vaterlandes – der republikanischen Vereinigten Staaten Europas, als Fundament der Vereinigten Staaten der Welt.“ Diese Perspektive ist heute noch notwendiger und dringender geworden.
20. Juni 2023