(Dieser Text ist der Leitartikel der Betriebszeitungen von Lutte Ouvrière vom 14. Februar 2022)
Wird es noch vor Ende der Woche mitten in Europa Krieg geben? Dies behaupten die US-Behörden, die ihre Staatsbürger dazu aufgerufen haben, die Ukraine zu verlassen.
Seit Wochen beschuldigen die westlichen Politiker Putin, eine Invasion der Ukraine vorzubereiten. In einem riesigen Lügenpokerspiel vervielfachen Biden, Macron und Scholz ihre medienwirksamen Treffen mit Putin, während sie ihn als Diktator, Aggressor und Kriegstreiber darstellen. Putin ist zweifellos ein Diktator, gegen seine Opposition und gegen die Arbeitenden in ganz Russland. Gegenüber dem Westen ist er jedoch nicht der Aggressor.
Das ukrainische und das russische Volk sind durch eine lange Geschichte und eine gemeinsame Kultur miteinander verbunden. 70 Jahre lang lebten sie in der Sowjetunion, diesem riesigen Gebiet, das nach der Revolution von 1917 geschmiedet wurde und sich gemeinsam und planmäßig entwickelte. Ob der Donbass oder die Krim administrativ zur Ukraine oder zu Russland gehörten, hatte damals keine Bedeutung, da sie durch keine wirkliche Grenze voneinander getrennt waren.
1991 ließen die Bürokraten in Moskau, Kiew und Minsk die Sowjetunion auseinanderbrechen, ohne ihre Völker um ihre Meinung zu fragen. Die USA lösten jedoch nicht die NATO auf, das Militärbündnis, das sie zur Isolierung der Sowjetunion aufgebaut hatten. Im Gegenteil nutzten sie die Schwächung Russlands unter Jelzin aus und nahmen die drei baltischen Staaten, Polen, Rumänien, Ungarn usw. in die Nato auf. Sie haben in Georgien und Zentralasien Fuß gefasst. Heute ist Russland von US-Stützpunkten umzingelt und Putin will verhindern, dass die Ukraine der NATO beitritt. Wer ist also der Aggressor?
Biden und Macron geißeln Putin, weil er Truppen vor den Toren der Ukraine aufmarschieren lässt. Doch als derselbe Putin Anfang Januar 3.000 russische Fallschirmjäger schickte, um dem Diktator Kasachstans bei der Niederschlagung der Arbeiterrevolte zu helfen, war ihr Schweigen ohrenbetäubend. In Kasachstan ging es um die Unterdrückung von Arbeiter/innen, die gegen die hohen Lebenshaltungskosten protestierten. Es ging darum, die Profite von Total, Chevron, ArcelorMittal und anderen westlichen Konzernen zu retten, die die Ressourcen und die Arbeitenden in diesem ehemals sowjetischen Land ausbeuten. Um die Aufstände niederzuschlagen, sind Putin, Biden und Macron Komplizen!
Deshalb dürfen die ArbeiterInnen die Kriegshysterie der amerikanischen Führer, denen die Europäer mehr oder weniger folgen, nicht teilen. Den einen wie den anderen ist das Schicksal der Ukrainer ebenso egal wie das aller Völker, die sie selbst überall auf der Welt unterdrücken.
Sie behaupten, Vorkämpfer für die Freiheit zu sein, aber sie hindern Frauen und Männer daran, sich frei zu bewegen, um vor Krieg oder Elend zu fliehen. Sie haben einen Eisernen Vorhang wiederhergestellt, indem sie Stacheldraht errichten, der den Tod vieler Migranten zwischen Weißrussland und Polen verursacht.
Sie predigen Frieden und Demokratie, unterhalten aber eine Vielzahl mörderischer regionaler Kriege und bewaffnen Diktatoren. Macron liest Putin die Leviten, aber Frankreich unterhält Truppen in neun afrikanischen Ländern. In Burkina Faso oder Mali treten dessen Truppen so wenig als Befreier in Erscheinung, dass sie von der Bevölkerung ausgebuht werden.
In Osteuropa, wie auch in Afrika oder Asien, intervenieren die Großmächte, um die Interessen ihrer jeweiligen Kapitalisten zu verteidigen, die um die Aufteilung der Märkte und den Zugang zu Rohstoffen kämpfen. In einer krisengeschüttelten Wirtschaft wird dieser Wettbewerb immer härter, und die imperialistischen Führer bereiten sich darauf vor, den Wirtschaftskrieg in einen realen Krieg umzuwandeln.
Ihre Militärbudgets steigen immer weiter an. Wenn es nicht Russland ist, dann ist es China, das sie als Bedrohung darstellen. Es sind jedoch amerikanische, australische und französische Kriegsschiffe und U-Boote, die im Chinesischen Meer patrouillieren, und nicht chinesische Schiffe vor der Küste Kaliforniens!
Gegenüber China oder Russland, auch wenn ein Ausrutscher nie ausgeschlossen ist, geht es den Großmächten im Moment vor allem darum, ihr Territorium zu markieren. Der Aufschub wird nicht von Dauer sein, da die kapitalistische Welt ein Pulverfass ist. Aber ihre großen Manöver haben noch ein anderes Ziel: die eigene Bevölkerung zu konditionieren und auf Linie zu bringen, um sie darauf vorzubereiten, im kommenden Krieg als Kanonenfutter zu dienen. Alle, die nur „die Interessen des Landes“ auf den Lippen haben, tragen zu dieser Konditionierung bei.
Man muss sich weigern zu marschieren, denn dieser Krieg ist nicht der Krieg der ArbeiterInnen. Es ist der Krieg ihrer Ausbeuter, die darum wetteifern, den größten Teil des Profits für sich zu beanspruchen.