Das internationale Proletariat, die einzige Klasse, die in der Lage ist, Kapitalismus und Ausbeutung ein Ende zu setzen!

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März 2011

Vortrag des Leo-Trotzki-Zirkels (Paris) vom 4. März 2011

 

Seit zwei Monaten richten sich alle Blicke auf die arabische Welt. Der Aufstand der Bevölkerung in diesen Ländern kann uns, Revolutionäre, nur begeistern. Erstens, weil es zutiefst erfreulich ist, wenn Völker in wenigen Wochen jahrzehntealte Diktaturen ins Wanken bringen; zweitens, weil die Revolte sich wie ein Waldbrand von einem Land zum anderen ausbreitet, Schritt für Schritt, von Tunesien über Libyen nach Ägypten springt, um dann einige Tage später in größerem Umfang  zurückzukehren; all das gibt dem, was wir seit langem über die Möglichkeit internationaler Bewegungen sagen, Sinn und Stärke; und all das hat man schon lange nicht mehr gesehen, viel zu lange. Wir hoffen mit all unserer Kraft, dass diese Ereignisse eine neue historische Periode eröffnen werden, eine Zeit neuer Kämpfe und vielleicht zukünftiger Revolutionen!

Es gibt aber auch etwas, was bei diesen Ereignissen ins Auge sticht, und was viel weniger erfreulich ist: die Abwesenheit des Proletariats bei diesen Aufständen. Nicht seine physische Abwesenheit: Es gab sicherlich Arbeiter/innen auf dem Tahrir-Platz in Kairo, unter den Demonstranten in Tunesien, bei den Straßenkämpfen in Libyen. Nein, das Proletariat war nicht physisch, sondern politisch abwesend: Keine Partei, keine Organisation machte dessen Stimme hörbar. Keine Partei, keine Organisation hat versucht, eine unabhängige Politik für die Arbeiterklasse zu definieren oder zum Ausdruck zu bringen.

Es gibt heute keine großen politischen Parteien mehr, die die Interessen des Proletariats vertreten; und wir können sogar sagen, dass das Proletariat seit Jahrzehnten weltweit nicht mehr als solches auf der politischen Bühne erscheint und keinen Einfluss mehr auf die Ereignisse hat. Es gibt sogar viele Intellektuelle, die direkt behaupten, dass das Proletariat einfach verschwunden sei, dass die Arbeiterklasse nicht mehr existiert.

Wir revolutionären Kommunisten sehen im Proletariat immer noch die einzige Klasse, die eine Revolution gegen den Kapitalismus führen kann, die einzige Klasse, die die Menschheit für immer von der Geißel der Ausbeutung und Unterdrückung befreien kann.

Warum sind die Marxisten der Meinung, dass nur das Proletariat diese Aufgabe erfüllen kann? Wie ist zu erklären, dass dieses heute nicht mehr die politische Rolle spielt, die es früher gespielt hat? Und wer repräsentiert das Proletariat heute - ist es eine Klasse, die stärker wird, oder eine Klasse, die zurückgeht?

Die Geschichte des Proletariats ist untrennbar mit der Geschichte seiner Organisationen verbunden. Als soziale Klasse hat das Proletariat zahlenmäßig seit dem 19. Jahrhundert nie aufgehört, zu wachsen. Doch das Bewusstsein für seine Interessen und für die Mittel zur Selbstbefreiung hat sich im Laufe seiner Geschichte stark verändert.

Seit der Geburt des modernen Proletariats hat der Klassenkampf nie aufgehört: manchmal offen und brutal, manchmal versteckt und im Verborgenen, manchmal auf Initiative der Unterdrückten, meist aber als Reaktion auf Angriffe der Bourgeoisie - die Kämpfe unserer Klasse haben eine Reihe von Siegen und Niederlagen erlebt. Doch während des gesamten 19. und eines Teils des 20. Jahrhunderts wurde die zahlenmäßige und geografische Ausbreitung des Proletariats von der Entwicklung von Parteien und von Aktivisten begleitet, die daran arbeiteten, ihm ein Bewusstsein zu geben. Selbst die Niederlagen, die die Arbeiterklasse erlitten hatte, wurden überwunden und in das kollektive Bewusstsein der Arbeiter/innen integriert, von so großen kommunistischen Revolutionären wie Marx, Rosa Luxemburg, Lenin oder Trotzki analysiert und erklärt. Und indem es aus seinen Fehlern lernte, wurde das Proletariat politisch stärker.

In den 1920er Jahren, nach dem Verrat der Sozialdemokratie und dem Aufkommen des Stalinismus, kehrte sich die Tendenz um. Die Parteien der Arbeiterbewegung hatten nicht mehr als Ziel, das Bewusstsein der Arbeitenden zu erhöhen, sondern ihre eigenen Apparate zu stärken, - die Sozialisten waren direkt mit der Bourgeoisie verbunden, und die Stalinisten mit der Sowjetbürokratie, die selbst zu einer der Hauptfaktoren für die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Ordnung auf der Welt geworden war. Anstatt zu versuchen, die Kämpfe so weit wie möglich zu treiben, begannen diese Parteien, sie zu bremsen; anstatt den Arbeiter/innen die Wahrheit zu sagen, begannen sie, sie zu belügen; anstatt die Niederlagen zu analysieren und zu verstehen, verwandelten sie sie in große Siege. Die Arbeiterbewegung hat sich seitdem tatsächlich gegen die Arbeiterklasse gestellt. Für die Folgen dieser Entwicklung bezahlen wir bis heute.

 

Der Aufstieg der Arbeiterbewegung

Ganz zu Beginn der industriellen Revolution, an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, wurde das junge Proletariat von den Arbeits- und Lebensbedingungen, die ihm auferlegt wurden, regelrecht erschlagen: ehemals freie Bauern und Handwerker waren von der aufstrebenden Bourgeoisie enteignet worden, die für ihre neuen Fabriken Arbeitskräfte brauchte, die nichts besaßen, keine Werkzeuge, keine Maschinen, kein Land - die also nur die Wahl hatten, entweder in den Fabriken zu arbeiten oder zu verhungern. Genau das ist die Definition des Proletariats: eine Klasse, die nichts besitzt und nur dadurch ihr Brot verdienen kann, indem sie einem Chef ihre Arbeitskraft gegen Lohn anbietet.

Auf diese Weise hat die Bourgeoisie Millionen von Männern, Frauen und Kindern in Produktionsmaschinen verwandelt, deren Leben und Tod keine Bedeutung hat: Die Proletarier sind frei, sie werden stundenweise, tageweise, wochenweise angestellt ... Sollen sie sterben, es wird immer andere geben, die sie ersetzen! Für den Sklavenbesitzer der Antike war der Sklave ein Gut, welches mehr oder weniger geschützt werden musste, um die Kosten zu senken. Für den kapitalistischen Unternehmer sind die Arbeiter/innen nichts dergleichen: Ein toter oder verkrüppelter Arbeiter kostet nichts. Als Engels Anfang der 1840er Jahre die Stadt Manchester beschreibt, sieht er so viele Krüppel, dass er notiert: „Man hat den Eindruck, inmitten einer Armee zu leben, die aus dem Krieg zurückkehrt“, und er fügt hinzu: „Für die Arbeitswelt bedeutet leben nur nicht zu sterben.

Diese Arbeiter/innen waren, als sie in den Fabriken eingestellt wurden, in absolutes Elend gestürzt worden und von der relativen Freiheit des Bauern oder des Handwerkers in KZ-Verhältnisse übergegangen. In den ersten Jahren der industriellen Revolution verhinderte dieser soziale Zusammenbruch, dass sich Kämpfe entwickelten, außer sporadisch und brutal. Die ersten Kämpfe des Proletariats waren brutale Explosionen, bei denen sich der Hass gegen die Ausbeuter in der Zerstörung von Werkstätten und manchmal dem Mord einzelner Chefs selbst richtete. Diese Wutausbrüche waren lediglich Ausdruck des blinden Willens der Proletarier, zu ihrem früheren Zustand zurückzukehren: Durch das Zerschlagen von Maschinen und Niederbrennen von Fabriken hofften sie, die Entwicklung der Maschinen in die Produktion, die sie für ihre zunehmende Arbeitslosigkeit verantwortlich machten, aufzuhalten. Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert äußerte noch niemand die Idee, dass der Einsatz von Maschinen ein Fortschritt sein könnte, den die Arbeitenden selbst aufgreifen könnten, um eine neue Gesellschaft zu schmieden.

 

Vom Frühsozialismus zu den ersten Kämpfen

Zur gleichen Zeit entstanden die ersten sozialistischen Ideen, aber sie hatten noch nichts damit zu tun, was sie in den folgenden Jahrzehnten werden würden. Die ersten Sozialisten waren Philanthropen aus bürgerlichen Kreisen, die aufrichtig entsetzt über die Bedingungen waren, in die die Arbeiter/innen geworfen wurden, aber noch nicht verstehen konnten, dass die Arbeiterklasse in der Lage ist, sich selbst zu emanzipieren. Für diese Philanthropen konnte die Lösung für das Elend der Arbeiterklasse nur von oben kommen, von den reichen und gebildeten Klassen. Die ehrlichsten dieser Sozialisten widmeten einerseits ihr Leben der Idee, ideale Gesellschaften zu planen und andererseits versuchten sie, die Reichen davon zu überzeugen, sich diesen Projekten anzuschließen und sie zu finanzieren. Natürlich vergeblich: Wir wissen, dass beispielsweise der Sozialist Fourier jeden Tag seines Lebens darauf wartete, dass ein Millionär, der in der Lage wäre, die Gesellschaft der Zukunft zu finanzieren, zu der von ihm festgesetzten Zeit im Jardin du Luxembourg in Paris kommen würde.

Parallel zu dieser Strömung - die Marx später als „utopischen Sozialismus“ bezeichnen sollte – begannen sich aus der Arbeiterklasse selbst heraus Kämpfer zu entwickeln und es bildete sich auch gleichzeitig ein Bewusstsein. Dieses Bewusstsein entstand aus den Existenzbedingungen des Proletariats selbst heraus: die Bourgeoisie hatte die Arbeiter/innen enteignet, hatte sie jeder Möglichkeit zur individuellen Emanzipation beraubt, hatte die alten, mehr oder weniger patriarchalischen Zunftbeziehungen, die früher zwischen Herren und Arbeiter/innen bestanden hatten, zerschlagen. Damit hatte sie auch die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass einige unter ihnen sich allmählich der notwendigen Solidarität bewusst wurden. So entstanden die ersten Versuche, Arbeiterorganisationen aufzubauen: man musste versuchen, sich zusammenzuschließen, um gemeinsam das zu erreichen, was der Boss jedem Einzelnen niemals geben würde. So entstanden Anfang des 19. Jahrhunderts die ersten Solidaritätskassen der Arbeiter/innen.

Zur gleichen Zeit entwickelten sich die ersten Kämpfe, die sich nicht nur die Zerstörung der Maschinen zum Ziel setzten: In den 1830er Jahren brachen sowohl in Frankreich als auch in England Arbeiterkämpfe von ganz anderem Ausmaß, Tiefe und Massencharakter aus: so der Aufstand der Seidenarbeiter in Lyon - der „Canuts“ - im Jahr 1832 und die Chartisten-Bewegung in England, die als erste organisierte Arbeiterbewegung politische Rechte für die Arbeiterklasse forderte. Aus dem Proletariat selbst kamen die ersten Aktivist/innen, die sich mit Leib und Seele für die Verbesserung des Schicksals ihrer Klasse einsetzten, die aber immer - bis zur Entstehung des Marxismus - von der Idee überzeugt waren, dass diese Verbesserung von oben durch die Aktion aufgeklärter Menschen im Dienst des Volkes erfolgen würde.

 

1848: Das Kommunistische Manifest...

        

Das Jahr 1848 markierte in zweierlei Hinsicht einen grundlegenden Bruch in dieser Situation: Weil in diesem Jahr das Manifest der kommunistischen Partei von Marx und Engels erschien, und zweitens, weil in diesem Jahr zum ersten Mal das Proletariat als unabhängige Klasse auf der revolutionären Bühne in Erscheinung trat.

 

Das Proletariat als revolutionäre Klasse

Das Kommunistische Manifest drückt zum ersten Mal die Idee aus, dass die Emanzipation des Proletariats nicht von anderen sozialen Klassen kommen wird, sondern vom Proletariat selbst. Das Proletariat galt nicht mehr als Opfer, als leidende Klasse, die nur auf die Hilfe von Philanthropen oder aufgeklärten Intellektuellen hoffen muss, um ihr Schicksal zu ändern, sondern als revolutionäre, aktive Klasse - und noch besser: als die Klasse, die die Zukunft der gesamten Menschheit in der Hand hat.

Die Autoren des Manifests der Kommunistischen Partei, Marx und Engels, waren damals junge Männer - 28 und 30 Jahre alt-, und sie waren Revolutionäre. Vor ihnen hatten bereits andere Intellektuelle den spektakulärsten Umsturz studiert, den die politische Geschichte bis dahin gekannt hatte: die Französische Revolution. Und sie waren zu dem Schluss gekommen, dass diese Revolution das Ergebnis eines Kampfes zwischen zwei sozialen Klassen, dem Adel und der Bourgeoisie, gewesen sei. Marx versuchte daher zu verstehen, welche Klasse zu seiner Zeit in der Lage sein würde, die revolutionäre Rolle zu spielen, die die Bourgeoisie 1789 gespielt hatte.

Marx hatte schon in seiner Jugend mit den Aktivisten der ersten organisierten Arbeiterbewegungen verkehrt und die Schriften der utopischen Sozialisten verschlungen. Was Engels betrifft, so hatte er an der Seite der englischen Arbeiterklasse gelebt und verstanden, dass sie eine enorme soziale Kraft verkörperte. Die Arbeit, die die beiden leisteten, hatte zum Ziel, den Revolutionären ein Programm zu geben, das sich nicht nur auf das stützte, was sie direkt vor Augen hatten, sondern die Rolle, den Platz und die Entwicklung der verschiedenen sozialen Schichten in der Gesellschaft, in der sie lebten, zu verstehen.

Einer der Grundgedanken des Manifests ist, dass die Arbeiterschaft die einzige Klasse ist, die dazu bestimmt ist, sich zu entwickeln, und dass die anderen sozialen Klassen unvermeidlich untergehen werden. Die Entwicklung des Kapitalismus, der Mechanisierung, brachte Tag für Tag immer mehr Handwerker und Kleinunternehmer in den Ruin und zwang sie, sich in die Reihen des Proletariats einzuordnen. Diese Handwerker und Kleinunternehmer waren zwar zu Marx’ Zeiten immer noch die große Mehrheit in der Gesellschaft. Aber diese soziale Schicht hatte weder eine Zukunft noch eine Perspektive für die Gesellschaft: Wenn sie gegen den Kapitalismus kämpfte, wollte sie nicht vorwärts-, sondern zurückgehen, und versuchen, die Entwicklung der Großindustrie zu bremsen - das waren keine revolutionären, sondern im wahrsten Sinne des Wortes reaktionäre Ziele.

Was das Proletariat hingegen im Grunde zu einer revolutionären Klasse macht, ist die Tatsache, dass ihm die bürgerliche Gesellschaft keine Möglichkeit, keine Hoffnung auf individuelle Emanzipation gibt. Ein Proletarier, der in den Status eines Handwerkers oder Kleinunternehmers zurückkehrt, kann kaum auf etwas anderes hoffen, als dass er von der Konkurrenz reicherer - und daher besser ausgestatteter – Unternehmer als er es selbst ist, ruiniert wird und in die Fabrik zurückkehren muss. Was die Möglichkeit betrifft, dass Arbeitende darum kämpfen, einen Teil ihres Arbeitsgeräts, ihrer Maschinen oder ihrer Fabrik individuell zu besitzen, so ist dies natürlich absurd und unvorstellbar! Diese haben daher letztendlich keine andere Wahl, als für Kollektiveigentum zu kämpfen oder, was auf dasselbe hinausläuft, für die Abschaffung des Privateigentums an Fabriken zu kämpfen. Das ist der riesige Unterschied zwischen der revolutionären Bourgeoisie des 18. Jahrhunderts und dem Proletariat: Die Bourgeoisie machte die Revolution, um ihre unter dem Absolutismus erworbenen Privilegien zu festigen und sich ungehindert weiterentwickeln zu können. Die Proletarier hingegen haben keine Privilegien zu festigen; sie haben, so Marx, in der kapitalistischen Gesellschaft „nichts zu schützen, da nichts ihnen gehört“, und können die Welt nur verändern, indem sie alle Ausbeutungsverhältnisse völlig abschaffen. Das ist es, was das Proletariat zur revolutionärsten Klasse macht, die die Menschheit je gekannt hat. Und die Einzige, die sich den Kapitalisten frontal entgegenstellt.

Seit den Anfängen der industriellen Revolution wurde das Proletariat in immer größeren Städten konzentriert, in denen es die gleichen Lebensbedingungen teilte. Hineingerissen in die Städte, inmitten einer immensen kulturellen und technischen Vermischung, mussten die Proletarier, nicht nur ihre Lebensweise, sondern auch ihre Denkweise ändern, nachdem sie, wie Marx immer wieder sagt, „dem Idiotismus des Landlebens entrissen“ wurden. Konfrontiert mit den Maschinen und dem Zwang, sich mit allen Entwicklungen des modernen Lebens auseinanderzusetzen, haben die Arbeiter/innen in den Städten tatsächlich eine neue Kategorie von Ausgebeuteten gebildet, die unendlich viel reaktionsfähiger und offener ist als die Bauernschaft. Was Édouard Schneider, einer der größten französischen Kapitalisten des 19. Jahrhunderts, selbst ausdrückte, indem er sagte: „Der Mann, der mit seinen Ochsen pflügt, denkt langsam. Der Mann, der mit Dampf arbeitet, denkt und handelt schnell.“ Dies erklärt übrigens auch, warum die Arbeiterklasse so schnell von revolutionären Ideen durchdrungen wurde, warum sie so schnell lernte, sich zu organisieren und zu kämpfen.

Es sind die Lebensbedingungen, die die Kapitalisten den Proletariern aufgezwungen haben. Es ist die totale Umwälzung ihrer Existenz, die die Voraussetzungen für diese Bewusstseinsbildung geschaffen haben. 1844 schrieben schlesische Eisenbahner darüber in einem Brief: „(Die Situation) hat für uns einen Vorteil: Wir kamen zu Tausenden hierher, wir lernten uns kennen, und unser gegenseitiger Umgang hat den meisten von uns den Geist geöffnet. Viele glauben nicht mehr an die alten Witze. Was wir zu Hause nicht leise zu denken wagten, sagen wir jetzt laut: Dass wir es sind, die die Reichen ernähren, und dass wir es nur wollen müssen, damit sie verhungern, wenn sie nicht arbeiten wollen.

 

Der Mehrwert

Wir sind es, die die Reichen ernähren“. Diese Idee, diese Intuition, die in diesem Brief so einfach ausgedrückt wurde, wurde später von Marx auf wissenschaftliche Weise erklärt. Einer der Hauptbeiträge von Marx bestand darin, zu verstehen, inwiefern das Proletariat in der kapitalistischen Gesellschaft die soziale Klasse ist, die den Reichtum der Gesellschaft produziert. Marx zerstörte die von der Bourgeoisie propagierte idyllische Vorstellung, wonach die Proletarier als Gegenleistung für ihre Arbeit eine gerechte Entschädigung in Form eines Lohns erhalten würden. Wenn der Lohn tatsächlich das Gleiche in Geld wäre, was die Arbeiter produzieren, wie würde die Bourgeoisie es dann schaffen, reich zu werden? In Wirklichkeit erhält der Arbeiter nur einen Teil des Wertes des von ihm produzierten Reichtums in Form von Lohn. Der andere Teil, den Marx als Mehrwert bezeichnet, wird vom Kapitalisten eingesteckt. Ein Teil dieses Mehrwerts wird dann in Form von Investitionen oder Steuern in die gesamte Gesellschaft fließen und auf breiterer Basis ermöglichen, das Funktionieren der ganzen Gesellschaft zu finanzieren.

Diese Entdeckung von Marx macht deutlich, dass das Proletariat die Klasse ist, auf der die gesamte kapitalistische Gesellschaft beruht, da sie den größten Teil des Reichtums schafft. Natürlich gab es zu allen Zeiten Handarbeiter und sogar Lohnempfänger - bis in die Antike -, aber der wesentliche Unterschied zur Neuzeit ist, dass nicht ihre Produktion die Grundlage des Systems darstellte. Das Proletariat, die Klasse, die von Millionen von Männern und Frauen gebildet wird, die nur ihre Arbeitskraft zum Leben haben, ist hingegen die Klasse, auf der das gesamte soziale Gefüge des Kapitalismus aufbaut.

 

Die Notwendigkeit der Partei

Marx erkannte zwar schon im Manifest, dass das Proletariat eine potenziell revolutionäre Klasse ist, aber er hat nie gedacht, dass es automatisch revolutionär werden würde. Dazu brauchte es Ideen, eine Theorie, eine Theorie, die sich die Arbeitenden aneignen könnten, um, wie Marx sagt, sie „zu einer Kraft zu machen“.

Dazu müssen aber diese Ideen existieren, sie müssen leben, und das geht nur durch Aktivisten aus Fleisch und Blut. Der Text, von dem wir hier sprechen, - erinnern wir uns - heißt „das Manifest der Kommunistischen Partei“. Schon damals war Marx zutiefst davon überzeugt, dass die Arbeiterklasse ein Bewusstsein braucht, um revolutionär zu werden, und dass dieses Bewusstsein nur durch eine Partei zum Ausdruck gebracht werden kann. Marx und Engels drückten dies im Manifest in einem Satz aus, der die Rolle der Partei sehr klar definiert: „Die Kommunisten kämpfen für die Erreichung der unmittelbar vorliegenden Zwecke und Interessen der Arbeiterklasse, aber sie vertreten in der gegenwärtigen Bewegung zugleich die Zukunft der Bewegung.“ Dieser Satz fasst alle kämpferischen Vorstellungen der Kommunisten zusammen: Bei Marx gibt es keinen Bruch zwischen dem Programm für heute und dem Programm für morgen, zwischen unmittelbaren Forderungen und den historischen Interessen des Proletariats. Das eine geht nicht ohne das andere: ein kommunistischer Kämpfer verteidigt jeden Tag die Idee, dass das Proletariat für den geringsten materiellen Vorteil, für die geringste Lohnerhöhung, für die geringste Verbesserung seiner Arbeitsbedingungen kämpfen muss. Gleichzeitig vertritt er aber auch die Auffassung, dass die Emanzipation des Proletariats nur durch die Enteignung der Kapitalisten erreicht werden kann und dass nur das Proletariat selbst die Kraft hat, das zu tun. Der Kampf um die alltäglichen Interessen nährt das Bewusstsein der historischen Interessen, weshalb ein Kommunist diese beiden Aspekte nicht trennen kann.

Seit dem Kommunistischen Manifest sind die Grundsätze des Kommunismus klar: Das Proletariat ist die einzige Klasse, die die Gesellschaft verändern und der Ausbeutung ein Ende setzen kann; dazu braucht es ein Klassenbewusstsein: Die Partei ist sowohl die Bedingung dafür als auch das Ergebnis dieses Klassenbewusstseins. Jahrzehntelang werden Aktivisten an der Aufgabe arbeiten, diese Idee in der Arbeiterklasse zu verankern. Jahrzehntelang werden die Tausenden von Rebellen, die aus der Arbeiterklasse hervorgehen werden, die Möglichkeit haben, diese Aktivisten zu treffen, um von ihnen beeinflusst zu werden.

 

... und die Revolution!

Es ist kein Zufall, dass das Manifest 1848 erschien und nicht 50 Jahre früher oder 50 Jahre später. Das Manifest drückte politisch Ideen aus, die in den Köpfen der Arbeitenden selbst entstanden. Denn 1848 war auch das Jahr einer Revolution, die ganz Europa in Brand setzte und einen tiefen Bruch zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat deutlich machte. Die Ereignisse, die sich in jenem Jahr, insbesondere in Frankreich abspielten, war die erste Episode einer Geschichte, die sich seither viele Male wiederholt hat und sich heute noch wiederholt: Um den König, Louis-Philippe, zu stürzen, brach im Februar 1848 ein Aufstand aus. Der Aufstand fand zunächst unter der Fahne der Klasseneinheit zwischen den Arbeitenden und einem Teil der Bourgeoisie und des Kleinbürgertums statt. Aber sobald der König in drei Tagen gestürzt und die Republik errichtet war, verlangten alle in der Revolution anwesenden Bourgeois und Kleinbürger, dass das Proletariat zurück an die Arbeit gehe und sich auf keinen Fall mehr in die Politik einmische - denn, wie der Dichter Lamartine, der neue Regierungschef, sagte, man habe „dem Volk dieses Wort zugeworfen, welches es blendet: die Republik“. Doch das „Volk“ ließ sich weder von dem Wort „Republik“ blenden noch von den Reden der Republikaner von der allgemeinen Brüderlichkeit unter allen Klassen einlullen: In den Monaten nach dem Februar 1848 forderten die Arbeiter/innen, dass die Republik auch in Brot und in Arbeit umgesetzt werden müsse. Da die aus dem Februar hervorgegangene Regierung nicht in der Lage war, die Frage des Arbeiterelends zu lösen, gingen die Arbeiter/innen im Juni erneut auf die Straße, diesmal allein. Das Proletariat erschien in einem Aufstand zum ersten Mal als Klasse mit ihren eigenen Interessen, die sich nur im Kampf gegen alle Tendenzen der Bourgeoisie emanzipieren konnte. Am 23. Juni 1848, als sich 7.000 Arbeiter/innen hinter den Barrikaden versammelt hatten und die Armee ihnen gegenüber bereit war, auf sie zu schießen, stieg der Republikaner Arago auf die Barrikade, um zu verhandeln und um den Arbeitenden zu erklären, dass alles nur ein Missverständnis gewesen sei und sie die Republik verteidigen müssten. Von der Barrikade aus ruft ein Arbeiter: „Herr Arago, Sie hatten noch nie Hunger“. Und die Schießerei begann.

Der Aufstand vom Juni 1848 wurde von der Bourgeoisie blutig niedergeschlagen. Die Kämpfe in Paris dauerten eine Woche und es gab 3.000 Tote. Allein das Ausmaß des Massakers zeigte, wie sehr auch die Bourgeoisie die Gefahr erkannt hatte, die diese neue soziale Klasse darstellte, die, wie Marx im Manifest geschrieben hatte, nichts zu verlieren hatte als ihre Ketten. Und während die Bourgeoisie die Arbeiterschaft in Paris erschießen ließ, zog sich im restlichen Europa die liberale Bourgeoisie, die sich eine Zeit lang ebenfalls auf die Arbeiterklasse stützen wollte, erschrocken zurück. Sie wollte sich lieber mit den bestehenden Regimes abfinden - auch wenn diese ihr nicht den vollen Platz einräumten, den sie beanspruchte - als sich auf jenes Proletariat zu stützen, das immer weniger bereit zu sein schien, sich mit der Rolle eines fügsamen Infanteristen zufrieden zu geben.

Aus den Ereignissen von 1848 wurde den fortschrittlichsten Revolutionären klar, dass die Bourgeoisie und das Proletariat grundsätzlich entgegengesetzte Interessen hatten und dass sich die Gesellschaft nicht durch die Vereinigung der Klassen, sondern durch den Klassenkampf ändern konnte. Und dass man nun dafür kämpfen musste, dass sich das Proletariat politisch in unabhängigen Parteien organisiert.

 

Der Aufbau von Arbeiterparteien

Das folgende halbe Jahrhundert war die Zeit des Aufbaus solcher Parteien. Während einer ganzen historischen Periode, die bis zur russischen Revolution andauern sollte, ging der zahlenmäßige Aufstieg des Proletariats zusammen mit der Entwicklung seiner Organisationen, mit dem Erscheinen von Tausenden und Abertausenden von Aktivist/innen, Arbeiter/innen oder Intellektuellen, die alle davon überzeugt waren, dass revolutionäre Ideen im Proletariat gesät werden mussten, um eine Chance zu haben, dass sie eines Tages aufkeimen würden.

 

Wettstreit der Ideen

Der Rückschlag, der durch die Niederlage der Revolution von 1848 ausgelöst wurde und eine neue Zeit wirtschaftlichen Wohlstands für den Kapitalismus, brachten zunächst einen vorübergehenden organisatorischen und ideellen Rückschlag mit sich: da die Revolution gescheitert war, war es da nicht logisch, dass man sich an andere Gesellschaftsschichten als das Proletariat richten müsste, auf andere Methoden als die Revolution bauen? Diese Jahre waren die Jahre eines heftigen Ideenkampfes zwischen revolutionären Aktivisten aller Tendenzen. Ein Ideenkampf, der die wenigen Marxisten einerseits den Anarchisten gegenüberstellte, die nicht an den Nutzen von Arbeiterparteien glaubten; den Proudhonianern, die es für notwendig hielten, das Handwerkertum gegen die Großindustrie wiederherzustellen und die gegen Streiks waren; den Bakuninisten, die wegen der Niederlage des Proletariats davon überzeugt waren, dass sie selbst an die Stelle der Aktion der Arbeitermassen treten und die Revolution durch Terroranschläge beschleunigen - oder sie sogar ersetzen - sollten. Eine gewisse Anzahl von Strömungen hoffte, dass die Revolution nicht von den Arbeiter/innen, sondern von den Bauern ausgehen würde, ohne zu verstehen, dass die zersplitterte, heterogene Bauernwelt, in der jedes Mitglied isoliert von den anderen lebte, niemals die Einheitlichkeit hervorbringen konnte, die die Konzentration dem Proletariat in den Städten gab. Und vor allem ohne zu verstehen, dass die armen Bauern, sofern sie nicht vom revolutionären Proletariat geführt werden, niemals andere Ziele haben könnten als den Besitz eines eigenen Stücks Land; mit anderen Worten, dass sie nur ein bürgerliches Programm umsetzen könnten, das nicht die Abschaffung des Eigentums zum Ziel hat, sondern es sogar stärkt.

Während der gesamten zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren es schließlich die wirtschaftliche Entwicklung selbst und die Kampfbereitschaft des Proletariats, die diese Debatten entschieden.

Die wirtschaftliche Entwicklung, denn diese Zeit war die Zeit der Explosion der Zahl des Industrieproletariats. Als Marx das Manifest schrieb, arbeitete nur eine Minderheit des Proletariats bereits in großen Fabriken, und ein beträchtlicher Teil der Arbeitenden waren noch Handwerker - Mechaniker, Tischler, Schriftsetzer, usw. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verschwanden diese Handwerker immer schneller zugunsten von Fabrikarbeitern. Der Kapitalismus entwickelte sich mit Gewalt, und es entstanden riesige Städte und riesige Fabriken. Die Arbeiter/innen entdeckten im Laufe der Jahre durch Streiks ihre kollektive Kraft. Um diese Kämpfe zu vereinigen - und die Unternehmer daran zu hindern, Streikbrecher im Ausland zu rekrutieren - wurde 1864 die Erste Internationale gegründet, die dem Aufruf, mit dem das Manifest abschloss, konkrete Realität gab: Proletarier aller Länder, vereinigt euch!

Am Beispiel des Lebens eines Aktivisten sehen wir, wie sowohl die Entwicklung des Proletariats als auch die Tätigkeit seiner Organisationen Kämpfer für die sozialistischen Ideen hervorbringen konnten, die ursprünglich weit entfernte Ideen vertraten. Das trifft z.B. auf Eugène Varlin zu. Er kam 1853 mit 14 Jahren vom Land nach Paris, um dort seine Buchbinderlehre zu machen. Er war genau der Typ eines jungen Proletariers, dessen Existenzbedingungen ihn zu anderen Überzeugungen als dem Sozialismus führten. Varlin lebte in der Gemeinschaft der Buchbinder: Er schloss sich daher zunächst den Ideen derjenigen an, die sich für die Wiederherstellung des Kleinhandwerks und die Rückkehr der patriarchalischen Beziehungen zwischen Herren und Arbeitern einsetzten, d.h. der Proudhonianer. Doch ein erster Streik im Jahr 1864 ließ ihn den Klassenkampf entdecken. Varlin war kein Kommunist, aber er war bereits ein Arbeiterkämpfer, der von einem seiner Genossen, wie folgt, beschrieben wird: „Sobald er sein Brot verdient hatte, indem er nachts arbeitete, rannte er von einem Ende der Großstadt zum anderen, um am Ausgang der Werkstatt, im Esslokal, in der Milchbude, diesen oder jenen Genossen, diese oder jene Gruppe zu erwischen. Er hörte ihnen zu, rüttelte sie wach, nahm sie mit und überzeugte die entschlossensten Rebellen, sich den Arbeiterverbänden anzuschließen.

1865 trat Varlin der Ersten Internationale bei, wo er marxistische Aktivisten traf. Er beteiligte sich an allen Streiks, und die Kampfbereitschaft des französischen Proletariats sowie seine harten Diskussionen mit den Genossen der Internationale brachten ihn dazu, sich von seinen früheren proudhonianischen Ideen zu distanzieren. Nach einem Jahr Gefängnis war er fest von der Notwendigkeit überzeugt, dass die kapitalistische Gesellschaft gestürzt werden musste und dass man nicht auf die Zusammenarbeit zwischen Kleinunternehmern und Arbeitenden rechnen konnte.

 

1871: Die Pariser Kommune

Einige Jahre später, im Jahre 1871, fand ein außergewöhnliches Ereignis statt, das ein Wendepunkt in der Geschichte der Arbeiterbewegung sein sollte: die Pariser Kommune. Während der Kommune übernahmen die Arbeiter/innen die Macht in der Hauptstadt und konnten spontan eine neue Staatsform finden, die direkt aus ihrer Klasse hervorging und von ihr kontrolliert wurde. Welch ein großer Weg war in wenigen Jahrzehnten zurückgelegt worden! Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte die Arbeiterklasse, die von Ausbeutung zerschmettert, zermalmt wurde, gesehen, wie eine Theorie entwickelt wurde, die ihr ermöglichte, die Gesellschaft und die Mechanismen der Ausbeutung zu verstehen, und sie hatte aus ihren Reihen Aktivisten hervorgebracht, die es wagten, der Bourgeoisie die Macht streitig zu machen. Und nun übte sie diese Macht sogar direkt aus, fegte in wenigen Tagen die politischen Trümmer der bürgerlichen Gesellschaft weg, erzwang die Trennung von Kirche und Staat, führte die allgemeine Schulpflicht für Kinder und die Absetzbarkeit der gewählten Volksvertreter ein, schaffte das stehende Heer ab!

Varlin - wie viele andere seinesgleichen - wurde von der Kommune endgültig überzeugt: Gerade die Wut, mit der die Bourgeoisie sie niederschlug, bewies, dass dieser Aufstand der richtige Weg war, da er die Bourgeoisie so sehr erschreckte. Am Tag vor seiner Verhaftung und Erschießung sagte Varlin, der ehemalige Propagandist für die Zusammenarbeit zwischen Bossen und Arbeitenden, zu einem Genossen: „Ja, wir werden lebendig abgeschlachtet werden. Und tot werden wir in den Dreck geschleppt. Aber die Geschichte wird schließlich verstehen.“ Von einem Priester erkannt und denunziert, wurde Varlin mit Gewehrkolben von den Soldaten der Bourgeoisie abgeschlachtet. Noch seiner Leiche stahlen sie seine Uhr, den einzigen Besitz, den er nach einem Leben als Kämpfer im Dienst der Arbeiterklasse besaß.

Die Kommune hat allen Varlins der Arbeiterbewegung bewiesen, dass die Arbeiterklasse nicht nur eine produzierende, sondern auch eine führende Klasse sein kann; dass Marx nicht irrte, als er in ihr unbegrenzte Fähigkeiten sah: Erfindungsgeist, Einsatzbereitschaft, Bruch mit der Vergangenheit und politischen Erfindungsreichtum.

Nachdem die 40.000 Toten der Kommune begraben waren, nachdem der schreckliche Schlag, den dieses Massaker angerichtet hatte, überwunden war, ging die Arbeiterbewegung mit neuer Kraft wieder nach vorn.

 

Von der Blütezeit der Sozialdemokratie bis zu deren Verrat

Entwicklung der Sozialdemokratie und des Proletariats

Wenige Jahre nach der Kommune, im Jahr 1889, wurde die Zweite Internationale gegründet, die sich in viel größerem Maßstab als die Erste entwickeln sollte - und diesmal mit einem eindeutig sozialistischen Programm. Von nun an sollte das Proletariat sowohl sozial als auch politisch immer mehr Gewicht in der Gesellschaft haben.

Sozial, weil der Kapitalismus die Großindustrie weiter entwickelte, während er gleichzeitig seine Verzweigungen auf den ganzen Planeten ausbreitete. Damals hatte die Bourgeoisie ihren Kampf gegen das Handwerk endgültig gewonnen. Nach dem Textil- und dann dem Eisenbahnzeitalter kam Ende des 19. Jahrhunderts das Automobilzeitalter. In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts handelte es sich um eine handwerkliche Tätigkeit, die aber in rasantem Tempo durch die industrielle Produktion abgelöst wurde: ein Beispiel dafür ist ein kleiner Hersteller, der 1898 in Boulogne-Billancourt, in der Nähe von Paris, sechs Mechaniker beschäftigte, die jeweils ein Auto pro Halbjahr bauten. Vier Jahre später beschäftigte das Haus Renault 500 Mitarbeiter und produzierte 500 Autos. Bis 1935 sollten es bereits 33.000 sein.

Der Kapitalismus eroberte Osteuropa, indem er Fabriken von Polen bis zum Balkan und dann um die Jahrhundertwende im riesigen, kaum aus dem Feudalismus hervorgegangenen Russland errichtete. Gleichzeitig zwang die Bourgeoisie, durch die Kolonisierung, vor allem in Afrika und in Asien, Millionen von Bauern und Handwerkern, zu Eisenbahnbauern, Bergleuten, Kulis, Hafenarbeitern und Landarbeitern auf Kakao- oder Kautschukplantagen zu werden. Die meisten Arbeitenden waren keine - noch keine – Fabrikarbeiter/innen, wie wir sie heute in diesen Ländern finden, da der Großteil der Industrie damals in den Metropolen konzentriert war; aber sie waren bereits Proletarier.

Die Arbeiterklasse baute damals gewaltige Organisationen auf und erschien viel deutlicher als Mitte des 19. Jahrhunderts als die Klasse der Zukunft: Sie war es, die alle großen Kämpfe der damaligen Gesellschaft führte, die die Gesellschaft buchstäblich vorantrieb. Die Arbeiterbewegung vertrat damals vor allen anderen, die fortschrittlichsten Ideen - die Verkürzung des Arbeitstages, den Kampf gegen religiöse und antisemitische Vorurteile, den Kampf für die Rechte der Frauen, für Volksbildung, für die internationale Vereinigung der Arbeiter, gegen den Krieg. Die Kämpfer jener Zeit waren sich bewusst, dass die Entwicklung des Kapitalismus dem Proletariat täglich neue Bataillone zuführte, und verwandten unerschöpfliche Energie darauf, sie zu gewinnen und zu erziehen. Sie gingen in die entlegensten Provinzen, um Arbeiter zu treffen und sie zu organisieren, von den Arbeiterbauern in Nordschweden bis zu den Holzfällern im Wilden Westen der USA, manchmal wurden sie mit Steinen empfangen, manchmal auch gelyncht, aber meistens gewannen sie neue Aktivisten.

 

Die reformistische Illusion

Kämpferisch und besser organisiert als je zuvor errang die Arbeiterbewegung zwischen 1880 und 1914 wichtige Siege, rang den Unternehmern höhere Löhne und bessere Lebensbedingungen ab, ließ Arbeiter in die politischen heiligen Stätten der Bourgeoisie, die Parlamente, eindringen; sie ließ über der gesamten bürgerlichen Gesellschaft permanente Angst vor Revolutionen schweben und zwang die Bourgeoisie zu Kompromissen; sie ging so weit, dass sie schließlich Illusionen schuf. Je mehr Hochburgen gestürzt wurden, je mehr Zugeständnisse von der Bourgeoisie erzwungen wurden, umso mehr glaubten viele Aktivisten schließlich, dass die Revolution vielleicht gar nicht notwendig sei, um die Gesellschaft zu verändern. Dass es vielleicht möglich wäre, durch den täglichen Kampf, eine nach der anderen, alle Hochburgen der Bourgeoisie zu zerstören. Gerade aus den Erfolgen der Arbeiterbewegung heraus und innerhalb der Arbeiterbewegung selbst, entstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts die reformistische Illusion, d.h. die Idee, dass es möglich sei, die Welt zu verändern, ohne die Revolution zu machen. Und was als einfache Abweichung einiger Sozialisten begann, die zu viel Vertrauen auf die friedliche Zukunft der Bewegung hatten, verwandelte sich schließlich in nur wenigen Jahren zu einem Wundbrand, der die gesamte Führung der sozialistischen Bewegung infizieren sollte. Diese Änderung des Kurses fiel in eine Zeit, in der die imperialistisch gewordene Bourgeoisie dank ihrer Kolonien so reich wurde, dass sie den Arbeitenden in den imperialistischen Metropolen Zugeständnisse machen und das Los einer Arbeiteraristokratie ein wenig verbessern konnte. Ein Jahrhundert zuvor, als die Kinder in den Fabriken buchstäblich mit Peitschenhieben bezahlt wurden, hätte sich die Idee des Reformismus nicht entwickeln können. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als die Arbeiterklasse in den reichen Ländern keine Hungersnot mehr erlebte und die Arbeiter etwas anständiger wohnen konnten, fanden diese Illusionen einen Nährboden, auf dem sie keimen konnten.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten sich die großen sozialistischen Parteien so stark entwickelt, dass sie schließlich eine ganze Reihe von Abgeordneten, bezahlten Funktionären, Anwälten und Journalisten hervorbrachten, die sich der Arbeiterbewegung nicht mehr deshalb angeschlossen hatten, weil sie revolutionär war, sondern weil sie eine Form der sozialen Stabilität für sie selbst darstellte. Zwischen dem sozialistischen Arbeiteraktivisten der 1880er Jahre und einigen sozialistischen Abgeordneten am Vorabend des Ersten Weltkriegs lagen Welten. Ein Historiker schreibt über die früheren Aktivisten: „(Es waren) Menschen, die selten mehr und oft weniger als das Nötigste zum Leben hatten, die den ganzen Tag von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang arbeiteten, denen jede Stunde, die sie der Agitation und Propaganda widmeten, eine Stunde Schlaf raubte, der nicht ausreichte, die ständig von den zentralen oder lokalen Behörden mit Gefängnis und Zwangsarbeit, Arbeitslosigkeit oder disziplinarischer Abschiebung in die Kolonien bedroht wurden.“ Der sozialistische Abgeordnete, Anwalt, oder Journalist war vielleicht zu einem Prominenten geworden, einem Mann, der von der Partei und nicht für die Partei lebte, und der bald bereit sein würde, seine Ideen und seine Klasse zu opfern, um seinen Platz an der Sonne zu behalten. Als der Kapitalismus 1914 die Welt in den Krieg stürzte, entschieden sich die meisten Führer der internationalen sozialistischen Bewegung dafür, ihren kleinen Platz zu behalten, weigerten sich, der Bourgeoisie zu widerstehen, und halfen ihr stattdessen, die Proletarier ins Gemetzel zu schicken. Und nach diesem ersten Verrat sollten die Sozialisten den Kelch bis zur Neige trinken: schon bald traten sie als Minister in die bürgerlichen Regierungen ein, und sie sollten -vor allem in Deutschland – selbst die Verantwortung dafür übernehmen, die Revolutionen, die aus dem Krieg hervorgehen sollten, niederzuschlagen.

Dieser Verrat hätte die Entwicklung der revolutionären Arbeiterbewegung stoppen können: Die Arbeiter waren von ihresgleichen verraten worden - nicht ihr natürlicher Feind, ihr Klassenfeind, hatte ihnen einen Schlag gegeben, sondern genau diejenigen, die sie eigentlich verteidigen und vertreten sollten. Und wenn damals keine kleine Arbeitergruppe beschlossen hätte, die Fahne des Internationalismus hochzuhalten; wenn damals keine kleine revolutionäre Partei in Russland existiert hätte, dann wären wir vielleicht nicht einmal heute Abend hier, um darüber zu diskutieren.

 

Die Russische Revolution von 1917

Glücklicherweise war das nicht der Fall: Denn als das Grauen des Krieges die Kampfbereitschaft der Arbeiter/innen neu entfachte, waren in Russland revolutionäre Aktivisten da, die den Arbeiter/innen eine Perspektive gaben und sie zur Machtergreifung führten. Um in der Praxis zu beweisen, was bisher nie der Fall gewesen war: Dass, wenn ein entschlossenes und bewaffnetes Proletariat von einer echten revolutionären Partei geführt wird, dann, wie es Blanqui geschrieben hatte, „verschwindet alles, Hindernisse, Widerstände, Unmöglichkeiten.

War die Pariser Kommune ein Donnerschlag, dann war die russische Oktoberrevolution 1917 ein Zyklon: Diesmal ging es nicht um die Größenordnung einer Stadt, sondern um ein Gebiet, das ein Sechstel der Landoberfläche der Erde darstellte. Hier übernahm das Proletariat bewusst die Macht - und zwar in einem Land, in dem es eine extrem kleine Minderheit darstellte, da über 90% der russischen Bevölkerung Bauern waren. Die russische Revolution war der konkrete Beweis dafür, dass ein bewusstes und organisiertes Proletariat, auch wenn es in der Minderheit ist, in der Lage ist, alle anderen unterdrückten Schichten der Gesellschaft, einschließlich des Kleinbürgertums und der Bauernschaft, hinter sich mitzuziehen.

Die Russische Revolution war der Höhepunkt des 1848 begonnenen Aufstiegs der Arbeiterbewegung. Sie bestärkte die Idee, dass das Proletariat die revolutionäre Klasse der Zukunft ist. Die russische Revolution war mit nichts vergleichbar, was vorher geschehen war, und mit nichts, was danach geschah, zumindest bis jetzt. Denn diese Revolution begnügte sich nicht damit, einen Tyrannen zu stürzen, sie stürzte auch die bürgerlichen Republikaner, die den Tyrannen abgelöst hatten, was im Juni 1848 nicht gelungen war. Sie setzte die bewaffneten Arbeiter/innen an die Spitze eines Landes und begann, unter deren Führung die Gesellschaft völlig neu zu gestalten, auf einer anderen Grundlage als dem Privateigentum an den Produktionsmitteln.

Vom ersten Tag an setzte sie sich zum Ziel, die Arbeiter/innen der ganzen Welt für sich zu gewinnen, eine Weltrevolution vorzubereiten, und den Kapitalismus aus jedem Winkel des Planeten zu vertreiben.

Sie schuf eine neue Internationale, eine echte revolutionäre Weltpartei. Ihre Führer haben den Zusammenbruch der Sozialdemokratie analysiert und schlugen neue Wege ein, um revolutionäre Parteien aufzubauen, wodurch den Arbeiter/innen weltweit Hoffnung und Perspektiven gegeben wurden.

Und allein die Reaktion der Bourgeoisie auf diese Revolution zeigt, wie sehr sie sich von allen anderen unterschied: Niemals zuvor in der Geschichte hat die Bourgeoisie so viel Energie, Hass und Wut in ihre Versuche gesteckt, eine Revolution niederzuschlagen. Der Grund, warum sich alle kriegführenden Staaten im Krieg von 1914-18 plötzlich versöhnt haben, um zu versuchen, die russische Revolution niederzumetzeln, war genau der, dass sie eine proletarische Revolution war. Dass diese Revolution den ersten Staat in der Geschichte geschaffen hatte, der von Arbeiter/innen geführt wurde, und dass die Bourgeoisie wusste, dass ihre eigene Rettung nur in der Zerstörung dieses Staates bestand.

Wie wir heute wissen, ist der Bourgeoisie diese Aufgabe teilweise gelungen. Der Krieg gegen den jungen Sowjetstaat, seine fast vollständige Zerstörung, die totale Isolierung, in welche der Kapitalismus die russische Revolution führte - mit Kanonenfeuer gegen alle Völker, die sich nach 1917 erhoben - all das stürzte den jungen Arbeiterstaat in absolutes Elend. Und dieses Elend bildete den Nährboden für die Entstehung einer herrschenden Kaste, die schließlich die Macht gegen die Arbeiterklasse ausübte: die von Stalin geführte Bürokratie.

Wir werden heute Abend weder über das Aufkommen dieser Bürokratie noch über die Prozesse, die sie möglich gemacht haben, diskutieren. Wir können sagen, dass die große internationale Offensive, die das Proletariat zwischen 1917 und 1920 geführt hat, gescheitert ist. In Dutzenden von Ländern zog die Arbeiterklasse in den Kampf und führte echte Revolutionen an, vor allem in Deutschland, Finnland und Ungarn. Und noch nie war die Menschheit so nahe an einer weltweiten Arbeiterrevolution gewesen. Doch in keinem Land außer in Russland fand das Proletariat eine Partei, die es bei dieser Offensive führen konnte, eine Partei, die vergleichbar mit der bolschewistischen Partei war, weshalb die Ausweitung der Revolution außerhalb Russlands scheiterte. Nach dieser historischen Niederlage des Proletariats konnte die Bourgeoisie wieder in die Offensive gehen - und für die Folgen dieser Offensive zahlen wir heute noch.

 

Der Stalinismus, der Feind der Arbeiterbewegung

Von dem Moment an, als der Stalinismus der Arbeiterbewegung seine Zwangsjacke anlegte, änderte sich die politische Situation des Proletariats radikal.

Nicht, dass das Proletariat aufgehört hätte, sich international zu entwickeln, nicht, dass sein Gewicht in der Gesellschaft nicht mehr gewachsen wäre - ganz im Gegenteil. Was sich jedoch geändert hat, ist, dass die Parteien, die sich zur Arbeiterklasse bekannten, seit dieser Zeit nach und nach aufgehört haben, für ihre Emanzipation zu kämpfen. Seit dem Kommunistischen Manifest hatte sich die Idee entwickelt, dass eine revolutionäre Partei nicht nur tief in der Arbeiterklasse verwurzelt sein müsse, sondern dass ihre Interessen nicht von denen des gesamten Proletariats abweichen dürften. Die reformistische Entartung der Sozialdemokratie und das Aufkommen des Stalinismus, brachten Parteien hervor, die zwar aufgrund ihrer sozialen Zusammensetzung Arbeiterparteien waren, nun aber andere Interessen als die des Proletariats verfolgten; schlimmer noch, die bereit waren, das Proletariat zu benutzen, um den Interessen anderer sozialer Schichten oder Klassen zu dienen.

Was auch immer ihre Irrtümer, ihre Fehler, ihre Versuche waren, die Aktivisten des 19. Jahrhunderts waren Kämpfer der Arbeiterklasse - nicht unbedingt aufgrund ihrer sozialen Herkunft, sondern wegen ihrer Ziele. Selbst die ersten Reformisten zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren meistens ehrliche Aktivisten, die von der Entwicklung der Arbeiterbewegung und des Kapitalismus selbst in die Irre geführt worden waren und sich davon überzeugen ließen, dass es vielleicht friedliche Wege zum Sozialismus geben könnte.

Ganz anderer Natur waren die Führer der Sozialdemokratie ab 1914 und des Stalinismus ab den späten 1920er Jahren. Die Sozialdemokratie war bei der Kriegserklärung mit Waffen und Gepäck in das Lager der Bourgeoisie übergegangen; ihre Führer hätten nach 1917 noch die Möglichkeit gehabt, sich dem Lager der russischen Revolution anzuschließen. Diejenigen, die das nicht taten - wie Léon Blum in Frankreich – hatten sich tatsächlich dafür entschieden, im Lager der Bourgeoisie zu bleiben und wurden sehr schnell zu treuen Dienern der bürgerlichen Ordnung, die Streiks niederschlugen, Kolonialkriege führten und die revolutionäre Arbeiterbewegung bekämpften, wenn nötig mit Waffengewalt.

 

Eine konterrevolutionäre Strömung

Der Stalinismus spielte schließlich eine noch viel schädlichere Rolle, da er seinen Verrat hinter der Fassade einer revolutionären Tradition verbarg, als deren direkter Erbe er sich ausgab.

Seit den 1930er Jahren trafen alle Aktivisten, die aus den Reihen des Proletariats hervorgingen, nur noch auf Stalinisten, die sie gewannen, schulten und zum Kampf führten. D.h. auf Aktivisten, die hinter der roten Fahne und Hammer und Sichel und der bedingungslosen Verteidigung der Sowjetunion in Wirklichkeit Stalin, seine Politik und seine Bürokratenkaste verteidigten. Die Sowjetbürokratie wusste ganz genau, dass sie nur deshalb an der Macht war, weil die Weltrevolution gescheitert war, dass sie nur auf der Demoralisierung und Demobilisierung des russischen Proletariats gediehen war. Aber was würde passieren, wenn der Fokus der Weltrevolution anderswo neu aufkommen würde? Würde dies dem sowjetischen Proletariat nicht den kleinen Funken geben, der ausreichen würde, um die Flamme neu zu entfachen und es dazu bringen, Stalin und seine Clique wegzufegen? Genau diese Angst trieb Stalin dazu, jede Gefahr einer Wiederaufnahme der revolutionären Bewegung in der Welt zu bekämpfen. Nach und nach ersetzten die Stalinisten die revolutionären Ideen der Kommunistischen Internationale durch ganz andere Ideen. Sie brachten ihren Aktivisten bei Unehrlichkeit, Lügen und Gewalt anzuwenden, um die Massen von entscheidenden Kämpfen abzuhalten. Und um sicher zu sein, dass die Kämpfer, die aus dem Proletariat hervorgehen könnten, keine Chance hätten, mit anderen Ideen als ihren eigenen in Kontakt zu kommen, haben sie jahrzehntelang keine revolutionäre Opposition zu ihrer Linken geduldet – und setzten dafür Einschüchterung, Schläge und bald auch Mord ein. In Frankreich, den USA und Italien wurden trotzkistische Aktivisten systematisch verprügelt. In Spanien und später in Vietnam wurden sie ermordet. Und in der Sowjetunion selbst wurde eine ganze Generation von Revolutionären, diejenigen, die die Revolution miterlebt hatten, gnadenlos massakriert.

 

Revolutionäre Situationen, die vom Stalinismus verraten wurden

Zwischen den 1930er Jahren und heute haben sich zahlreiche explosive, ja geradezu revolutionäre Situationen ergeben. In jeder dieser Situationen hätte die Arbeiterklasse eine Partei gebraucht, die die Rolle spielte, die die bolschewistische Partei 1917 in Russland gespielt hatte: die Situation täglich als Revolutionäre zu analysieren, die Arbeiter vor den bürgerlichen Parteien zu warnen, sie zu lehren, all jenen zu misstrauen, die behaupteten, an ihrer Stelle zu handeln, sie zu ermutigen, zu den Waffen zu greifen oder, falls sie schon welche hatten, sie auf keinen Fall abzugeben, sie auf den Gedanken vorzubereiten, dass sie selbst, durch ihre eigenen Führungsorgane, die Macht übernehmen müssten, und den Weg zur Machtergreifung klar aufzuzeigen. Stattdessen hatten die Arbeiter/innen als „revolutionäre“ Parteien, nur stalinistische kommunistische Parteien, die ihre Kämpfe sabotierten, die sie jeder unabhängigen politischen Perspektive beraubten, kurz gesagt, die die Revolutionen mit aller Kraft bremsten.

Schon während der chinesischen Revolution von 1925 kettete die Kommunistische Internationale die junge Kommunistische Partei Chinas an die bürgerlichen Nationalisten; 1933 weigerten sich die Stalinisten, den Kampf gegen den Nationalsozialismus zu führen, verharmlosten die tödliche Gefahr, die Hitler darstellte, und erklärten den Arbeitenden, dass es besser sei, gegen die Sozialisten als gegen die Faschisten zu kämpfen; in Spanien drängten sie 1936 einerseits die bewaffneten Arbeiter/innen dazu, sich in einer Volksfront zusammenzuschließen, die die bürgerliche Republik verteidigen sollte, während sie andererseits revolutionäre Kämpfer folterten und ermordeten. Zur gleichen Zeit, auf der anderen Seite der Pyrenäen in Frankreich, erklärte der stalinistische Führer Maurice Thorez den Arbeitern mitten im Generalstreik, dass es notwendig sei, „einen Streik beenden zu können“, und rettete die Haut der Bourgeoisie, indem er die kämpfenden Arbeiter dazu aufrief, Léon Blum zu vertrauen, der sich selbst als „loyaler Verwalter des Kapitalismus“ bezeichnete. Während dieser Zeit metzelten die stalinistischen Schurken einige tausend Kilometer weiter östlich in den sowjetischen Konzentrationslagern tausende von trotzkistischen Aktivisten mit Maschinengewehren nieder.

In wenigen Jahren hat der Stalinismus all das zunichte gemacht, was hundert Jahre lang geduldig von der Arbeiterbewegung aufgebaut worden war: den proletarischen Internationalismus ersetzte er durch Chauvinismus, ließ wieder die Marseillaise singen und die Trikolore bei Arbeiterdemonstrationen schwenken. Die absolute organisatorische Unabhängigkeit des Proletariats, die zentrale Idee des gesamten kämpferischen Lebens von Marx, Engels und Lenin, ersetzte er durch eine bedauernswerte Gefolgschaft, indem, er den Karren der Arbeiterklasse mal an die Nationalisten, mal an die Sozialdemokraten spannte. Die Grundidee, dass die Emanzipation des Proletariats nur durch den revolutionären Kampf erreicht werden kann, ersetzte er durch den Parlamentarismus, bis er den Arbeitern nichts anderes mehr anzubieten hatte, als bei den Wahlen „gut zu wählen“, d.h. für sie zu stimmen, wenn sie da sind, und für die Sozialisten, wenn sie nicht da sind.

Nachdem sie jeden revolutionären Widerstand gegen den Zweiten Weltkrieg unmöglich gemacht hatten, schürten die Stalinisten den Mythos von einem gerechten Krieg, der der Krieg der Demokratie gegen den Faschismus gewesen wäre. Dabei unterließen sie es bewusst, daran zu erinnern, dass das Lager der „Demokratie“ aus imperialistischen Ländern bestand, die Millionen von Arbeiter/innen und Hunderte Millionen von Kolonialsklaven unter ihrem Joch hielten.

Sobald der Krieg vorbei war, setzten die Stalinisten all ihre Kräfte dafür ein, die kriegsgeschädigten Volkswirtschaften in der richtigen kapitalistischen Ordnung wiederherzustellen. Während Stalin brüderlich mit Churchill und Roosevelt über die Teilung der Welt diskutierte, traten die stalinistischen Führer überall in Regierungen der nationalen Einheit ein, und ihr Ziel bestand nicht darin, die Arbeiter/innen dazu zu bringen, das System umzustürzen, das gerade 100 Millionen Menschen getötet hatte, sondern im Gegenteil sie darauf einzuschwören, zu produzieren, zu schweigen, nicht zu fordern und nicht zu streiken.

 

Antikoloniale Revolutionen: eine verpasste Chance

Nach dem Zweiten Weltkrieg erschütterte eine neue Welle der Instabilität den Kapitalismus. Die imperialistischen Länder wurden davon relativ wenig getroffen, zum Teil dank der hilfsbereiten Stalinisten und ihrer Politik der Klassenzusammenarbeit. Aber auch deshalb, da die imperialistischen Mächte beschlossen hatten, als präventive Maßnahme die Arbeiterstädte in Deutschland unter Bomben zu zermalmen, bevor sie dem Terror gegen die Völker das letzte Wort gaben, indem sie zwei Atombomben auf japanische Städte abwarfen.

Es waren die Kolonialreiche, die von dieser neuen revolutionären Welle mitgerissen wurden. Diese Länder - vor allem China, Vietnam und später auch die Länder des Nahen Ostens und Nordafrikas - waren noch überwiegend ländlich geprägt. Aber der Kapitalismus hatte dort immerhin eine Arbeiterklasse entwickelt, die zwar wenig Gemeinsamkeiten mit der Arbeiterklasse, die in Frankreich oder England existierte, hatte, die dafür aber vergleichbar war mit der Arbeiterklasse in Russland vor 1917.

Die Führer dieser antikolonialen Revolutionen, allen voran Mao Tse-tung und Ho Chi Minh, waren in der stalinistischen Schule ausgebildet worden. Diese hatte sie zu Nationalisten gemacht, d. h. zu Aktivisten, deren Ziel nur noch darin bestand, für die Befreiung ihrer Länder zu kämpfen - mit anderen Worten: für die Entwicklung einer nationalen, vom Imperialismus unabhängigen Bourgeoisie. Und das ist nicht das kleinste Verbrechen des Stalinismus: Mao, Ho Chi Minh und ihre Kampfgefährten waren ursprünglich echte Aktivisten, echte, mutige und engagierte Revolutionäre. Um sie herum gab es Tausende von „Varlin“, die aus dem Proletariat hervorgegangen waren. Doch anstatt in Kontakt mit einem Marx zu kommen, kreuzten sie den Weg von Stalin und seinen Handlangern, die sie deformierten und zurück in den Schoß ihrer eigenen Bourgeoisie schickten.

Damals war der Einfluss der kommunistischen Ideen noch so groß, dass ein nationalistischer Führer, der die Massen mitreißen wollte, sich immer als Kommunist ausgeben musste. Er musste die Fahne des Kommunismus den Namen verwenden, auch wenn seine Politik den marxistischen Ideen den Rücken kehrte und sie in den Dreck zog. Alle diese Menschen gründeten auf die eine oder andere Weise „Nationale Befreiungsfronten“: ein Name, der genau das ausdrückt, was sie - zumindest dem Anschein nach - waren: Organisationen der nationalen Einheit, der Klassenzusammenarbeit, das Gegenteil von unabhängigen Organisationen des Proletariats.

Diese Führer weigerten sich bewusst, sich auf die Arbeiterklasse zu stützen, nicht einmal als bloßer Fußsoldat ihrer Revolution: Sie hatten viel zu viel Angst davor, dass eine mobilisierte, bewaffnete und siegreiche Arbeiterklasse nicht bei der Entkolonialisierung halt machen, sondern auch die nationale Bourgeoisie dieser Länder angreifen würde. Sie hatten bei den Besten gelernt! Stalin, der eine ferne bolschewistische Vergangenheit hatte, wusste genau, wozu die Arbeiterklasse fähig ist, wenn sie in den Kampf zieht. Und so kam es, dass ein Jahrhundert nach dem Manifest, das die Frage eindeutig beantwortet hatte, diese Führer, die sich zwar weiterhin auf Marx‘ Vermächtnis beriefen, zu theoretisieren begannen, dass die neue revolutionäre Klasse die Bauernschaft sei. Oh, sie lagen nicht ganz falsch! Tatsächlich haben sich die armen Bauern in diesen Ländern wie Revolutionäre verhalten, mit all dem Mut und dem Heroismus, den das voraussetzt. Aber es gibt einen Unterschied zwischen Revolutionär und Kommunist. Sich auf die Bauernschaft zu stützen lieferte den nationalistischen Führern in der Dritten Welt die Massen, die sie brauchten, um gegen den Imperialismus zu kämpfen, aber gerade, weil es Massen waren, bei denen keine Gefahr bestand, dass sie das bürgerliche Eigentum in Frage stellen würden. 1917 hatte die bolschewistische Partei die russische Arbeiterklasse dazu gebracht, selbst die Macht zu ergreifen; 32 Jahre später, 1949, übernahm Maos sogenannte Kommunistische Partei im Namen der Einheit aller Klassen die Macht in China. Ihr erster Erlass war „den Arbeitern zu befehlen, hinter ihren Maschinen zu bleiben

Während der gesamten 1950er und 1960er Jahre erschütterten gewaltige Kämpfe die kapitalistische Welt. Von China bis Vietnam, von Kuba bis Ägypten, von Indonesien bis Palästina entstanden überall neue Kampforganisationen, mit oder ohne kommunistisches Etikett, aber nie unter der Fahne des Proletariats. Diese standen der Idee, dass das Proletariat sich unabhängig organisieren könnte und sollte, immer absolut feindlich gegenüber. Diese Organisationen zogen Zehntausende junge Revolutionäre an, die oft aus den Arbeitervierteln der Städte kamen, und rissen sie aus den Städten, um sie in den Maquis[1], ins Bled[2], in die Sierra, in den Dschungel zu schicken, überall, vorausgesetzt, es war weit weg von den Städten, weit weg vom Proletariat, so dass dieses Proletariat sie weder beeinflussen noch sie von ihm beeinflusst werden konnten. Generationen junger Proletarier, die bereit waren, ihr Leben für die Revolution zu geben, wurden auf diese Weise in die Irre geführt.

 

Der Verrat der Intellektuellen

Und wie hätte es anders sein können? Wie hätten diese jungen Proletarier, deren Bewusstsein gerade erst erwachte, ahnen können, dass ihre Anführer nicht wirklich Kommunisten waren? Ach, vielleicht hätten sie Hilfe von der Intelligenz, von marxistischen Intellektuellen bekommen können, die die Kluft zwischen dem Stalinismus in seinen verschiedenen nationalistischen Varianten und dem Marxismus hätten messen und erklären können? Aber nein. Denn damals schloss sich die überwältigende Mehrheit der Intellektuellen diesem Verrat an und ging sogar so weit zu theoretisieren, dass die Ideen eines Mao oder Castro die Ideen von Marx und Lenin ersetzen könnten.

Und auch wenn es nicht sehr erfreulich ist, dies festzustellen, viele trotzkistische Strömungen, die vom Ausmaß dieser Aufstände in der Dritten Welt begeistert waren, die sich aber aus Opportunismus nicht von den nationalistischen Organisationen abgrenzen konnten, endeten schließlich ebenfalls damit, dass sie ihnen bolschewistische Tugenden erfanden oder sich sogar in ihnen auflösten.

Es fällt im Nachhinein auf, wie sehr sich die Intelligenz an die verschiedenen Phasen, die ich gerade beschrieben habe, anpasste: Im 19. Jahrhundert wurden die Intellektuellen von der aufsteigenden Welle der Arbeiterbewegung getragen, aus der einerseits Marx, Rosa Luxemburg, Lenin und Trotzki hervorgingen, und was andererseits sogar dazu geführt hat, dass Intellektuelle aus der Welt der Kunst und der Literatur wie Anatole France und Maxim Gorki angezogen wurden.

Und dann, später, haben die Intellektuellen, ohne zu zögern, den Niedergang der Arbeiterbewegung mitgemacht. Sogar Künstler wie Aragon, Picasso oder Eluard, der 1950 unter anderem diese unvergänglichen Verse schrieb: „Und Stalin ist für uns für morgen da, und Stalin vertreibt heute das Unglück. Vertrauen ist die Frucht seines liebenden Gehirns.“ Als das Vertrauen in Stalins liebendes Gehirn nach 1956 etwas schwand, wandten sich die Intellektuellen Mao und Che Guevara zu und verkündeten, dass jene Sammlung von Dummheiten, die sie die „Mao-Bibel“ nannten, das neue Kommunistische Manifest sei. In Frankreich sah man Serge July, der vom Platz vor der Sorbonne-Uni, im Kern von Paris, aus, dazu aufrief, rote Stützpunkte der Bauernguerilla in der Corrèze – eine entlegene Region in Zentralfrankreich - zu errichten. Jean-Paul Sartre, der einige Jahre nach den Millionen Toten der „Kulturrevolution“ in China in sein Tagebuch schrieb: „Mao hat im Gegensatz zu Stalin keinen Fehler begangen.“ Die Arbeitenden zu belügen, d.h. sie zu verachten, ist das einzige, wozu die Elite der Linksintellektuellen in den reichen Ländern in den letzten Jahrzehnten fähig war.

Jahrzehntelang wurde die Gesellschaft mit einer regelrechten Dampfwalze überrollt, um die Kämpfe des Proletariats erst niederzuschlagen, sie dann zu verhindern und immer wieder zu behaupten, dass das Proletariat keine politische Rolle mehr spielen würde. Diese Walze erreichte schließlich ihr Ziel – das heißt, aus dem Bewusstsein des Proletariats zu entfernen, was die frühe Arbeiterbewegung dort eingepflanzt hatte: Ende der 1970er Jahre war das Proletariat wiederum nicht mehr in der Lage, sich selbst als etwas anderes zu betrachten als eine Kraft, die die Kämpfe anderer sozialer Schichten unterstützen sollte. Paradoxerweise mag der Wiederaufschwung von Arbeiterkämpfen in den 1980er Jahren ein Symptom für diesen Bewusstseinsverlust gewesen sein. Als sich beispielsweise 1980 in Polen politische Kräfte entwickelten, die der Machtübernahme durch die Sowjetunion im Land feindlich gegenüberstanden, scheuten sie nicht davor zurück, sich auf einen mächtigen Generalstreik zu stützen. Da die polnische Arbeiterklasse sich nicht mehr der Notwendigkeit ihrer politischen Unabhängigkeit bewusst war, und sie nicht riskierte, für sich selbst zu kämpfen, wurde sie zu einer wirksamen Hilfskraft für die katholische und reaktionäre Gewerkschaft Solidarnosc.

Sechzig Jahre Rückschritte und Verrat an der Arbeiterbewegung hatten das Bewusstsein des Proletariats vernichtet.

 

Das Proletariat heute

Und was ist mit heute?

Die Tatsache, dass die Arbeiterklasse auf politischer Ebene kein Gewicht mehr hat, ermöglicht es allen Verteidigern des Kapitalismus, ihr Verschwinden zu verkünden, nicht nur politisch, sondern - so absurd das auch sein mag - sogar sozial. Wie oft hören wir jeden Tag, dass „die Arbeiterklasse nicht mehr existiert“, dass wir in das Zeitalter der „Dienstleistungsgesellschaft“, in die postindustrielle Zeit eingetreten sind? Es stellt sich also die Frage, was das Proletariat in der heutigen Gesellschaft darstellt.

Das Proletariat - die Mehrheitsklasse auf dem Planeten

Die Antwort ist einfach: Als soziale Kraft ist das Proletariat heute weltweit unendlich mächtiger und weiter entwickelt als je zuvor - und das nicht mehr nur in den reichen Ländern.

Die allgemeine Tendenz des Kapitalismus war in der Tat, wie Marx vorausgesehen hatte, dass die anderen Klassen als das Proletariat in einen unaufhaltsamen Niedergang getrieben wurden. Handwerker, Händler, Kleinunternehmer und Selbstständige sind zwar nicht verschwunden, aber sie bilden heute nur noch eine kleine Minderheit der Welt der Arbeitenden, da sie nicht in der Lage sind, sich gegen die Konkurrenz der Großindustrie zu behaupten. Um nur das Beispiel Frankreichs zu nennen: die Selbständigen stellten 1856 mehr als einen von zwei Erwerbstätigen dar, so ist dies heute weniger als einer von zehn. Letztendlich hat der Kapitalismus weit mehr Kleinbesitzer enteignet, als es irgendeine kommunistische Revolution jemals tun wird!

Was die Frage des Bauernstands betrifft, so ist sie in den reichen Ländern längst geklärt: In Frankreich bilden die Landwirte nur noch 3 Prozent der Erwerbsbevölkerung, in den USA 1,4 Prozent.

In der Dritten Welt gibt es zwar immer noch eine riesige Gruppe armer Bauern - 1,3 Milliarden Menschen auf der ganzen Welt arbeiten nur mit bloßer Muskelkraft. Dennoch ist der Anteil der Bauern an der Weltbevölkerung im Laufe der Jahrzehnte unaufhaltsam weiter zurückgegangen. Und das Phänomen beschleunigt sich: Der Anteil der Stadtbewohner an der Weltbevölkerung, der 1950 noch knapp 30 Prozent betrug, überstieg im Jahr 2007 die 50 Prozent.

In allen Ländern mit einer bedeutenden industriellen Entwicklung, ist diese Landflucht massiver als anderswo: In Brasilien sank der Anteil der Bauern an der arbeitenden Bevölkerung zwischen 1985 und 2009 von 29% auf 19%. In China von 60 auf 44 Prozent.

Natürlich bedeutet dieser Trend zur Urbanisierung nicht automatisch eine Zunahme des Industrieproletariats. Denn in den riesigen Metropolen, den gigantischen Slums in Mexiko, Indien und Afrika leben mehr prekäre Arbeiter/innen, die zu tausend Kleinjobs gezwungen sind, Arbeitslose und manchmal sogar hungernde Bettler, als Industriearbeiter/innen. Und niemand kann vorhersagen, auf welche Seite dieses Subproletariat sich bei künftigen Aufständen stellen wird. Sicher ist jedoch, dass die allgemeine Tendenz der kapitalistischen Entwicklung zu einem absoluten Rückgang der Zahl der Bauern weltweit führt.

Das Proletariat - d. h. die Gesamtheit aller Lohnarbeitenden -, ist wohl im Begriff, absolut gesehen die zahlreichste Klasse auf dem Planeten zu werden.

Laut einer Studie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zählte das Proletariat 2005 etwa zwei Milliarden Menschen: die ILO zählte damals 600 Millionen Industriearbeiter/innen, 450 Millionen Landarbeiter/innen und ungefähr eine Milliarde Dienstleistungsarbeiter/innen.

Da die allgemein anerkannten Zahlen auf eine im erwerbsfähigen Alter aktive Weltbevölkerung von etwa drei Milliarden Menschen hindeuten, stellt das Proletariat also zwei Drittel davon dar - oder die Hälfte, wenn man nur das städtische Proletariat zählt. Was –das geben wir zu- nicht so schlecht ist für eine Klasse, die angeblich ausgestorben ist.

Die meisten Kritiker des Marxismus stützen sich jedoch darauf, dass die Mehrheit der Arbeitenden tatsächlich im Dienstleistungssektor beschäftigt ist und dass das Industrieproletariat tendenziell schrumpfen würde. Selbst wenn diese Behauptung wahr wäre, würde sie eigentlich nicht viel beweisen. Es ist jedoch eine eklatante Unwahrheit.

In einem kürzlich erschienenen Bericht der Vereinten Nationen heißt es: „Es wird oft behauptet, dass die industrielle Aktivität zurückgeht und dass Dienstleistungen nun die Produktion dominieren.“ Die Autoren des Berichts relativieren diese Schlussfolgerung mit einigem gesunden Menschenverstand, indem sie darauf hinweisen: „während Dienstleistungen zwar eine immer wichtigere Rolle spielen, bleibt die Industrie als Quelle aller materiellen Güter nach wie vor das Schlüsselelement der Wirtschaft “. Und nebenbei zeigt der Bericht, dass nur die reichen Länder wirklich von dem Aufstieg der Dienstleistungswirtschaft betroffen sind. Die Länder der Dritten Welt erleben im Gegensatz dazu einen deutlichen Anstieg der industriellen Aktivität. In diesen Ländern, in denen es noch vor dreißig Jahren sozusagen nur ein winziges Industrieproletariat gab, haben sich die Dinge verändert, und manchmal sogar sehr.

 

Die Arbeiterklasse in den Ländern der Dritten Welt

Einige Zahlen: In den letzten dreißig Jahren hat sich laut ILO (internationaler Arbeitsorganisation) die Zahl der Industriearbeiter/innen auf den Philippinen verdoppelt und stieg von 2,6 auf 5 Millionen; ebenso in Mexiko von 6,5 auf 11,2 Millionen; in Indonesien hat sie sich von 6,7 auf 19,2 Millionen verdreifacht.

Und natürlich ist es China, das - wenn auch nicht in Prozent, so doch in der absoluten Zahl der Arbeiter/innen - die spektakulärste Entwicklung aufweist: Während die Industrie in China 1960 20 Millionen Arbeiter/innen beschäftigte, waren es 1980 bereits 77 Millionen, was schon nicht wenig war, so sollten es heute rund 210 Millionen sein! Das sind doppelt so viele wie in allen reichen Ländern zusammen.

 Seit den 1970er Jahren ist die Industrie in den armen Ländern regelrecht explodiert. Das Proletariat dieser Länder, das in der internationalen Arbeitsteilung früher nur die Rolle von Trägern oder Landarbeiter/innen spielte, hat die Fabriken kennengelernt.

Das gemeinsame Merkmal dieser Fabriken in der Dritten Welt besteht darin, dass sie meist dem Sektor des Konsums angehören, insbesondere der Textil- oder Elektronikindustrie, und dass sie extrem schlecht mechanisiert sind. Warum sollten die Unternehmer in hochentwickelte Maschinen investieren, wenn man bedenkt, wie billig die Arbeitskraft dort ist? Zahlreiche Artikel und Untersuchungen haben in letzter Zeit über das Leben in den Computerfabriken Chinas oder in den Textilfabriken Bangladeschs oder Ägyptens ausführlich berichtet. Alle diese Zeugnisse zeigen Arbeits- und Lebensbedingungen, die denen der Arbeiter/innen aus der Zeit der industriellen Revolution kaum nachstehen ... Und dazu noch die Schande, dass wir uns nicht mehr im Jahr 1820 befinden, sondern im Zeitalter der Weltraumeroberung und der Gentechnik.

 

Von den Freihandelszonen bis zu den riesigen Fabriken Asiens

 Zu diesen Straffabriken in armen Ländern gehören zum Beispiel alle, die sich in Freihandelszonen befinden, jenen kleinen Paradiesen für moderne Kapitalisten, in denen das Gesetz nicht gilt, das Arbeitsrecht nicht existiert und die Bosse keine Steuern zahlen. Heute gibt es 850 davon, die über Asien, Südamerika und Nordafrika verstreut sind und 30 Millionen Arbeiter/innen beschäftigen. So berühmte Marken wie Gap, Zara, Nike und Pierre Cardin beuten dort in aller Ruhe Arbeiter und vor allem Arbeiterinnen aus. Die globalisierungskritische Journalistin Naomi Klein schreibt über diese Freihandelszonen: „Egal, wo sie sich befinden, die Aussagen der Arbeiter dort haben eine faszinierende Ähnlichkeit: Der Arbeitstag ist lang - 14 Stunden in Sri Lanka, 12 Stunden in Indonesien, 16 in Südchina, 12 auf den Philippinen. Die überwiegende Mehrheit der Arbeiter sind Frauen, die immer jung sind und immer für Agenturen oder Subunternehmer arbeiten. Angst ist in den Zonen allgegenwärtig“.

Angst, nur am Arbeitsplatz: Diese Orte sind derartige gesetzlose Gebiete, dass die Kriminalität dort ins Unermessliche steigt, vor allem gegen Frauen. Ein Beispiel dafür ist die entsetzliche Geschichte der Freihandelszone Ciudad Juarez in Mexiko, wo in den letzten 15 Jahren zwischen 2.000 und 2.500 Arbeiterinnen entführt, vergewaltigt und ermordet wurden. Und das völlig ungestraft, denn die mexikanische Regierung kümmert sich so wenig wie die Kapitalisten, die dort das große Geld verdienen, um das Schicksal einiger tausend 18- oder 20-jährigen berufstätigen Arbeiterinnen. Wen wundert es, dass Frauen dort von allen als wertlos betrachtet werden, wenn man weiß, wie ein entsetzter Journalist berichtete, dass in manchen Fabriken die Frauen unter Androhung von Entlassung jeden Monat gezwungen werden, ihrem Vorarbeiter zu beweisen, dass sie nicht schwanger sind!

An diesen Orten sind die Mörder vielleicht ein paar arme Spinner aus der Gegend, aber die wahren Verantwortlichen sind diejenigen, die ein solches materielles und moralisches Elend möglich machen, und sie sitzen in ihren teuren Anzügen in den Vorständen der größten Konzerne der Welt.

Eines der größten Industriegebiete der Welt stand in den letzten Monaten im Mittelpunkt, da es Schauplatz einer Reihe von Streiks war. Es ist die Stadt Shenzhen in China. 1976 hatte diese Stadt 30.000 Einwohner. Heute sind es 16 Millionen. Hier finden wir die Fabriken der Foxconn-Gruppe mit ihren 200.000 Arbeiter/innen. Foxconn ist ein taiwanesischer Zulieferer für alle IT-Giganten und stellt unter anderem das I-Phone, das iPad und die Box des französischen Netzanbieters SFR her. Bei Foxconn in Shenzhen geht es um verbotene Gewerkschaften, miserable Löhne, Arbeitstage von 12 bis 14 Stunden, oft sechs Tage die Woche, und einen kleinen Skandal, der ausbrach, als dort im letzten Jahr 18 Arbeiter/innen Selbstmord begingen. Selbstmorde, die Steve Jobs, der Chef von Apple, überhaupt nicht verstand, Sie wissen schon, dieser Milliardär, der so „cool“ ist und nie eine Krawatte trägt: Nachdem er die Fabriken von Foxconn besucht hatte, erklärte er, dass es doch „ein eher netter Ort“ sei! Seien wir fair: Nach diesen Ereignissen zwang Apple Foxconn, Maßnahmen gegen die Selbstmorde seiner Arbeiter/innen zu ergreifen. Gesagt, getan: Foxconn ließ in seinen Fabriken Sicherheitsnetze installieren, damit die Arbeiter/innen nicht mehr durch den Sprung aus dem Fenster sterben könnten.

Nicht weit davon entfernt werden auch Brother-Drucker an einem „ziemlich netten“ Ort produziert. Ein Interview mit der 16-jährigen Chinesin Li ist aufschlussreich: „Mein Leben ist die Fabrik“, sagt sie. Sie und ihre 5.000 Kolleg/innen arbeiten 12 bis 14 Stunden am Tag, sechs Tage die Woche, stehen vor riesigen Montagelinien und dürfen nicht sprechen. Li isst dreimal am Tag in der Fabrik und schläft 355 Nächte im Jahr in den fabrikeigenen Schlafsälen, in Zimmern für zehn Personen. Das Ganze für 50 Euro im Monat.

So sind die Lebensbedingungen der Proletarier/innen in der Dritten Welt. Und außerdem ist China nicht das Land, in dem die Arbeiter/innen am schlechtesten bezahlt werden: Die jüngsten Streiks in Shenzhen drängen eine bestimmte Anzahl von westlichen Kapitalisten, ihre Produktion in Länder mit noch niedrigeren Kosten wie Vietnam oder Bangladesch zu verlagern...

 

Die Verantwortung des Imperialismus

Übrigens ist es einer der schockierendsten Aspekte der Propaganda der Bourgeoisie hier in Europa, Länder wie China als expansionistische Nationen darzustellen, die um jeden Preis versuchen, mittelalterliche Arbeitsbedingungen durchzusetzen, um Arbeitsplätze von europäischen oder amerikanischen Arbeiter/innen zu stehlen. Die Hauptverantwortlichen für diese Politik sind die Kapitalisten in den reichen Ländern, die vielleicht so tun, als würden sie nicht sehen können, was in diesen Fabriken passiert, aber in Wirklichkeit genau Bescheid wissen, weil sie es sind, die es durchsetzen! Ein Beispiel dafür? D gibt es eine Strategie, die eindeutig von der Disney-Gruppe theoretisiert wurde, die von den führenden Denkern der Strategie als „cut and run“ bezeichnet wird, was man mit „Kapp die Brücken und hau ab!“ übersetzen könnte. Der Disney-Konzern (Sie wissen schon, Mickey, Minnie, Pluto...) lässt seine Merchandising-Produkte in Fabriken in Bangladesch herstellen, wo der - selten eingehaltene - Mindestlohn bei 25 Dollar pro Monat liegt. Eine humanitäre Organisation berichtet: „Acht Jahre lang haben die Arbeiterinnen der Fabrik in Shah Makhum unter schrecklichen Bedingungen gearbeitet: von 8 Uhr morgens bis 22 Uhr abends oder sogar Mitternacht, sieben Tage die Woche, in einem durch körperliche Schikanen erzwungenen Schweigen, ohne einen einzigen Urlaubstag noch das Recht auf Mutterschaftsurlaub.“ Doch 2001 rebellierten die Arbeiterinnen und fordern, dass diese unmenschlichen Bedingungen aufhören - sie verlangten eigentlich nur einen Ruhetag pro Woche, Mutterschaftsurlaub und gesetzeskonforme Löhne. Und plötzlich stellte der Auftraggeber, Disney, alle Aufträge ein und verschwand. Das ist „cut and run“: Sobald die Arbeiter/innen Forderungen stellen, sobald die Gefahr besteht, dass eine Gewerkschaft gegründet wird, bleiben die Aufträge aus und die Fabrik kann nur noch schließen.

Eine weitere Aussage eines vietnamesischen Arbeiters sagt viel darüber aus, dass es tatsächlich die kapitalistischen Konzerne in den imperialistischen Ländern sind, die Löhne und Arbeitsbedingungen nach unten drücken. Was er sagt stammt von einer Sammlung von Aussagen von Arbeiter/innen  in der Industriezone von Thang Long in der Nähe von Hanoi. Von den 50.000 Arbeiter/innen in diesem Gebiet arbeiten 11.000 bei Canon, dessen japanischer Direktor Shinji Onishi begeistert ausruft: „Das ist der beste Ort der Welt, um billig zu produzieren!“ Ein Canon-Arbeiter namens Hien erzählt: „Ausländische Fabriken sind für eine kurze Zeit gut, während man jung und stark ist. Weil man den ganzen Tag auf den Beinen ist, leidet man schnell an schlechter Durchblutung, viele haben gesundheitliche Probleme. Wir können nie aufhören, unsere Hände werden müde. Zum Glück können wir nach dreißig Jahren in vietnamesische Fabriken gehen, wo das Tempo nicht so hoch ist.

In den letzten zwei Jahren haben die Arbeiter/innen in China, Bangladesch, Vietnam und vielen anderen Ländern wie Ägypten ihre längst vergessenen Traditionen des Kampfes wieder aufgenommen. In Shenzhen haben die Arbeiter/innen von Foxconn und Honda Lohnerhöhungen von 20 Prozent durchgesetzt; in Bangladesch musste der Mindestlohn nach regelrechten Aufständen in den Vierteln der Textilarbeiter/innen erhöht werden.

Dieses gigantische Proletariat der Dritten Welt lernt sehr schnell wieder zu kämpfen. Allein seine Existenz stärkt das Lager des Proletariats, unser Lager, auf gewaltige Weise. Deshalb müssen wir mit aller Kraft gegen die Vorurteile der Arbeiter/innen hier kämpfen, die in ihnen Gegner und Konkurrenten sehen und nicht das, was sie sind: die Unseren, unsere Brüder und Schwestern im Kampf, von denen wir in den kommenden Jahren wohl noch viel zu lernen haben werden, wenn es um Kampfbereitschaft geht.

 

Das Proletariat der reichen Länder

Es ist natürlich so, dass Soziologen, Ökonomen und Kommentatoren wenn sie von den imperialistischen Metropolen sprechen, nicht oft genug das angebliche „Verschwinden des Proletariats“ betonen können. Natürlich geht es uns nicht darum, die relative Desindustrialisierung, noch die Standortverlagerungen noch die bedeutende Zunahme des Dienstleistungsanteils in diesen Ländern zu leugnen. Aber bedeutet es, dass das Proletariat dort verschwunden ist oder dass es keine enorme soziale Kraft mehr darstellen würde? Natürlich nicht.

 

Die industrielle Arbeiterklasse

Erstens ist der Rückgang der Zahl der Industriearbeiter/innen in den reichen Ländern nicht so enorm, wie man uns glauben machen will: Zwischen 1980 und 2009 lag er je nach Land zwischen 5 und 18 Prozent. Letztere Zahl bezieht sich auf die USA, wo es immer noch 24 Millionen Fabrikarbeiter/innen gibt. In Frankreich ging die Zahl der Industriearbeitsplätze im selben Zeitraum um 5%, von 6,1 auf 5,7 Millionen, zurück.

Außerdem sind diese Zahlen, besonders die Zahl der Beschäftigten in der Industrie mit Vorsicht zu genießen. Statistiken tragen erheblich dazu bei, dass die tatsächliche Zahl der Beschäftigten in diesem Sektor unterschätzt wird - und die Unternehmer selbst haben dazu beigetragen, indem sie sehr viele Aufgaben, die früher intern erledigt wurden, ausgelagert haben. In der Vergangenheit wurden beispielsweise Wartungs-, Kontroll-, Reinigungs- und Logistikaufgaben usw. von Werksmitarbeiter/innen ausgeführt, die somit zu den Fabrikarbeiter/innen zählten. Da diese Aufgaben heute von Subfirmen verrichtet werden, sind die Beschäftigten dieser Subunternehmen, die nicht den Arbeitsplatz, sondern nur die Arbeitskleidung gewechselt haben, zu Servicemitarbeiter/innen geworden! Natürlich ist es unmöglich zu wissen, wie viele Industriearbeiter/innen auf diese Weise aus der Statistik fallen, aber man kann wahrscheinlich einem Sprecher des Unternehmerverbands der Metallindustrie Großbritanniens trauen, der vor einigen Jahren in der Financial Times erklärte: „Die verarbeitende Industrie schafft einen großen Teil der Dienstleistungsindustrie, indem sie ihre Aktivitäten auslagert. (...) Die Industrie könnte bis zu 35 Prozent der Wirtschaft - statt der allgemein akzeptierten 20 Prozent - darstellen, wenn sie mit geeigneten statistischen Definitionen gemessen wäre.

Natürlich beschränkt sich das Proletariat nicht auf Industriearbeiter/innen. Es ist jedoch absurd und lügenhaft zu behaupten, das Proletariat wäre verschwunden oder im Begriff zu verschwinden. Natürlich gibt es eine Reihe von Industriezweigen, die in einem Land wie Frankreich verschwunden sind: die Eisen- und Stahlindustrie oder die Textilindustrie zum Beispiel. Und es ist nicht ausgeschlossen, dass morgen noch mehr verschwinden werden. Natürlich gibt es große kapitalistische Konzerne, die ihre Managementmethoden völlig neu organisiert haben, um sich nicht mehr mit Arbeiter/innen zu belasten, wie Alcatel, dessen Vorstandschef Serge Tchuruk damit prahlte, „einen Konzern ohne Fabriken“ aufbauen zu wollen. Beinahe wäre es ihm gelungen, aber ganz einfach deshalb, weil das, was die ehemaligen Alcatel-Arbeiter/innen nicht mehr produzieren, von anderen, von Subunternehmern, produziert wird.

Die Ausbeutung in Frankreich, Großbritannien, Japan oder den USA ist für Millionen und Abermillionen von Fabrikarbeiter/innen sehr konkret. Einerseits gibt es die großen Fabriken, die großen Chemie- und Automobilkonzerne, in denen ein erschöpfendes Arbeitstempo herrscht. Aber diese Fabriken, so hart sie auch sein mögen, sind nicht einmal die schlimmsten, weil es dort immer noch ein Mindestmaß an Organisation gibt, und Gewerkschaftsaktivisten, die es noch schaffen, die Habgier der Unternehmer etwas zu bremsen. Ein ganzer Teil des industriellen Gefüges dieses Landes - das macht mindestens die Hälfte der Arbeiter/innen aus - besteht aus kleinen Fabriken, industriellen Schlachthöfen, in denen es üblich ist, ein Auge zu verlieren, industrielle Tischlereien, wo Käseschachteln hergestellt werden und wo kein einziger Arbeiter alle Finger hat, Fabriken, in denen Arbeiter/innen um 3 Uhr morgens bei 4 Grad Celsius Salat in Tüten einpacken... Für einen großen Teil des Proletariats in diesem Land gibt es keine Gewerkschaften, und für ihre Bosse ist das Arbeitsgesetzbuch nichts anderes als ein Gegenstand, mit dem ein Tisch verkeilt werden kann.

Die Arbeiter in Frankreich altern schneller, sie sterben früher und sind häufiger krank. Ihre Kinder haben eine schlechtere Gesundheit als die Kinder von Führungskräften – ganz zu schweigen von denen der Reichen - und die überwältigende Mehrheit von ihnen wird kein Hochschulstudium absolvieren.

Vielleicht sehen die Journalisten der bürgerlichen Presse sie nie - aber man muss nur früh morgens mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fahren, um ihnen zu begegnen: den Arbeiter/innen, die schon erschöpft zur Arbeit gehen, den pakistanischen Einwanderern, die am frühen Morgen von einer Nacht zurückkehren, in der sie Flugzeuge in Roissy geputzt haben, den afrikanischen Frauen, die im Morgengrauen losziehen, um Büros zu putzen. Ach ja, manche sehen sie nicht, sie sehen sie nie! Weil es ihnen gerade passt. Das erinnert an einen Vers des französischen Dichters Jacques Prévert, in dem er von „denen“ sprach, „die in den Kellern die Stifte herstellen, mit denen andere im Freien schreiben werden, dass alles bestens läuft“.

 

Angestellte als integraler Teil des Proletariats

Der so oft gesungene Refrain, wonach die Beschäftigten im Dienstleistungssektor nicht zum Proletariat zählen würden, ist zum Schmunzeln.

Zu glauben, dass nur Fabrikarbeiter Proletarier sind, ist bestenfalls beim Überfliegen der Lektüre von Marx herauskommen – er hat nie so etwas gesagt. Schlimmstenfalls ist es eine Art, ihm karikaturartige Ideen zu unterstellen, um sie auf billige Weise zu widerlegen. Denn seine Gegner lassen Marx sagen, dass nur ein Bruchteil der Lohnarbeiter/innen - die Fabrikarbeiter/innen - potenziell revolutionär wären. Die Folge ist leicht vorstellbar: Da dieser Teil der Lohnabhängigen tendenziell abnimmt, wären die Marxisten in gewisser Weise von der Geschichte überholt.

 Dieses Argument verzerrt zunächst einmal die soziale Realität, da - wie wir gesehen haben - der Anteil der Arbeiter/innen weltweit ständig zunimmt.

Es verzerrt aber auch die Ideen von Marx, und zwar in doppelter Hinsicht.

Zwar unterscheidet Marx im „Kapital“ die Arbeiter, die er als „produktiv“, d. h. die, die Mehrwert produzieren, und diejenigen, die er als „unproduktiv“ bezeichnet, d. h. diejenigen, die keinen Mehrwert produzieren. Aber er hat nirgendwo geschrieben, dass diese Unterscheidung irgendeinen Einfluss auf ihre Kampfbereitschaft, ihr politisches Gewicht, ihren revolutionären Charakter hätte.

 Zweitens hat Marx auch nie gesagt, dass „produktive“ Arbeiter notwendigerweise Industriearbeiter sind. Er schrieb ausdrücklich, dass jeder warenproduzierende Lohnabhängige ein „produktiver“ Arbeiter sei, unabhängig davon, ob die hergestellte Ware materiell ist oder nicht. Er erklärt, dass der Produktionsprozess die Zusammenarbeit zahlreicher Hand- und Kopfarbeiter voraussetzt, wobei „Hand- und Kopfarbeit durch unlösbare Bande verbunden (sind).“ Wenn man Arbeiter braucht, um ein Auto herzustellen, dann braucht man zweifellos auch Ingenieure und Zeichner. Für Marx sind die Waren nicht das Produkt einer Reihe von einzelnen Arbeitern, sondern von dem, was er „einen Gesamtarbeiter“ nennt. „Produktive“ Arbeiter sind also all jene, die „ein Organ des Gesamtarbeiters“ sind - der Ausdruck stammt von Marx. Und er fährt fort: „Nur der Arbeiter ist produktiv (…), der zur Selbstverwertung des Kapitals dient“. Dazu gehört zum Beispiel eine Krankenschwester in einer Privatklinik, ein Lehrer in einer Privatschule. Das heißt, in Unternehmen, in denen ein Kapitalist sein Kapital investiert hat, um Profit zu machen. Es ist nicht die Natur seiner Produktion, die einen Arbeiter dazu bringt, Mehrwert zu produzieren, sondern sein Verhältnis zum Kapital. Und Marx schreibt, dass ein Schulmeister an einer Privatschule „ein produktiver Arbeiter ist, wenn er nicht nur Kinderköpfe bearbeitet, sondern sich selbst abarbeitet zur Bereicherung des Unternehmers abarbeitet. Dass letzterer sein Kapital in einer Lehrfabrik angelegt hat, statt in einer Wurstfabrik, ändert nichts an dem Verhältnis“.

 

Eine einzige Arbeiterklasse in der Welt

Die Idee, die wir mit aller Kraft verteidigen müssen, ist, dass es in Wirklichkeit nur ein einziges Proletariat gibt, eine einzige Klasse mit gemeinsamen Interessen, auf der ganzen Welt. Eine Klasse mit gemeinsamen Interessen, in der jedes Mitglied sogar in vielerlei Hinsicht von allen anderen abhängig ist. Die kapitalistische Gesellschaft hat eine Welt geschaffen, die heute nichts anderes als eine riesige Kette menschlicher Arbeit ist, deren Anfang und Ende unmöglich zu unterscheiden sind. Wer kann schon sagen, wie viele Arbeiter/innen daran beteiligt sind, etwas so Einfaches wie die Eisenbeine des Stuhls, auf dem Sie sitzen zu machen? Damit meine ich nicht nur die Fabrikarbeiter/innen, die diese Teile hergestellt haben. Aber noch bevor die Eisenstücke unter die Pressen kommen, gibt es den Rest: diejenigen, die die Fabrik gebaut haben, diejenigen, die die Materialien hergestellt haben, die zum Bau der Fabrik verwendet wurden, diejenigen, die die Maschinen gebaut haben. Und damit die Rohmaterialien selbst in die Fabrik ankamen, wurden Bergleute gebraucht, die das Eisen förderten, Hafenarbeiter, die es auf Schiffe luden, Seeleute, die sie bedienten. Und wenn sie am Hafen ankommen, brauchen Sie noch Kranführer, ganz zu schweigen von den Arbeitern, die das Schiff und die Kräne gebaut haben, von den Ölarbeitern, die das Heizöl und das Benzin raffiniert haben, mit dem all diese Menschen transportiert werden, und so weiter und so fort! Und bevor das Eisen in die Fabrik kommt, braucht man LKW-Fahrer, und damit es LKW-Fahrer gibt, braucht man Arbeiter, die LKWs und Reifen und Straßen bauen, und davor Arbeiter, die den Asphalt herstellen. Und ich spreche nicht von all den Arbeitern, die für all diese anderen Arbeiter was zu essen, zu trinken und anzuziehen herstellen. Von den Krankenschwestern und Krankenpflegern, die sie pflegen, damit sie wieder arbeiten können, von den Lehrer/innen, die ihnen das Lesen beibringen, von den Buchhaltern und Sekretärinnen... Und damit das alles funktioniert, braucht man ein Kommunikationsnetz, Handys, Computer, und all das ist immer menschliche Arbeit.

Dann ist es sicher nicht übertrieben zu sagen, dass so gesehen in Ihrem einfachen Stuhl, das Ergebnis der Arbeit von Millionen von Arbeiter/innen steckt. Indem sie die Arbeit teilte, hat die Bourgeoisie schließlich die Welt vereint! Etwas, was Marx wiederum schon zu seiner Zeit perfekt verstanden hatte: „Die große Industrie begründet die Weltgeschichte, indem sie jede Nation, jedes Individuum von der ganzen Welt abhängig macht.

Zu behaupten, das Proletariat sei verschwunden, heißt also, das alles zu vergessen, oder so zu tun, als würde man es vergessen. Oder es einfach ignorieren, weil es in kleinbürgerlichen Kreisen viele Menschen gibt, die es überhaupt nicht interessiert, wer ihren Stift hergestellt hat. Die Bourgeoisie hingegen ignoriert es nicht, weil sie weiß, wo ihr Reichtum entsteht. In vielerlei Hinsicht sind es jedoch nicht die Bourgeois selbst, die die Meinung prägen, die sie beeinflussen, es sind Intellektuelle - Journalisten, Ökonomen, Soziologen … Die meisten dieser intellektuellen Kleinbürger wissen nicht einmal, dass es das Proletariat überhaupt gibt - was ihnen ermöglicht, gelehrte Artikel zu schreiben, in denen sie aufrichtig erklären, dass es nicht mehr existiert. Diese Menschen gehen jeden Tag an afrikanischen Arbeiter/innen vorbei, die mit Presslufthämmern den Asphalt durchbohren, sie steigen in Züge, die von Männern und Frauen aus Fleisch und Blut gefahren und gereinigt werden - aber sie sehen sie nicht. Daher konnten die Arbeiter/innen für viele Intellektuelle zu einer wahrhaft unsichtbaren Klasse werden. Vielleicht liegt es daran, dass diese Intellektuellen keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen? Vielleicht, weil sie lieber mit dem Velib (Bike Sharing-System in Paris) fahren? Erinnern wir sie in diesem Fall daran, dass die Velib-Leihfahrräder zum Beispiel nicht nur in einer Fabrik in Ungarn von Arbeiter/innen hergestellt werden, die 400 Euro im Monat bezahlt bekommen, sondern auch, dass sie jeden Morgen ein Fahrrad am Terminal finden, das direkt vor ihrem Haus unten steht, weil es eine kleine Armee von Hunderten Arbeitenden gibt, die die ganze Nacht damit verbringt, die Fahrräder zu reparieren und die Stationen wieder aufzufüllen!

 

Zum Schluss

Das Proletariat ist zwar für diejenigen unsichtbar, die von ihren Klassenvorurteilen geblendet sind, aber es ist wirklich eine soziale Klasse, die für das Funktionieren der Gesellschaft immer unentbehrlicher wird, immer zahlreicher wird und weltweit immer mehr vorhanden ist. Doch seit vielen Jahren fehlt es ihm dringend an politischen Parteien, die in der Lage wären, es zu vereinen, ihm ein Bewusstsein zurückzugeben und die elementare Arbeit wieder auszuführen, die die Aktivisten im 19. Jahrhundert geleistet haben.

Seit Marx wissen Revolutionäre, dass drei Bedingungen notwendig sind, damit eine Revolution eine neue Gesellschaft gebären kann: die Entwicklung der Produktivkräfte, das Gewicht des Proletariats in der Gesellschaft und das, was Marx als „subjektive Bedingungen“ nannte, d. h. den Bewusstseinszustand des Proletariats. Bereits kurz vor dem Zweiten Weltkrieg schrieb Trotzki: „(Das Proletariat) muss seine Stellung in der Gesellschaft verstehen und eigene Organisationen besitzen, die auf den Sturz der kapitalistischen Ordnung abzielen. Das ist die Bedingung, die gegenwärtig aus historischer Sicht fehlt“. Diese Bemerkung, die schon 1938 absolut richtig war, gilt heute noch mehr. Denn obwohl sich die Produktivkräfte weiterentwickelt haben, wenn auch nur langsam, obwohl das Gewicht des Proletariats in der kapitalistischen Gesellschaft ständig zugenommen hat, ist gleichzeitig das Bewusstsein des Proletariats nicht vorangekommen, sondern tief zurückgegangen, und zwar aus all den Gründen, die wir erläutert haben. Und als Folge dieses Rückgangs haben sich die reaktionärsten Ideen, die schlimmsten Vorurteile, in der Arbeiterklasse verbreitet – hier Korporatismus, Patriotismus, Rassismus, anderswo Ethnizismus oder religiöser Fundamentalismus.

Aber die Geschichte der Arbeiterklasse, ihrer Niederlagen und ihrer Siege, hat uns gelehrt, dass sich die Dinge sehr schnell ändern können. Sie hat uns gezeigt, welche Schätze an Hingabe, Fantasie, Kampfbereitschaft und Solidarität in der Arbeiterklasse auftauchen können, wenn sie wieder zu Bewusstsein kommt. Die russischen Proletarier vor 1917 waren Patrioten, oft Analphabeten und oft Antisemiten. Und das hinderte sie nicht daran, sich in wenigen Monaten in die revolutionärste Arbeiterklasse der Welt zu verwandeln.

Man kann nur feststellen, dass das Bewusstsein der Arbeiter/innen zurückgeht. Angesichts dieser Situation wäre es das Schlimmste, unsere Ideen unter dem Vorwand aufzugeben, dass die Arbeiter/innen sie nicht wieder aufgreifen. Man muss sagen, dass, wenn sie sie nicht wieder aufgreifen, die Schuld in erster Linie bei den Generationen von Intellektuellen liegt, die die kommunistischen Ideen verzerrt und entstellt haben und das Proletariat so entwaffnet haben. Und der Verrat dieser Intellektuellen wird von den Arbeitenden bezahlt, durch die Aufrechterhaltung eines Systems, das sie unterdrückt und zermalmt! Es ist also immer noch das Mindeste, dass die kleine Strömung, die wir repräsentieren, versucht, diese Ideen am Leben zu erhalten und sie intakt an diejenigen weiterzugeben, die morgen bereit sein werden, den Kampf wieder aufzunehmen.

Was Milliarden von isolierten Individuen in eine aktive soziale Klasse verwandeln kann, ist Bewusstsein. Und das Bewusstsein geht über Parteien. Heute wie gestern ist es die Existenz revolutionärer kommunistischer Parteien, die das Proletariat zusammenhalten und es zu einer echten sozialen Klasse machen wird, die ein gemeinsames Verständnis der Ereignisse, eine gemeinsame Politik und gemeinsame Aktionen hat. Die der Arbeiterklasse wieder klar machen wird, dass sie nicht nur kämpfen, sondern die bestehende Ordnung stürzen und sich als herrschende Klasse bilden muss. Wir sind immer noch Anhänger der Diktatur des Proletariats, und stolz darauf. Denn die Diktatur von drei Milliarden Menschen wird unendlich viel demokratischer sein als die derzeitige Diktatur einer winzigen Handvoll Aktionäre.

Deshalb müssen wir uns weiterhin für diese Ideen einsetzen, weiterhin versuchen, sie weiterzuentwickeln, trotz Gegenwind und trotz der Tatsache, dass die Wartefrist viel länger ist als das, was die Gründer der kommunistischen Ideen sich erhofft hatten. Wir müssen weiterhin Arbeiter/innen für die Revolution und das kommunistische Bewusstsein gewinnen. Die Arbeitenden leben heute nicht nur in Angst vor Arbeitslosigkeit und Armut, sondern müssen auch noch die einseitige Propaganda der Wortführer der Bourgeoisie ertragen, die ihnen jeden Tag einzureden versuchen, dass sie nichts sind, dass sie nutzlos sind, dass sie zu viel kosten, dass sie nur Totgewicht sind! Na gut! Unser Kampf besteht auch darin, den Stolz wiederherzustellen, zur Arbeiterklasse zu gehören: Ja, wir haben allen Grund, stolz darauf zu sein, einer Klasse anzugehören, - ob durch soziale Herkunft oder durch persönliche Entscheidung -, die niemanden ausbeutet, die die gesamte Gesellschaft durch ihre Arbeit antreibt, die immer gegen die Ausbeutung gekämpft hat - die, kurz gesagt, die treibende Kraft und die Zukunft der Menschheit ist.

Also ja, die Welt hat sich seit Marx verändert - und die Arbeiterklasse hat sich verändert. In mancher Hinsicht zum Besseren: Die Arbeiterschaft in den reichen Ländern ist heute viel gebildeter, das heißt, sie ist viel fähiger, sich Ideen anzueignen, als sie es im 19. Jahrhundert war. Und die in den armen Ländern ist zahlreicher, konzentrierter und näher am technischen Fortschritt als je zuvor. Was sich sicher nicht geändert hat, ist, dass das Proletariat mehr denn je im Zentrum der Produktion und der Ausbeutung steht und deshalb die einzige Klasse bleibt, die die Welt verändern kann - und das wird, solange der Kapitalismus existiert, nie verschwinden!

Ja, die Welt ist in Bewegung, Fabriken schließen hier und öffnen anderswo, bestimmte Produktionszweige entstehen und andere verschwinden, die Produktionsschwerpunkte werden verlagert. Und wenn schon! Als die Produktion von Pferdekutschen fast aufhörte, und der Automobilproduktion wich, haben die revolutionären Aktivisten nicht geheult, sondern gingen in die Automobilwerke!

Ja, die Zeit, in der wir leben und in der wir kämpfen, ist hart, weil sie von Demoralisierung geprägt ist. Aber wir leben in einer kapitalistischen Welt, die wirtschaftlich, politisch und intellektuell von der Bourgeoisie beherrscht wird, es ist also kein Wunder, dass der Weg voller Schwierigkeiten ist. Bis zur Revolution wird es so sein. Und wie Engels sagte, wird die Geschichte des Proletariats auf „eine lange Reihe von Niederlagen, unterbrochen von vereinzelten Siegen, hinauslaufen.“ Das ändert nichts an der tiefen Gültigkeit unserer Ideen und an den Aufgaben der Revolutionäre.

Soziologen und Journalisten können das Proletariat jeden Morgen zu Grabe tragen, wenn es ihnen Spaß macht - oder besser gesagt, wenn es sie beruhigt, denn darum geht es ja. Wir wissen, dass es das Proletariat ist, das diese alte Welt zu Grabe tragen wird. Deshalb machen wir uns die letzten Zeilen des Kommunistischen Manifests mehr denn je zu eigen, ohne auch nur ein Wort davon zu ändern: „Die Kommunisten verschmähen es, ihre Ansichten und Absichten zu verheimlichen. Sie erklären es offen, dass ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung. Mögen die herrschenden Klassen vor einer kommunistischen Revolution zittern. Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


[1] Buschwald, in dem die französischen Partisanen während des Zweiten Weltkriegs sich versteckten

[2] Arabisches Wort. Hier bedeutet es Dorf.