Juni 1953: Der Arbeiteraufstand in Ostberlin

Sommer 2023

Der folgende Artikel ist die Übersetzung eines Artikels von Lutte Ouvrière vom 5. Juli 2023.

 

Der Streik und der Aufstand in Ostberlin im Juni 1953 war die erste Revolte im Osten Europas, der damals unter Stalins Herrschaft stand.

Am Ende des Zweiten Weltkriegs (1939-1945) hatten die Siegermächte ausgehandelt, wie sie sich das besiegte Deutschland untereinander aufteilen wollten. Jede Siegermacht besetzte einen Teil des Landes. Auch die Hauptstadt Berlin wurde in vier Teile geteilt. Fast unmittelbar danach begann der Kalte Krieg zwischen den westlichen imperialistischen Staaten und der UdSSR, die bis dahin mit ihnen verbündet gewesen war. 1948 legten die USA, Großbritannien und Frankreich ihre Besatzungszonen zusammen, was 1949 zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland (BRD) führte. Die UdSSR reagierte darauf mit der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) in ihrer Zone, ohne dass die Bevölkerung dabei ein Mitspracherecht hatte. Berlin war somit in zwei Teile geteilt, in eine Ost- und eine Westhälfte.

Zwei, drei Jahre nach ihrer Gründung war die Mehrheit der Großbetriebe, die in der DDR verblieben waren, verstaatlicht worden und der neue Staat zeichnete sich durch seinen Polizeiapparat und seinen autoritären Charakter aus. Mangel an Konsumgütern war an der Tagesordnung, auch wenn die sozialen Ungleichheiten weit weniger ausgeprägt waren als im Westen und niemand Angst haben musste, arbeitslos zu werden oder auf der Straße zu landen.

Der Tod Stalins im März 1953 weckte Hoffnungen. Der Staat verkündete Zugeständnisse an Kleinunternehmer, Handwerker und Bauern. Gleichzeitig erhöhte er für die Arbeiter die Arbeitsnormen um mehr als 10%, was letztlich eine deutliche Senkung der Löhne bedeutete, die ohnehin schon nicht ausreichten. Diese Maßnahme war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Am 15. Juni begannen die Maurer auf zwei Großbaustellen in Ostberlin zu streiken und zogen los, um zu demonstrieren. Andere Maurer sowie Arbeiter der U-Bahn und der Eisenbahn schlossen sich ihnen spontan an. Am 16. waren es bereits 10.000, die sich auf den Weg zum Regierungssitz machten. Von der Menge auf den Bürgersteigen bejubelt, forderten sie nicht mehr nur, dass die Erhöhung der Arbeitsnormen zurückgenommen würde, sondern die Abschaffung dieser Normen.

Und aus den anfänglich sozialen Forderungen wurden schnell politische: Die Arbeiter forderten den Rücktritt der Regierung, die in den Händen der stalinistischen SED war, sie forderten wirklich freie und geheime Wahlen und die Freilassung der politischen Gefangenen.

Die Arbeiter riefen zum Generalstreik auf. Ab dem 17. Juni weitete sich die Bewegung auf das ganze Land aus. An diesem Tag erreichten die Streiks und Demonstrationen über 500 Städte und Gemeinden. Der Streik – massiv in den Großbetrieben sowie den großen und mittleren Arbeiterstädten – erfasste auch kleinere Städte und die Landbevölkerung: Kleinbauern und Mittelschichten beteiligten sich daran. Als Arbeiterrevolte begonnen wurde sich die Bewegung innerhalb eines Tages zu einem Volksaufstand. In diesem Land mit 16 Millionen Einwohnern zählte man über fünfhunderttausend Demonstranten.

Doch diese spontane Explosion ohne Führung hatte keine Zeit, sich klare Perspektiven zu geben. In einigen Provinzstädten forderten die Streikenden die Bildung einer provisorischen Regierung aus "fortschrittlichen Arbeitern". Überall besetzten sie offizielle Gebäude, Räumlichkeiten der SED-Führung, griffen Gefängnisse, Gebäude der Stasi und Polizeistationen an. Manchmal befreiten sie Gefangene.

Die Regierung schien überfordert, die Polizei unentschlossen, ein Teil schloss sich sogar den Arbeitern und jungen Demonstranten an. Am 17. Juni wiederholte Ministerpräsident Grotewohl, dass die Erhöhung der Normen rückgängig gemacht worden sei. Zur gleichen Zeit zeigten sich russische Panzer in Berlin und anderen ostdeutschen Städten und am Mittag wurden der Belagerungszustand und das Kriegsrecht verhängt.

Die russischen Panzer traten in Aktion. In den folgenden Stunden wurden 55 Demonstranten getötet. In der Nacht kam es zu Hausdurchsuchungen und Verhaftungen, wobei die ostdeutschen Sicherheitskräfte und die sowjetischen Besatzungstruppen Hand in Hand arbeiteten. Bis zum 6. Juli 1953 wurden nicht weniger als 10.000 Menschen festgenommen, überwiegend Arbeiter, manchmal auch 14- oder 15jährige. Bis Ende 1954 verhängten die Gerichte mehr als 1.500 Strafen, die von drei Jahren bis zu 25 Jahren Haft, Zwangsarbeit oder Gulag in Sibirien reichten. Die Militärgerichte verhängten auch Todesurteile gegen etwa 40 Personen, von denen 29 bereits in den folgenden Tagen hingerichtet wurden. Auch russische Soldaten, die sich geweigert hatten zu schießen, mussten für ihren Ungehorsam mit dem Leben bezahlen. Wer hat sie jemals geehrt?

Am 18. Juni war die Bewegung in Berlin niedergeschlagen worden. Doch in anderen Regionen setzten die Arbeiter die Bewegung fort oder traten sogar erst da in den Streik. Manchmal wurde der Streik fortgesetzt, um die Freilassung inhaftierter Kollegen und aller politischen Gefangenen zu erreichen. Anderswo, wie in den riesigen Werften an der Ostsee und im Elektromotorenwerk in Wernigerode, kamen die Arbeiter in Vollversammlungen zusammen und stellten ihre Forderungen auf. In Wernigerode und in der Harzregion bekundeten sie ihre Solidarität und ihr Einverständnis mit den Berliner Aufständischen und forderten, dass acht Jahre nach 1945 endlich die Kriegsgefangenen aus der UdSSR freigelassen werden und zurückkehren sollten. Sie stimmten für den Beginn des Streiks am nächsten Tag, dem 19. Juni. Trotz des Ausnahmezustands schlossen sich weitere Fabriken an. Wieder wurden russische Panzer entsandt.

Solche Situationen wiederholten sich bis Mitte Juli und wurden von Streiks begleitet, wie in Jena und Schkopau. Doch die 20.000 russischen Soldaten und 8.000 ostdeutschen Polizisten sollten die Bewegung erfolgreich ersticken.

Die politische Führung der BRD, die 1948 im Westen nur mit Mühe einen Generalstreik hatte beenden können, war zynisch genug, ihre Sorge um die Arbeiter im Osten zum Ausdruck zu bringen... vor allem nachdem ihr Aufstand niedergeschlagen worden war. Sie benannten eine Hauptstraße in West-Berlin in „Straße des 17. Juni“ um und machten diesen Tag später zu einem Feiertag, dem "Tag der Deutschen Einheit". Nachdem die DDR 1990 geschluckt worden war, hatten sie nichts Eiligeres zu tun, als den 17. Juni wieder zu einem Arbeitstag zu machen, der weder Feiertag noch Gedenktag war.

Die DDR-Führung, die schwerlich einen Arbeiteraufstand in einem angeblichen Arbeiterstaat erklären konnte, sprach von einem "konterrevolutionären Putsch" und einer "faschistischen Provokation". Doch nach Juni 1953 sollte die Angst vor einem Arbeiteraufstand sie ständig verfolgen, hatten sie doch gesehen, welche Kraft die Arbeiterklasse entfalten kann, wenn sie sich in Bewegung setzt und wie explosiv sie dies ohne Vorwarnung tun kann. Nur drei Jahre später sollte Ungarn, eine weitere der stalinistisch kontrollierten "Volksdemokratien", durch einen Arbeiteraufstand ins Wanken geraten.