Dieser Text wurde vom Lutte Ouvrière-Parteitag von Dezember 2020 verabschiedet.
Die Ermordung eines Lehrers durch einen fanatisierten Jugendlichen – angestiftet von einer faschistischen Strömung, die sich auf den Islam beruft, ist eine schändliche Tat.
Alle, die sich auf die Arbeiterklasse und die gesellschaftliche Emanzipation berufen, deren Träger sie ist, müssen die faschistischen Strömungen bekämpfen: ebenso die Strömung, die versucht, die Muslime unter ihre Kontrolle zu bringen (beziehungsweise diejenigen, die nach Meinung dieser Strömung Muslime zu sein haben) – als auch die faschistische extreme Rechte auf der anderen Seite, die Moscheen und Migranten angreift.
Wir müssen sie bekämpfen, nicht im Namen der Republik, nicht im Namen der Demokratie – ja nicht einmal im Namen der freien Meinungsäußerung, sondern vom Standpunkt der Interessen der Arbeitenden und im vollen Bewusstsein, dass beide Strömungen eine Diktatur errichten wollen. Ihre Herrschaft wird die gesamte Gesellschaft niederdrücken und allen voran die ausgebeuteten Klassen. Ihre Funktion ist es, in kritischen Momenten die bestehende, auf Ausbeutung basierende Gesellschaftsordnung zu schützen – in den Momenten, wo die „republikanischen“ oder „demokratischen“ Formen der Diktatur des Kapitals sich hierzu als unfähig erweisen.
Selbst bevor diese Strömungen im jeweiligen Lager das Ziel erreichen, spalten sie – um Truppen anzuwerben – die Arbeiterbewegung und wiegeln die einen Arbeitenden gegen die anderen auf. Schon bevor sie die Staatsgewalt ergreifen, herrschen sie in den Köpfen.
Der altersschwache Kapitalismus in der Krise bringt aus den Tiefen seines Inneren unzählige Probleme hervor oder wieder hervor. In den USA sieht man, wie in der Protestbewegung der Schwarzen gegen Polizeigewalt Milizen auftauchen, die an die Überlegenheit der weißen „Rasse“ glauben. Dieser verfaulende Kapitalismus hat den Ku Klux Klan wieder auferstehen lassen und zahlreiche Verschwörungstheorien hervorgebracht – moderne Varianten der mystischen mittelalterlichen Theorien, die angesichts der damaligen Pandemien entstanden. Und dennoch sind die obskurantistischen Ideen, auf die diese Strömungen sich berufen, kein Überbleibsel des Mittelalters.
Es ist nicht die Vergangenheit, die die Gegenwart ergreift. Nein, diese obskuren Ideen sind das Produkt einer Gesellschaft, die fähig ist, Menschen auf den Mond zu schicken, aber die unfähig ist, ihr ökonomisches und soziales Leben zu beherrschen. Es ist fast ein Jahrhundert her, als Trotzki den Anachronismus hervorhob zwischen den Ideen und Institutionen der katholischen Kirche auf der einen Seite und der Tatsache, dass die Worte des Papstes durch Radiowellen nach Lourdes übermittelt werden konnten: „Was kann aber absurder und abstoßender sein, als die Verbindung beeindruckendster Errungenschaften der Technik mit der Zauberei des Druidenpapstes von Rom! Fürwahr das menschliche Denken erstickt in seinen eigenen Exkrementen.“ (Tagebuch im Exil)
Der Kapitalismus liegt in den letzten Zügen. Er droht, die menschliche Gesellschaft mit sich zu reißen. Er wird nicht von allein verschwinden. Er verschwindet erst, wenn das Proletariat sich seiner unerlässlichen Rolle bewusst wird, die es bei der gesellschaftlichen Umwälzung Transformation zu erfüllen hat und wenn es den Kampf bis zum Schluss führt, bis zum Sturz der Herrschaft der Bourgeoisie.
Alle die vorgeben, auf die im gesellschaftlichen Leben zunehmende Barbarei im Namen der Republik, Demokratie oder Laizismus zu reagieren, tragen dazu bei, die Realität zu verschleiern: die Realität einer Klassengesellschaft, die in den ärmsten Ländern ständig grausam wütet, aber auch in den reicheren, imperialistischen Ländern immer rabiater wird. Das schlimmste Regime des 20. Jahrhunderts war nicht eine der zahllosen Diktaturen in den armen Ländern: Es war Hitler-Deutschland, das reichste Land Europas mit dem höchsten Niveau an Kultur und Bildung...
Die Wirtschaftskrise dauert an, verschärft sich und führt zu einem Anstieg der Armut selbst in den reichsten Ländern. Nachdem sie zunächst zu Schockstarre, Unsicherheit und Angst in allen Klassen und Schichten führt, die ihr Opfer sind, wird sie Wut erzeugen. Die wirtschaftliche Instabilität wird unvermeidlich soziale Instabilität erzeugen. Wenn die imperialistische Bourgeoisie spürt, dass ihre Gesellschaftsordnung und erst recht ihre Macht bedroht wird, wird sie diese mit Zähnen und Klauen verteidigen. Sie wird dabei zu jedem x-beliebigen politischen Mittel greifen, das die Situation und die Entwicklung des Klassenkampfs ihr bietet.
Die politischen Strömungen, die im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft an die Macht kommen wollen, bewerben sich um das Amt des Handlangers der Bourgeoisie. In den imperialistischen Ländern ist dies die extreme Rechte. Denn auch wenn diese im Augenblick alles tut, um sich in das parlamentarisch bürgerliche System der Demokratie zu integrieren, so beherbergt und deckt sie faschistoide Strömungen. In den armen Ländern (aber nicht nur dort, wie man an den evangelischen Freikirchen in den USA sehen kann) kann der religiöse Fanatismus (egal ob christlicher, muslimischer, buddhistischer, hinduistischer oder jüdischer Fanatismus) dazu genutzt werden, um die imperialistische Weltordnung aufrecht zu erhalten. Der sehr christliche Bolsonaro in Brasilien oder die wahhabitischen Prinzen Saudi-Arabiens erfüllen bereits diese Rolle. Alle ehemaligen Kolonialmächte, die Afrika unter sich aufgeteilt haben, haben für ihre Herrschaft gezielt die Spaltung nach ethnischer Herkunft geschürt, die sich heute als ein Bumerang erweist.
Die Krise führt zu immer mehr Änderungen in den gesellschaftlichen Beziehungen. Zu aller erst in den Beziehungen zwischen der herrschenden Großbourgeoisie und der Arbeiterklasse. Die pseudo-demokratische Fassade der imperialistischen Länder, die unfähig sind, die Krise zu meistern, bröckelt an allen Ecken und Enden. Die gleichzeitig konservative und autoritäre Entwicklung zeichnet sich schon hinter der demokratischen Form ab, die die imperialistischen Länder weiterhin annehmen.
Trump in den USA ist kein Zufall in der politischen Entwicklung der imperialistischen Hauptmacht. Ob er wiedergewählt wird oder nicht: Die Truppen, die ihn unterstützen, die sich in ihm wiedererkennen, sind weiterhin da. Die Evangelisten, was die Wählerschaft angeht. Und weit darüber hinaus ein ganzes Milieu von extremen Rechten, mehr oder weniger organisiert, aber alle darauf vorbereitet, Gewalt anzuwenden. Werden diese Kräfte sich damit begnügen, ihre Stimme bei den Wahlen abzugeben? Die Zukunft und die Entwicklung der Krise werden es zeigen. Der rapide Anstieg der Waffenverkäufe um 20% ist offenbar keine Anekdote. Diese Truppen belasten politische Lage, mit all ihren dreckigen Vorurteilen und ihrem Streben, die „Partei von Recht und Ordnung“ zu werden.
In Frankreich sind selbst die Gesundheitskrise und die Maßnahmen, die die Regierung zu ihrer Bekämpfung ergreift, auch ein Mittel, die Bevölkerung an Gehorsam zu gewöhnen. Die Pandemie und die zu ihrer Eindämmung eingesetzten Mittel dienen nicht nur dazu, die frühere und gegenwärtige Verantwortung des Staates für die kriminelle Unzulänglichkeit der materiellen und personellen Ausstattung des öffentlichen Gesundheitswesens zu verschleiern. Sie werden auch genutzt, um auf eine autoritäre Zukunft vorzubereiten. Auf einem ganz anderen, offen politischen Gebiet gehen die im Namen des Kampfs gegen den islamistischen Terrorismus ergriffenen Maßnahmen in dieselbe Richtung. Soweit sie auch voneinander entfernt sind, haben die Gesundheitskrise und die Reaktion der Regierung auf den Terrorismus gemeinsam, dass sie benutzt werden, um eine „nationale Einheit" mit autoritären Begleiterscheinungen zu schaffen.
Die Krise ändert auch das Kräfteverhältnis zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Schichten, die Opfer des Kapitalismus sind.
Man sollte die Reaktionen eines Teils der Kleinbourgeoisie nicht überschätzen, der Bar-, Restaurant-, Fitnessstudiobesitzer oder Veranstaltungsbetreiber, die jetzt lautstark gegen die Maßnahmen protestieren, die ihre Einkommen schmälern und die sie als ungerecht empfinden. Aber man darf auch nicht die Warnung für die Zukunft vernachlässigen, die darin steckt. Selbst die Teile des Kleinbürgertums, die sich jetzt am lautesten Gehör verschaffen, sind derzeit weit davon entfernt wirklich zu kämpfen. Aber sie könnten sich durchaus in Bewegung setzen, bevor die Arbeiterklasse es mit ihren Mitteln tut.
Die Zukunft hängt in hohem Maß von der Fähigkeit der Arbeiterklasse ab, zu reagieren, aktiv zu werden und den Kapitalismus mit ihren Waffen des Klassenkampfes zu bekämpfen. Alles jedoch hängt von der Perspektive und der Politik ab, in deren Namen das Proletariat aktiv wird. Hier kann die Rolle einer revolutionären kommunistischen Strömung entscheidend sein, auch wenn sie heute nur eine extrem kleine Minderheit darstellt. Denn nur sie allein vertritt die Perspektive, die der Gesellschaft eine Zukunft bieten kann: den Sturz der wirtschaftlichen und staatlichen Macht der Bourgeoisie.
Die Bourgeoisie wird umso heftiger angreifen, je länger die Arbeiterklasse zögert zu reagieren. Die Zeiten werden schwierig werden, wenn hauptsächlich oder gar ausschließlich das Kleinbürgertum reagiert. Denn auch wenn sich die Geschichte nie vollkommen auf gleiche Weise wiederholt, so kann sich die Bourgeoisie des Kleinbürgertums bedienen, um das kapitalistische System zu verteidigen.
Es ist lebenswichtig, dass die revolutionären, kommunistischen Ideen in der Arbeiterklasse präsent sind. Es ist lebenswichtig, dass sie nicht pervertiert und kompromittiert werden von den bürgerlichen Strömungen, von denen die eine offen den Kapitalismus verteidigt und die andere ihn nicht bekämpft – und die sich ab einem gewissen Niveau des Klassenkampfes vereinigen.
Daher müssen alle, die sich auf die revolutionär kommunistische Strömung berufen, stolz auf ihre Ideen sein, stolz darauf, das Bewusstsein der Arbeiterklasse zu repräsentieren, und bei ihren Aktivitäten hartnäckig am Ball bleiben.
Wir müssen die kommunistische Fahne hochhalten und vor allem die Perspektiven, für die sie steht. Denn dies ist die einzige Alternative zur Rückwärtsentwicklung in Richtung Barbarei, in die der Kapitalismus das ganze Menschengeschlecht mitreißen wird.
30. Oktober 2020