Nicht die Wiedervereinigung Deutschlands ist gefährlich, sondern der Kapitalismus (Lutte Ouvrière-Leitartikel am 23. Januar 1990)

Imprimir
Nicht die Wiedervereinigung Deutschlands ist gefährlich, sondern der Kapitalismus
Februar 1990

Wie es zu erwarten war, beschleunigt sich scheinbar in der letzten Zeit die Perspektive der Wiedervereinigung der zwei deutschen Staaten. Schon haben die Verhandlungen bezüglich der Währungsvereinigung begonnen. Und man weiß, dass eine gemeinsame Währung in der bürgerlichen Gesellschaft einen gemeinsamen Staat bedeutet.

Mit dem Fall der "Mauer" und mit der von der Sowjetunion der DDR zugestandenen Freiheit war das eigentlich unvermeidbar. Die Zweiteilung von Deutschland war nämlich den Deutschen während des Kalten Krieges, der während Jahrzehnten die vier Großmächte gegeneinander stemmte, aufgezwungen worden. Oder genauer gesagt, nur zwei große Staaten machten damit, nämlich die USA und die Sowjetunion, da die zwei anderen, Frankreich und England nur zwei kleine Staaten waren, die sich an die USA anhängten.

Alle Politiker, insbesondere in Frankreich, die früher nie genug harte Worte für die Verurteilung der von der DDR gebauten "Mauer der Schande" hatten, zeigen heute mehr Besorgnis als Freude über die wieder gefundene deutsche Einheit.

Natürlich bekennen sich alle zu der Wiedervereinigung Deutschlands, aber sie fügen sofort hinzu, dass diese sich nur unter der Bedingung vollziehen solle, dass ein vereinigtes Europa dieses Deutschland solide festhalte, dass seine Demokratie definitiv gesichert wäre oder auch dass formelle Verträge die Existenz der Nachbarstaaten Deutschlands garantieren.

Das ist nur pure Heuchelei! Alle Politiker wissen, dass die Wiedervereinigung unvermeidbar ist und dass sie ihr keine Bedingungen stellen können. Ihre scheinbar besorgten Äußerungen zielen nur darauf hin, die französische öffentliche Meinung, bei dem noch Überreste einer jahrhundertelangen Propaganda bestehen, in der Deutschlands als Feind Frankreichs, das bei allen Kriegen die Schuld trug, gesehen wurde, zu schmeicheln. Eine Propaganda, die man sehr gut eines Tages wieder verwenden könnte, um uns dazu zu bringen, mehr zu arbeiten oder um uns dazu zu überreden, zu akzeptieren, dass wir uns den Gürtel enger schnallen müssen, um mit einem verstärkten Deutschland zu konkurrieren.

Die Französische Kommunistische Partei und Georges Marchais, ihr Generalsekretär, die die Berliner Mauer gutgeheißen haben, ohne sich in jener Zeit darum zu kümmern, was die deutschen Werktätigen im Osten und im Westen davon hielten, machen dieselbe Propaganda.

Der einzige Grund, der uns französische Arbeitende dazu führen könnte, uns der Wiedervereinigung zu widersetzen, wäre, dass die deutschen Arbeiter, entweder des Westens oder des Ostens dagegen wären. Und die des Ostens hätten wahrscheinlich Gründe dafür, misstrauisch zu sein. Wenn die großen deutschen, aber auch internationalen Konzerne wieder in der DDR Fuß fassen, wird die Arbeiterklasse das durch Arbeitslosigkeit und gesteigerten Arbeitsrhythmus bezahlen müssen. Aber für den Moment schweigt die ostdeutsche Arbeiterklasse und scheint vor allem für die Illusionen des Westens empfänglich zu sein.

Was das Risiko betrifft, dass ein geeintes, also ein viel stärkeres Deutschland wieder die Ursache eines Krieges sein könnte, sollten wir uns daran erinnern, dass nicht die Einheit Deutschlands die Ursache der Kriege des zwanzigsten Jahrhunderts war und auch nicht einmal die des Zweiten Weltkrieges. Die Ursache dafür war der Kapitalismus, die Konkurrenz zwischen den rivalisierenden großen imperialistischen Mächten wobei der deutsche Imperialismus nur der am wenigsten reiche und deshalb der aggressivste war.

Wir sollten uns auch daran erinnern, dass die Demokratie oder die abgeschlossenen Verträge nicht den Ersten Weltkrieg vermieden haben und dass Deutschland wie auch Frankreich und England in jener Zeit parlamentarische Demokratien war.

Schließlich und endlich war nicht Deutschland in den letzten 45 Jahren weltweit an den Kriegen schuld, sondern im Wesentlichen die USA und Frankreich, in Vietnam, in Algerien, oder auch im geringeren Maß, die UdSSR in Afghanistan.

Nein, nicht die Vereinigung Deutschlands sollten wir befürchten, sondern den Fortbestand und die Verstärkung des Kapitalismus und des Imperialismus.

Und wenn die Vereinigung Deutschlands der Aufspaltung der deutschen Arbeiterklasse ein Ende setzen sollte, so wie auch ihrer aktuellen Verwechslung von Stalinismus mit Kommunismus und zu einer Wiedergeburt ihres politischen Bewusstseins und ihrer Stärke führen sollte, dann wäre das positiv. Gegenüber dem internationalen Kapitalismus wäre nämlich diese Arbeiterklasse eine wesentliche Kraft, und für uns, Arbeitende in Frankreich eine unserer besten Verbündeten.