Haiti: der Staat der Banden

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Februar 2023

Wir veröffentlichen im Folgenden einen Text unserer Genossen aus Haiti von der Organisation des Travailleurs Révolutionnaires (OTR).

Während in der internationalen Diplomatie weiterhin über die Entsendung einer militärischen Eingreiftruppe nach Haiti spekuliert wird, verbreiten bewaffnete Banden, die sich im ganzen Land ausbreiten, Terror in den Stadtvierteln: durch Schießereien, Entführungen gegen Lösegeld, Plünderungen und das Niederbrennen von Häusern. Gleichzeitig haben diese Banden angesichts des allmählichen Zerfalls des offiziellen Staatsapparats angefangen, sich selbst in eine Art embryonalen Staat zu verwandeln. Diese kriminellen Banden, die sich hauptsächlich auf das westliche Departement (das Departement der Hauptstadt) konzentrieren, verteidigen ihre Territorien und versuchen ständig, diese auszuweiten. Tausende Anwohner der Arbeiterviertel in den Ballungsgebieten fliehen, um nicht länger in dieser Mausefalle zu sitzen. Diejenigen, die nicht wissen, wohin sie gehen sollten, werden während der Kämpfe als menschliche Schutzschilde missbraucht. Die Hauptstadt Port-au-Prince ist nun von Gangs umzingelt, die die wichtigsten Ein- und Ausgänge kontrollieren und so die Verbindung zwischen dem Departement West und den anderen Departements des Landes unterbrechen. In den Monaten September und Oktober kam es zu einer fast vollständigen Lähmung des Landes, da der wichtigste Ölterminal blockiert wurde. Diese Blockade, die von Jimmy Chérisiers G9, einer der bekanntesten Banden organisiert wurde, war Teil einer Protestbewegung namens Lock.

Die bewaffneten Banden verfügen über eine regelrechte Unterdrückungsmaschinerie mit schweren Waffen und schießen wie Pilze aus dem Boden der Armut und der Massenarbeitslosigkeit. Oft schlagen sie die Polizei in die Flucht, deren Mitglieder häufig erschossen werden. Sie beschaffen sich Geld, indem sie den Staat, die Bevölkerung, die Unternehmen usw. erpressen. Die riesigen Summen, die sie einnehmen, werden unter anderem dazu verwendet, sich mit immer ausgeklügelteren Waffen und Munition einzudecken – in einem Land, in dem der Import schwerer Waffen von westlichen Mächten wie den USA und Kanada bereits seit mehreren Jahren verboten ist. In Haiti ist die Zeit der Banden-Diktatur angebrochen, deren "Entmachtung" ausschließlich von den empörten Massen abhängt.

"Der Staat ist im Grunde eine Bande bewaffneter Menschen". Das heutige Haiti ist ein perfektes Beispiel für diese Idee von Engels, die allerdings aus dem 19. Jahrhundert stammt. Nur, dass es neben der offiziellen Bande bewaffneter Männer in Uniform, die hier "Nationale Polizei von Haiti" heißt, zahlreiche andere Banden ohne Uniform gibt, die sich G9, G-Pèp, 400 mawozo, 5 segonn, Baz chen mechan, Gran grif usw. nennen. Allen gemeinsam ist das Merkmal, dass sie gegen die armen Klassen vorgehen, sie mit äußerster Härte unterdrücken und ihnen sogar die Freiheit nehmen, laut ihre Forderungen zu stellen – selbst dann, wenn sie an Hunger oder Krankheit sterben. Ob mit oder ohne Uniform, allen Banden ist gemeinsam, dass sie ihre materielle Existenz dem Geld verdanken, das sie der Bevölkerung abknöpfen – offiziell über Steuern, inoffiziell über Lösegelder aller Art. Allen Banden ist auch gemeinsam, dass sie für ihre Arbeit Mitglieder aus der armen Bevölkerungsschicht rekrutieren müssen. Diese leben in den Arbeitervierteln und sind damit greifbar für die Bewohner dieser Viertel, wenn diese die Wut packen wird. Der derzeitige Premierminister Ariel Henry, eine Geisel all dieser Banden, erklärte kürzlich, dass sein Hauptproblem nicht die Banden in den Stadtvierteln seien, sondern vielmehr die Banden in der Polizei. Denn in der Polizei, dieser bis ins Mark korrupten Institution, stehen viele Mitglieder mit den Bandenchefs in Verbindung und bekommen für geleistete Dienste regelmäßig Krümel ihrer Beute ab. Ein Beweis dafür, dass die uniformierten Wachhunde der Reichen und die Gangs in den Stadtvierteln dicke Freunde sind.

Während die bewaffneten Banden früher nur einzelne Gruppen waren, die jeweils im Sold eines Geschäftsmanns, Politikers oder einflussreichen Mitglieds des Staatsapparats standen, haben sie sich nach und nach zu immer stärker organisierten Einheiten entwickelt, die den Zentralstaat ersetzen und sich nach und nach dessen Merkmale und Funktionen aneignen. Die bewaffneten Banden kontrollieren nun jeweils einen geografischen Raum, auf den der Zentralstaat keinen Einfluss mehr hat. Die Bevölkerung in diesem Gebiet unterliegt nur dem Gesetz der Gesetzlosen, da alle Polizeikräfte und die Justiz zuvor vertrieben oder neutralisiert wurden. Die bewaffneten Banden verfügen nach Belieben über Waffen und Munition jeglichen Kalibers und üben so ihre Gewalt über das Gebiet aus, das sie sich angeeignet haben. Damit haben diese Gruppen bestimmte Merkmale eines Staates: Territorium, Bevölkerung, eine bewaffnete Macht zur Unterdrückung der Bevölkerung und eine Maschine, um die Bevölkerung auszuplündern und in verschiedenen Formen Geld einzusammeln.

Und man kann der Liste wohl auch internationale Anerkennung hinzufügen, angesichts des hohen Ansehens, das sie bei so vielen ausländischen Diplomaten genießen. Oder wie sonst sollte man die Worte verstehen, mit denen die Sekretärin des Integrierten Büros der Vereinten Nationen in Haiti, Helen R. M. La Lime, die Initiative des G9-Zusammenschlusses anerkannte und begrüßte? In einem Bericht vom 25. September 2020 erklärte sie: "Die der Polizei gemeldeten vorsätzlichen Tötungsdelikte gingen zwischen dem 1. Juni und dem 31. August um 12% zurück und forderten 328 Opfer (darunter 24 Frauen und 9 Kinder) gegenüber 373 (darunter 9 Frauen und 12 Kinder) in den drei vorangegangenen Monaten. Wie in den vorangegangenen Zeiträumen wurden 74% dieser Fälle im Department West registriert, wo etwa 35% der Bevölkerung leben und organisierte Bandengewalt am weitesten verbreitet ist. Eine genauere Betrachtung der Statistiken zeigt jedoch einen plötzlichen Ausbruch im Juni (171 gemeldete vorsätzliche Tötungsdelikte gegenüber 132 im Mai), der mit der Bildung des G9-Bündnisses zusammenfiel und mit den tödlichsten Razzien im Stadtteil Pont-Rouge und der Gemeinde Cité Soleil in Port-au-Prince zusammenhängt. Nach Juli hingegen, als die Bündnisse neu gebildet worden waren, ist ein deutlicher Rückgang dieser Vorfälle zu verzeichnen (77 gemeldete Tötungsdelikte).

Auf diese Weise organisiert und abgesichert, macht der diktatorische Staat der Gangs seine Vorherrschaft deutlich und fegt Funktionen und Vorrechte, die einst einem Staat vorbehalten waren, hinweg.

 

Erhebung von Steuern oder Lösegeld

Diese bewaffneten Banden erheben in ihrem jeweiligen Tätigkeitsbereich Steuern – eine Funktion, die sie dem Staat vollständig entrissen haben. Unter Androhung, dass sonst ihr Geschäftsbetrieb gestört wird oder sie schlichtweg hingerichtet werden, beteiligen sich die Eigentümer großer und mittlerer Unternehmen, Selbstständige, Geschäftsleute und Einzelhändler usw. an der offensichtlichen und regelmäßigen Eintreibung von Steuern durch die Bande, die in ihrem Gebiet ihr Unwesen treibt. Manchmal finden sich die Zahlungen an die Bandenbosse offiziell in den Geschäftsbüchern von Großunternehmen, da deren Schutz für die Kontinuität der geschäftlichen Aktivitäten unerlässlich ist. Die Vorstände der Mobilfunkunternehmen (Natcom und Digicel) können ein Lied davon singen. Sie sind gezwungen, den Bandenchefs bestimmter Gebiete einen Tribut zu zahlen, um den Schutz ihrer Sendemasten zu gewährleisten. Die Banden sind so mächtig, dass sie nicht zögern, auch von öffentlichen Einrichtungen Zahlungen zu verlangen. So müssen z. B. die Zollbehörden (die Zollbehörde von Port-au-Prince wird von der Gruppe G9 kontrolliert) oftmals eine Gebühr für die Durchfahrt ihrer Warencontainer zahlen. Der ehemalige Abgeordnete Profane Victor (Mitglied der Partei Bouclier, die mit der regierenden PHTK verbündet ist) sprach Todesdrohungen gegen Zollbeamte aus, damit sie ihm seine verdächtigen Container ohne Überprüfung ausliefern. Er erklärte, er werde die G9-Gang beauftragen, die besagten Container zurückzuholen.

 

Aus der Staatskasse finanzierte Banditen

Einige Banden werden aus der Staatskasse finanziert. Niemand kann behaupten, dies nicht zu wissen: Diese Praxis – die es nicht erst seit gestern gibt – ist unter den Ex-Präsidenten Michel Martelly und Jovenel Moïse zur Regel geworden. Nehmen wir zum Beispiel G9: Der damalige Präsident Jovenel Moïse hat die Gründung dieser Gang gesponsert, um mit ihrer Hilfe 2018 eine gegen ihn gerichtete Protestbewegung niederzuschlagen. Der Anführer der G9-Gang, Jimmy Chérisier alias Barbecue, hat nie einen Hehl aus seiner tiefen Trauer über die Ermordung des ehemaligen Staatschefs gemacht, der für ihn nach eigener Aussage wie ein Vater war.

Wenn der wichtigste Geldgeber, der Staat, sich weigert, dem Finanzierungsgesuch einer Bande gnädig zu entsprechen, verfügen die Banden über alle möglichen Druckmittel, um Geld von ihm zu erpressen: Dies reicht von der Beschlagnahmung von Fahrzeugen des Öffentlichen Dienstes bis hin zur Sperrung wichtiger Landstraßen. Diese Druckmittel werden auch für andere Zwecke eingesetzt, z. B. wenn eine Bande den Kopf eines hohen öffentlichen Beamten fordert, der ihnen nicht passt. Die G9-Bande hat beispielsweise im Handumdrehen die Entlassung mehrerer Minister des ehemaligen Präsidenten Jovenel Moïse durchgesetzt.

 

Kontrolle der wichtigsten Landstraßen

Heute ist die Republik Haiti nicht mehr "eins und unteilbar", wie es einige Politiker verkündeten, sondern wird zerhackt durch die Straßenblockaden an den wichtigsten Verkehrsadern, die von bewaffneten Banden kontrolliert werden. Die Banden geben sich nicht mehr mit einzelnen Überfällen und kleinen Raubzügen zufrieden, die sie früher verübten. Jetzt sind die Hauptverkehrsstraßen vollständig unter ihrer Kontrolle. Sie legen fest, zu welchen Zeiten man die Straße befahren darf, regeln teilweise den Verkehr und errichten an strategischen Punkten ihre eigenen Mautstellen, was ihnen eine lukrative Einnahmequelle verschafft. Dies ist jedoch nicht ihre einzige Einnahmequelle.

Hinzu kommt, dass die Polizisten, die eigentlich gegen die bewaffneten Banden vorgehen sollten, diesen Konkurrenz machen. In roten Zonen wie Canaan, einem großen Slum am nördlichen Ende von Port-au-Prince, bieten die Polizisten an, dass man gefährliche Stellen in ihren gepanzerten Fahrzeugen durchqueren kann... aber nur, wenn man astronomische Preise für ihren Fahrdienst bezahlt.

 

Verlassenes Industriegebiet

Berauscht von ihren Erfolgen und angesichts des fortschreitenden Zerfalls des Staates versuchen die Banden, ihr Revier immer weiter auszudehnen. Dies führt immer wieder zu Bandenkriegen, da sie sich gegenseitig Reviere streitig machen. Je größer das kontrollierte Gebiet, desto mehr Institutionen kann man auspressen. Bei den letzten Zusammenstößen zwischen G9 und G-Pèp gab es über 100 Tote unter den Bewohnern der Cité Soleil, dem größten Slum der Hauptstadt – in der Nähe des Industriegebiets, in dem die meisten Arbeiter wohnen.

Diese Zusammenstöße führten schließlich zu einem langsamen Tod des Industriegebiets von Port-au-Prince. Es wurde von allen Seiten von bewaffneten Gruppen belagert, die die Arbeiter ständig verprügelten, sie am Zahltag ausraubten und Arbeiterinnen vergewaltigten. Einige Unternehmen gingen sogar so weit, Arbeiter aufgrund der Unsicherheit und des knappen Treibstoffs zu entlassen. Da die G9-Bande die Straßenzufahrten zum Zollamt in Port-au-Prince blockiert hat, können die Zulieferbetriebe ihre Container mit Rohstoffen aus den USA nicht verzollen und die Container mit den ausgeführten Aufträgen nicht dorthin schicken. Die ohnehin schon riesige Masse an Arbeitslosen wird immer größer.

 

Verschleierte Sozialhilfe

Um sich selbst zu schützen, versuchen die Banditen, die Gunst der Anwohner in ihren Revieren zu erlangen. Die meisten bewaffneten Gruppen spielen sich als Sozialarbeiter auf, indem sie von Zeit zu Zeit ein paar Krümel aus der Beute ihrer Raubzüge in Form von Naturalien oder Bargeld an die Anwohner verteilen. Schwerwiegender noch ist, dass einige Banden die öffentlichen Behörden verdrängen, sich an ihre Stelle setzen und jeden, der darum bittet, mit Personalausweisen und anderen behördlichen Urkunden versorgen. Diese auf legalem Wege kaum zugänglichen "Öffentlichen Dienstleistungen" werden insbesondere von der G9-Gang angeboten, die an der Seite des ehemaligen Präsidenten Jovenel Moïse stand. Die Banden versuchen auf diese Weise, einen Teil der Bevölkerung in ihrem Aktionsradius auf ihre Seite zu ziehen, um sich so vor rivalisierenden Banden und der Polizei zu schützen. Und der Zentralstaat, der die Bevölkerung im Stich gelassen hat und den Banden alle möglichen Rechte und Privilegien gewährt, hilft ihnen dabei, indem er die Banden auf diese Weise als Wohltäter oder sogar Unternehmer dastehen lässt.

 

Einmischung der Banden in die Politik

Die Banden mischen sich in die Politik ein. Durch die Kontrolle von Stadtvierteln sind sie in der Lage, Wahlergebnisse zu beeinflussen (oder sogar das offizielle Ergebnis zu bestimmen). Je größer die ihnen ausgelieferte Bevölkerung und damit die Zahl potenzieller Stimmen ist, desto mehr Geld kann der Bandenchef bei den Wahlen mit den wohlhabenden Parteien und/oder Kandidaten aushandeln. Da die Banden zudem besser ausgerüstet sind als die Polizei, werden sie von der politischen Führung auch als Handlanger zum Beispiel bei der Unterdrückung von Protestbewegungen der Bevölkerung eingesetzt.

 

Die Banditen zerschlagen die Justizbehörden

Anstatt die Banden strafrechtlich zu verfolgen, weise diese die Justizbehörden in ihre Schranken. Von den Gerichten, Symbole der Gerechtigkeit und der Stärke des bürgerlichen Staates, wird eines nach dem anderen angegriffen und geschlossen. Ein Beispiel ist die Staatsanwaltschaft Croix-des-Bouquets, deren Kanzlei von der 400 mawozo-Gang in Brand gesteckt wurde. Einige Monate zuvor, am 10. Juni 2022, startete die Izo-Bande, die die Gruppe 5 Sekunden genannt wird, einen Großangriff mit anschließender Besetzung der Staatsanwaltschaft von Port-au-Prince. Das gesamte Personal, Anwälte, Richter, Gerichtsschreiber usw., wurde kurzerhand vertrieben und kehrte nicht mehr zurück. Die Antwort des Staates lässt noch immer auf sich warten.

Gefängnisse, vor allem in der Region der Hauptstadt, werden regelmäßig von Banditen angegriffen, die ihre von der Polizei festgenommenen Kumpanen befreien wollen.

 

Die Gangsterbosse regieren

Bewaffnete Banden sind nun damit beschäftigt, offiziell an die Stelle des Staates zu treten. Sie bestimmen, wann die Bevölkerung zu Hause bleiben muss und wann sie ihren Geschäften nachgehen darf. Wer sich nicht daran hält, hat mit Repressalien zu rechnen. Ihre Befehle werden besser befolgt als die offiziellen Mitteilungen der Regierung. Die Banden haben sich sogar auf Initiative der Regierung und verschiedener internationaler Akteure zu einem Bund zusammengeschlossen.

Da die bewaffneten Gruppen wissen, dass sich das Schicksal des Landes in der Hauptstadt entscheidet, haben sie ein strategisches Vorgehen gewählt und das Departement West nach und nach umzingelt. Die Folgen sind verheerend: Knappheit an Agrarprodukten und Erdölprodukten, explodierende Preise. Die Bevölkerung wird erstickt. Um die Absurdität auf die Spitze zu treiben, hat der in den Medien viel beachtete Bandenchef Jimmy Chérizier alias Barbecue sein eigenes politisches Programm und seine Agenda bekannt gegeben, die mit dem Abgang von Premierminister Ariel Henry startet.

Einige Polizeistationen in Port-au-Prince oder in der Provinz sind in die Hände von Banden geraten, die die Polizisten manu militari vertrieben haben.

Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass der haitianische Staat nichts mehr kontrolliert und dass es keine wirkliche Kraft gibt, die sich dem gefährlichen Aufstieg der bewaffneten Gruppen entgegenstellt. Die Banden sind nur noch einen Schritt davon entfernt, den Staatsapparat vollständig zu stürzen und sich offiziell an dessen Stelle zu setzen. Was hat sie bislang daran gehindert? Vielleicht das Fehlen eines von allen anerkannten Anführers. Die verschiedenen Banden haben bislang noch keine Figur gefunden, in der sie sich alle wiedererkennen. Eine Möglichkeit wäre der ehemalige Staatschef Michel Martelly, ein Nostalgiker der Duvalier-Diktatur, der die Banden reichlich mit Waffen und Munition versorgt hat. Er hatte 1991 sogar an der Seite von Cédras und Michel François gestanden, als der Militärputsch gegen Aristide mehrere Tausend Menschenleben forderte. Martelly hätte das Profil, die verschiedenen Banden hinter sich zu vereinen, aber noch hat er sich nicht durchgesetzt.

Obwohl der Schwerpunkt der illegalen Aktivitäten der bewaffneten Gruppen im Westen liegt, ist das Departement West nicht das einzige, das darunter leidet. Die Auswirkungen sind landesweit. Port-au-Prince ist sowohl wirtschaftliche als auch politische Hauptstadt. Hier treffen viele importierte Waren ein, die dann auf andere Städte weiterverteilt werden müssen.

Im Oktober 2022 und danach kam es zu einer regelrechten Welle der Gewalt. Neben den Entführungen gegen Lösegeld, ihrem Lieblingssport, der nie aufgehört hat, lieferten sich die Gangs unzählige Schießereien mit Toten und Verletzten – und das in einem Land, in dem die meisten Krankenhäuser wegen Treibstoffmangel regelmäßig schließen müssen und es in den wenigen funktionierenden Krankenhäusern an Sauerstoff mangelt, was für die Patienten tödliche Folgen haben kann.

Von Banden verübte Gewalt und Terror gibt es nicht nur auf Haiti. Bewaffnete Banden, die sich in der Regel in den Armenvierteln bilden und der Bevölkerung dort das Leben schwer machen, sind ein Produkt des Kapitalismus, der Arbeitslosigkeit, Elend und Ungerechtigkeiten aller Art hervorbringt.

In den USA, der Zitadelle des Kapitalismus und Haitis großem Nachbarn, wimmelt es von Banden, die die Ordnungskräfte des reichsten und hochgerüstetsten Landes der Welt herausfordern. Allein in der Stadt Chicago haben die Gangs im laufenden Jahr bereits mehr als 500 Menschen getötet und etwa 3.000 durch Schüsse verletzt. Die Behörden sind immerhin der Ansicht, dass sie Fortschritte gemacht haben, weil die Anzahl der Morde niedriger ist als 2020 und 2021. Das Kräfteverhältnis zwischen diesen Banden und der Macht des amerikanischen Staates ist jedoch nicht mit der Situation in Haiti vergleichbar.

Was in Haiti besonders ist, ist das Ausmaß des Phänomens und der Grad der Absprache zwischen diesen Banden und der politischen Macht, die sie instrumentalisiert, um jegliche Opposition gegen die Regierung zum Schweigen zu bringen, die Bewohner der Slums einzuschüchtern und Protestbewegungen des Volkes im Keim zu ersticken.

Was noch besonders ist, ist die Entwicklung dieser isolierten Banden zu einer Kraft, die in der Lage ist, den Staat zu kontrollieren oder ihn sogar schrittweise zu ersetzen.

Das Ausmaß, in dem die Banden das Land beherrschen, ist für die haitianische Bourgeoisie nicht unproblematisch, auch wenn sie weitgehend für die Entwicklung der Banden verantwortlich ist und sie zum Teil zu ihrem Vorteil nutzt. Sie stellt wahrscheinlich auch den Imperialismus vor ein Problem, der die Hauptverantwortung für die Situation trägt, aber wohl kein Interesse daran hat, dass sich eine neue rechtsfreie Zone in den Händen von kaum kontrollierbaren Banden entwickelt. In einer Resolution des UN-Sicherheitsrats wurden gerade Sanktionen gegen Jimmy Chérisier beschlossen. Der haitianische Premierminister und der UN-Generalsekretär riefen zu einer internationalen Militärintervention auf, um dem Chaos ein Ende zu setzen.

Das Eingreifen ausländischer imperialistischer Streitkräfte unter dem Vorwand, der Bevölkerung zu helfen, hat noch nie irgendwo eine Lösung gebracht. Was daraus wird, hat man beispielsweise in Afghanistan, Libyen oder Mali gesehen. Haiti hat übrigens bereits seit einem Jahrhundert reichlich Erfahrungen mit diesen Militärinterventionen der USA oder der Vereinten Nationen. Die UN-Truppen wurden – übrigens zu Recht – beschuldigt, vor etwa zehn Jahren die Cholera nach Haiti eingeschleppt zu haben. Der stellvertretende chinesische UN-Botschafter äußerte zudem die Sorge, dass die Entsendung einer internationalen Streitmacht "auf Widerstand stoßen und sogar gewalttätige Konfrontationen mit der Bevölkerung auslösen könnte". Die imperialistischen Mächte, allen voran die USA, sind bekanntermaßen die Hauptverantwortlichen für die Situation.

Alle Vorschläge, die das politische Personal der Bourgeoisie für einen Ausweg aus der Krise in Betracht zieht, schließen natürlich aus, das die Volksmassen selber intervenieren. Doch nur sie können die bewaffneten Banden entmachten und der Bevölkerung eine andere Zukunft bieten. Sie haben die Kraft dazu. Das haben sie in den letzten 40 Jahren mehrfach bewiesen, angefangen mit der Entmachtung der "Tontons Macoutes", der bewaffneten Banden des Diktators Duvalier, durch die Bevölkerung nach dessen Sturz im Jahr 1986. Derzeit gibt es zahlreiche Initiativen zum kollektiven Widerstand gegen die bewaffneten Banden. In einigen Vierteln drängen die Bewohner die Gangs mit Gewalt zurück, vor allem in den Städten der Provinz, wo es ihnen nicht gelingt, Fuß zu fassen. Woanders gelingt es Passanten, einen Entführungsversuch zu vereiteln. Wieder anderswo wird durch Demonstrationen die Auslieferung entführter Personen erwirkt. Die Bewohner der Arbeiterviertel verfügen kollektiv über die Mittel, um alles über die Banden, ihre Organisation, ihre Verstecke für Geiseln und Waffen usw. zu erfahren. Doch bislang sind die Widerstandsinitiativen isoliert, ohne Organisation oder Gesamtplan. Sie haben noch nicht das Ausmaß, um die Oberhand zu gewinnen.

Die Situation in Haiti ist ein Vorgeschmack auf eine der Formen der Degeneration, die der kapitalistische Staat ohne das Eingreifen der Arbeiterklasse annehmen kann. Ohne deren revolutionäre Initiative und ohne eine Partei, die sie zum Sieg führen kann, nützt der Zerfall des bürgerlichen Staates dem Proletariat in Stadt und Land überhaupt nichts.

Die Arbeiterklasse ist wie alle anderen Bevölkerungsgruppen den Banden ausgesetzt, die die Gesellschaft im Griff haben. Sie hat in den letzten Jahren mehrfach mobilgemacht, um Lohnerhöhungen zu erzwingen. Sie könnte eine Rolle bei einer Zerschlagung der Banden durch die Bevölkerung spielen. Nur sie kann den Kampf nicht nur gegen die Banden, die ein Symptom der Krankheit sind, sondern gegen die Krankheit selbst, den Kapitalismus, anführen, indem sie die Wurzel des Übels angreift: die wirtschaftliche und politische Macht der Bourgeoisie.

 

29. Oktober 2022