Das Ende der kurdischen „Schutzzone“ im Irak: das kurdische Volk, Opfer der imperialistischen Herrschaft und der Politik seiner eigenen Führer (aus Lutte de Classe - Klassenkampf - von September 1996)

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Das Ende der kurdischen "Schutzzone" im Irak
September 1996

Seit dem Ende des Golfkrieges im April 1991 war das kurdische Gebiet im Nordirak relativ autonom. Damit ist es nach den Kämpfen Anfang September nun wohl vorbei, nachdem Truppen der irakischen Armee und des Kurdenführers Masud Barzani auf Kosten der Milizen der konkurrierenden kurdischen Organisation, der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) von Dschabal Talabani, die totale Kontrolle über dieses Gebiet übernahmen.

Wieder einmal scheint die Anerkennung eines autonomen kurdischen Gebietes nur ein kurzes Zwischenspiel gewesen zu sein. Obwohl die irakischen Truppen auf Verlangen von Masud Barzani und seiner Organisation, der Demokratischen Partei Kurdistans (DPK), eingriffen, lässt dies Barzani selbst keine andere politische Zukunft, als die eines Helfershelfer des Regimes in Bagdad (falls das Regime ihn nicht schließlich beseitigt).

Die kurdische Bevölkerung verteilt sich auf vier Staaten - Syrien, die Türkei, den Irak und den Iran - oder sogar auf mehr, wenn man noch die Hunderttausende von Personen mit einbezieht, die auf verschiedene Republiken der ehemaligen Sowjetunion verstreut sind. Aber in den vier wichtigsten Staaten, in denen sie leben, haben es die Kurden auf jeden Fall nirgends erreicht, als Nation anerkannt zu werden. Ihre vielen Versuche in diese Richtung haben immer wieder zu Misserfolgen geführt und wurden oft blutig von den bezüglichen Regimes niedergeschlagen. Die jüngsten Septemberereignisse bestätigen anscheinend eine Art von historischem Schicksal. Vor allem zeigen sie aber, dass dieses Schicksal kein Zufall ist: Es hat sehr konkrete Gründe, die nicht nur aus der Politik des Imperialismus und der Regime, die mit ihm verbunden sind, sondern auch aus der Politik der kurdischen Führer selbst entstehen.

Die gegenwärtige Aufteilung des kurdischen Gebietes auf Syrien, den Irak, die Türkei und den Iran hat ihren Ursprung in den Grenzen, die nach dem Ersten Weltkrieg bei der Teilung des Osmanischen Reiches errichtet wurden. In keinem dieser Länder konnte das kurdische Volk sein Recht zu einer nationalen Existenz durchsetzen.

Seitdem waren Zeiten, in denen kurdische Gebiete einigermaßen autonom waren, nur Randerscheinungen, die mit vorübergehenden Schwächeperioden der beteiligten Regimes zusammenfielen. Aber immer wieder endeten diese kurzen Perioden der kurdischen Autonomie mit der Wiederherstellung der Autorität dieser Regimes und des imperialistischen Status Quo. Und dies ist soeben wieder geschehen.

Die Errichtung der kurdischen "Schutzzone"

Wir müssen hier an die Bedingungen erinnern, unter denen die kurdische "Schutzzone" im Nordirak 1991 geschaffen wurde. In der Zeit vor dem Golfkriege prangerten die USA und ihre imperialistischen Verbündeten laut und deutlich die Diktatur Saddam Husseins an und versprachen den irakischen Dissidenten oder den vom Bagdad-Regime unterdrückten Minderheiten, wie zum Beispiel den schiitischen Muslime des Südiraks und den Kurden des Nordens ihre Unterstützung. Mit dem Sieg der imperialistischen Koalition und der Evakuierung der irakischen Armee aus Kuwait konnten diese Minderheiten glauben, dass das Regime zusammenbrechen würde und dass der Moment gekommen war, sich mit Waffen in der Hand gegen es zu erheben.

Aber in Wirklichkeit setzten die imperialistischen Leiter den Golfkrieg nur aus Propagandagründen unter das Motto des Kampfes gegen die irakische Diktatur und zwar vor allem um ihre eigene öffentliche Meinung zu täuschen. Das wirkliche Ziel des Krieges war nur das Weiterbestehen der Aufteilung der Golfregion zwischen den verschiedenen arabischen Staaten, im Besonderen zwischen den Emiraten und Saudi-Arabien und die damit verbundene Verteilung des Erdölreichtums. Sobald die Armee von Saddam Hussein aus Kuwait zurückgeworfen und das Regime des Emirs im Fürstentum wieder hergestellt worden war, hielten sehr klar die imperialistischen Regierungen es besser, das Regime von Bagdad nicht umzustürzen. Wenn sie Saddam Hussein mittels eines anderen genauso reaktionären aber mehr pro-amerikanischen Generals hätten loswerden können, ohne dass die Stabilität der Gegend daran gelitten hätte, hätten sie es natürlich zweifellos getan. Angeblich hätte sogar die CIA viele Millionen Dollar dafür erfolglos ausgegeben. Aber die imperialistischen Führer wollten keinesfalls, dass ein Volksaufstand Saddam verjagt, was den Weg für alle Arten nationaler, sogar sozialer Anforderungen eröffnet hätte. Man zog die Diktatur von Saddam Hussein, sobald dessen Ansprüche außerhalb der Grenzen des Iraks gebändigt waren, einer unbekannten und unsicheren Situation vor. Letztere hätte ja den Sieg des schiitischen Aufstands im Süden und des kurdischen im Norden oder sogar einer Revolution gegen Saddam Hussein in Bagdad ergeben können.

Die westlichen Armeen rührten sich also nicht und hüteten sich davor, einzugreifen, als die Schiiten und die Kurden versuchten, sich gegen Saddam Hussein zu erheben. Wenn die irakische Armee sich nicht in Kuwait gegen die Koalition der imperialistischen Armeen halten konnte, so war sie doch stark genug, um den Aufstand der Kurden im Blut zu ertränken. Das tat sie auch, vor den Augen der gefühllosen und in Wirklichkeit mitschuldigen westlichen Armeen, die es gar nicht störte, bei der Unterdrückung von Bevölkerungen zuzusehen, denen ihre Propaganda - zu Unrecht - weisgemacht hatte, dass sie sie gegen die Diktatur von Saddam Hussein unterstützen würden.

Was die westlichen Führer eigentlich viel mehr befürchteten, als das Weiterbestehen von Saddam Hussein an der Macht, war eben die unkontrollierbare aufständische Situation, die sich aus dem Einsturz der Diktatur ergeben konnte, oder zumindest die anarchische Situation, die eine Machtleere bewirken konnte. Diese konnte zu einer Aufteilung des Iraks unter verschiedenen bewaffneten Gruppen führen, sowie das im Libanon während des Bürgerkrieges geschah.

Trotz dieses Vorausberechnens konnten die westlichen Leiter einen Anfang von "Libanisierung" des Iraks, jedenfalls im nördlichen kurdischen Gebiet, nicht völlig verhindern. Die repressiven Maßnahmen der irakischen Armee, die Tausende Asylsucher in der Türkei vor sich hin jagte, konnten die Einrichtung von Flüchtlingslagern auf dem türkischen Territorium bedeuten. Das wollte aber die Regierung von Ankara unter keinen Umständen. Die türkische Armee - die schon mit einer Operation blutiger Unterdrückung der Handlungen der PKK, der Organisation kurdischer Guerilla in der Türkei, befangen war - verweigerte diesen Zufluss von Flüchtlingen, der imstande war, die Situation im türkischem Kurdistan noch etwas mehr zu destabilisieren und derjenigen, die sie bekämpfte, eine Basis zu liefern.

Das war die Ursache der amerikanischen Operation "Provide comfort". Sie bestand darin, zuerst Hilfspakete für die irakischen kurdischen Flüchtlinge, die im Gebirge am Rande der beiden Länder zelteten, mit Fallschirmen abzuwerfen und den Flüchtlingen dann zu versprechen, dass sie in ihre Häuser unter den Schutz der amerikanischen Armee in Sicherheit zurückkehren könnten. Gleichzeitig verkündeten dann auch die USA eine Flugverbotszone im Norden des 36. Breitengrades. Das hieß, dass es in der kurdischen Gegend des Nordirak den Kampfflugzeugen von Saddam Hussein verboten war, einzugreifen aber dass es seinen Bodentruppen nicht klar verboten war, es zu tun.

Unter diesen Bedingungen wurde so die kurdische "Schutzzone" im Nordirak geschaffen, eine Zone, in der die rivalisierenden kurdischen Milizen von Barzani und Talabani sich einige Jahre an der Macht halten konnten, indem sie eine Art Status Quo mit der irakischen Armee aufrechterhielten.

Allerdings fanden sich die imperialistischen Führer nur mit dieser Situation ab, weil sie verhindern wollten, dass ein Ansturm kurdischer Flüchtlinge oder sogar bewaffneter Gruppen das Regime in Ankara, einen wichtigen Alliierten der USA und ein Schlüsselelement für die imperialistische Ordnung in der Region unterminierten. Aus dem gleichen Grund stand es außer Frage, dass die USA erlauben würden, dass aus dieser Situation heraus ein kurdischer Staat im Nordirak gegründet würde: Die Türkei konnte auch nicht akzeptieren, dass ein kurdischer Staat geschaffen würde, der den Kampf der Kurden in der Türkei verstärken würde. Das gleiche galt übrigens auch für die Regimes in Syrien und im Iran, zu denen die USA natürlich nicht so enge Beziehungen wie zu der Türkei haben, die sie aber genauso wenig destabilisieren wollen wie das irakische Regime.

Ein kurdischer Staat, den der Imperialismus nicht wollte

Deswegen wünschten die imperialistischen Führer - trotz ihrer Verurteilung Saddam Husseins und ihrer gelegentlichen Erklärungen, in denen sie das kurdische Volk gegen die Diktatur in Bagdad unterstützen, eigentlich nur, dass die Situation auf die für sie bequemste Art durch die Wiederherstellung der Autorität Bagdads im Nordirak geregelt würde. Das Verhalten der Vereinigten Staaten im Lauf dieses Monats hat dies gerade wieder gezeigt. Wenn amerikanische Raketen gegen den Irak abgeschossen wurden, so war das offensichtlich vor allem, weil Präsident Clinton inmitten seines Wahlkampfs eine Machtkundgebung in Bezug auf das Regime in Bagdad brauchte. Aber die Auswahl der militärischen Ziele und selbst die ausdrücklichen Erklärungen der amerikanischen Wortführer zeigten, dass die USA Saddam Hussein auf gar keinen Fall daran hindern wollten, seine Truppen ins Kurdengebiet einmarschieren zu lassen.

Eigentlich hat das irakische Regime den westlichen Führern ein Problem abgenommen, mit dem sie nicht so einfach fertig werden konnten und ihnen somit eine Gefälligkeit erwiesen. Es gab für sie nur eine Bedingung: Nämlich dass dies nicht mit exzessiven, sichtbaren repressiven Maßnahmen, die sie gegenüber ihrer eigenen öffentlichen Meinung in Schwierigkeit bringen könnte, verbunden wäre. Denn das konnte die Illusionen, die die Bevölkerung Amerikas und Europas noch gegenüber der scheinheiligen Behauptung dass die bewaffneten westlichen Interventionen zum Ziel hatten, das "Völkerrecht" zu sichern, haben konnte, zerstören.

Leider haben die imperialistischen Führer und das Regime in Bagdad in diesem Punkt unbezahlbare Hilfe von den irakischen Kurdenführern erhalten, die sich in den vergangenen fünf Jahren dazu bemüht haben, zu zeigen, dass sie keineswegs besser sind als die kurdischen Führer der benachbarten Regimes in Bagdad, Ankara, Damaskus oder Teheran.

Die wichtigsten kurdischen Parteien

Die kurdischen Parteien und ihre Milizen haben überhaupt nichts Demokratisches an sich. Es sind bewaffnete Banden, die Kriegsherren folgen, welche gleichzeitig Feudalherren sind. Das gilt besonders für die Partei von Masud Barzani, die Demokratische Partei Kurdistans (DPK), die sich um diesen traditionellen irakischen Stammesführer gebildet hat, der diese Rolle selbst von seinem Vater, Mustafa El Barzani, einem dreißig Jahre lang kurdischen Guerillaführer) geerbt hat, so wie man ein Grundstück oder ein Haus ererbt. Dies gilt aber auch für die zweitgrößte kurdische Partei im Irak, die Patriotische Union Kurdistans (PUK) von Dschabal Talabani, selbst wenn diese versucht hat, sich das Image einer moderneren nationalistischen Organisation zu geben.

Die kurdische Guerillaorganisation in der Türkei, die PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) liegt den nationalistischen Organisationen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in vielen armen Ländern entstanden sind, sehr nahe. Nachdem die PKK sich am Anfang auf den Maoismus berief, ließ sie sich dann offensichtlich von den Methoden des algerischen FLN oder anderer Organisationen dieses Typs beeinflussen. Es handelt sich um eine rein nationalistische Organisation, die sich selbst als die einzige legimitierte Vertreterin der Kurden der Türkei ausgibt und die ihnen ihre Führung und diejenige ihres Chefs Abdullah Öcalan (der den Beinamen "Apo" trägt) vorschreiben will, wobei sie dazu bereit ist, mit Waffengewalt alle eventuellen Konkurrenten zu beseitigen. Als Führer einer bürgerlichen nationalistischen Organisation, die vom kurdischen Kleinbürgertum und von seinen Notabeln als ihre Vertreterin angenommen werden will, will auch "Apo" den türkischen Leitern seine Bereitschaft zur Zusammenarbeit und zum Dialog beweisen. Er hat kürzlich auch erklärt, dass die ursprünglichen Hinweise auf den Marxismus-Leninismus von jetzt an überholt wären.

Sei es in der fast feudalen Version der DPK von Barzani oder sei es in der moderneren Version der PUK von Talabani oder der PKK von Öcalan, auf jeden Fall überschreiten die größten kurdischen Organisationen nicht nur nicht die Grenzen des Nationalismus, aber es handelt sich um einen eng auf die Grenzen der Länder, in denen sie aktiv sind, beschränkten Nationalismus. Die PKK will nur die türkischen Kurden vertreten und wendet sich gar nicht politisch an die irakischen und iranischen Kurden. DPK und PUK sind Konkurrenten aber nur was die irakischen Kurden betrifft. Die größten kurdischen Organisationen des Irans haben auch grundlegend dieselbe Politik.

Ein "Realismus", der zum Scheitern führt

Alle diese Organisationen benehmen sich so unter dem Vorwand der Realpolitik: Sie geben vor, dass es unmöglich ist, alle Feinde gleichzeitig bekämpfen zu wollen und dass man versuchen muss, sich mit einem oder mehreren der bestehenden Regime zu verbünden. So suchte die kurdische Guerilla des Iraks immer schon die Unterstützung des Irans, dessen chronischer Konflikt mit dem Irak ihn dazu führen konnte, kurdische Gruppen zu bewaffnen, um dem Bagdad-Regime Schwierigkeiten zu bereiten. Das Gleiche gilt für die iranische kurdische Guerilla, die die Unterstützung des Iraks sucht. In der Türkei profitierte die PKK von Öcalan von der Unterstützung Syriens und versuchte sich zumindest die Neutralität des Iraks zu versichern. Die DPK und die PUK des irakischen Kurdistans haben Beziehungen zum türkischen Regime angeknüpft, um dieses davon zu überzeugen, dass sie die PKK nicht gegen Ankara unterstützen würden und auch dass die Einrichtung eines kurdischen Staats im Norden des Iraks eher eine Stabilitätsgarantie für das türkische Kurdistan wäre. Diese politische Haltung hatte auch dann ihre Verlängerung auf militärischem Gebiet. Man sah die irakische kurdische Guerilla die Truppen der PKK bekämpfen, um sie daran zu hindern, im irakischen Territorium, Stützpunkte für ihre Operationen auf dem türkischen Gebiet einzurichten. Der "Realismus" bestand in dem Fall darin, dass die kurdische Guerilla des Irak selbst die der PKK feindliche Ordnung im Irak überwachte und das unter dem Vorwand, es zu vermeiden, das die türkische Armee es selber täte, was sich letztere natürlich doch nicht versagte.

Diese Organisationen behaupten, für die kurdischen nationalen Forderungen zu kämpfen. Aber ihre Politik reduziert sie fast nur zu Hilfstruppen der Armee des auf der anderen Seite der Grenze liegenden Landes, zu Hilfstruppen also, die von der Unterstützung oder von der Gefälligkeit dieses Landes abhängen. Als Hilfstruppen brechen sie zusammen, sobald die Regierung des Landes aus Gründen politischer Zweckmäßigkeit, damit aufhört, sie zu unterstützen. Man kann sich dabei an das fast unverzügliche Zusammenbrechen der kurdischen Guerilla von Mustafa El Barzani im Irak 1975 erinnern, als das Schah-Regime infolge einer Vereinbarung zwischen Bagdad und Teheran von heute auf morgen seine irakischen kurdischen Schützlinge fallen ließ. Und zweifellos etwas Gleichartiges erklärt, in diesem September 1996, im Irak, das fast kampflose Zusammenbrechen der PUK von Talabani vor Masud Barzani und seiner DPK, dem allerdings die irakische Armee half. Die PUK zählte zweifellos zu Unrecht auf eine iranische Unterstützung, die nicht kam. Au der anderen Seite wussten Masud Barzani und die DPK, dass die Armee von Bagdad eines Tages ihre Vorherrschaft über den Norden des Irak wieder erringen wollte. Dem gegenüber fanden sie kein anderes Mittel, ihren Einfluss zu retten, als sich als Hilfskräfte der Armee von Saddam Hussein gegen ihre Rivalen der PUK zu verhalten. Indem Barzani die Armeen von Saddam Hussein gegen die Truppen von Talabani, die er als Verbündete des Iran des "Verrats" anklagte "zur Hilfe" rief, hat Barzani Saddam Hussein den Vorwand geliefert, den er brauchte, um wieder in Kurdistan festen Fuß zu fassen. Er verschaffte gleichzeitig der amerikanischen Regierung eine bequeme Ausrede, womit sie ihre Nichtintervention mit dem Argument rechtfertigen konnte, dass es sich hier um einen rein "innerkurdischen Konflikt" (zwischen DPK und PUK) handelte, in den sie sich nicht einzumischen hatten.

Barzanis Verhalten ist eigentlich nur eine Folge anderer Episoden, in denen die Milizen der PUK und der DPK sich erbittert um die Kontrolle verschiedener Teile des "befreiten" Kurdistans bekämpften. Barzanis Berufung auf Saddam Hussein ist nur ein weiterer Schritt dieser "Realpolitik" - oder dieses Zynismus.

In diesem Kampf zwischen bewaffneten Cliquen ist ganz klar die Meinung des kurdischen Volkes das Letzte wonach gefragt wird. Höchstens wird es unter mehr oder weniger Druck dazu eingeladen, Kämpfer für die kriegsführenden Milizen zu stellen; und das kurdische Volk ist auf jeden Fall das Opfer aller repressiven Maßnahmen, die regelmäßig jedem Machtwechsel folgen - Maßnahmen, denen es nur dadurch entgehen kann, dass Flüchtlinge sich entlang der Straßen drängeln und gegen die nächstbeste Grenze anrennen, wobei die Armee des Nachbarlandes sich davor hütet, ihnen den Grenzübertritt zu erlauben. Diese wiederholten Tragödien in den Grenzgebieten zwischen Irak, Iran und der Türkei haben die Führer der verschiedenen kurdischen Fraktionen nicht daran gehindert, an derselben Politik festzuhalten.

Keines der betroffenen Regime ist etwas anderes als eine Militär- oder Polizeidiktatur. Da sie nicht einmal ihrer eigenen Bevölkerung ein ernst zunehmendes demokratisches Recht zustehen, ist es außer Frage für sie irgendein Autonomierecht der kurdischen Bevölkerung anzuerkennen, selbst nicht in einem Nachbarland. Trotz aller Konflikte, die sie trennen, stecken die irakischen, iranischen, türkischen und syrischen Regime unter einer Decke, wenn es darum geht, der kurdischen Bevölkerung dieses Recht zu verweigern. Der Imperialismus selbst, der auf die Hilfe dieser verschiedenen Regime angewiesen ist, um die Ordnung in der Region aufrechtzuerhalten, ist ebenso sehr ein Mitwisser. Somit schützt der vermeintliche politische Realismus, den diese kurdischen Organisationen an den Tag legen, unter dem Vorwand, bei zumindest einem dieser Regime in Gunst zu stehen, sie selbst genauso wenig wie ihr Volk.

Ein unabwendbares Schicksal?

Die nationalistischen Organisationen bieten den nationalen und demokratischen Bestrebungen des kurdischen Volkes nicht mehr als eine Sackgasse. Diese Organisationen praktizieren nicht einmal in irgendeiner Form einen Nationalismus, der den Anspruch auf die Schaffung eines Nationalstaates für das ganze kurdische Volk erhebt. Alles was sie zu bieten haben ist es ihre irakische, türkische, iranische oder syrische Fraktionen in den Dienst rivalisierender, reaktionärer politischer und militärischer Apparate zu stellen.

Die Zersplitterung der Kurden auf vier Staaten, die Teil des imperialistischen Systems sind, ist ein enormes Hindernis für die Schaffung eines kurdischen Nationalstaates, weil die Schaffung eines solchen Staates unweigerlich den Status Quo in einer für die imperialistische Ordnung strategisch wichtigen Region in Frage stellen würde. Aber diese Situation könnte auch zu einem Vorteil verwandelt werden, vorausgesetzt dass man entschlossen ist, diese imperialistische Ordnung nicht zu akzeptieren, die bis jetzt niemals dazu bereit war, den nationalen Bestrebungen der Kurden gerecht zu werden. Umso mehr weil es keinen ersichtlichen Grund gibt, warum die Imperialisten in der Zukunft in diesem Punkt ihre Meinung ändern sollten - es sei denn sie würden, zum Beispiel, versuchen den kurdischen Nationalismus als Waffe gegen eine von anderen Völkern der Region ausgehenden Revolution auszunutzen.

Diese Zersplitterung könnte aber auch ein Vorteil werden, vorausgesetzt, dass eine Politik durchgeführt würde, die in vollständigem Gegensatz zur beschränkten Politik der nationalistischen kurdischen Organisationen steht, vorausgesetzt also dass die betreffenden Organisation im Namen eines mutigen Programms mit demokratischen und sozialen Forderungen kämpfen - Forderungen, die nicht nur in der Lage sind die verstreuten Fraktionen des kurdischen Volkes zu vereinigen sondern ebenso die ausgebeuteten Klassen anderer Völker. Alle Völker der Region haben miteinander gemein, durch autoritäre Regime unterdrückt, durch den Imperialismus geplündert, in archaischen Gesellschaftsordnungen eingesperrt zu sein.

Die Geopolitik und die Geschichte haben das kurdische Volk in eine, in vieler Hinsicht mit der des palästinensischen Volkes vergleichbare Situation, gestellt. Vergleichbar sind auch die Gründe, aus denen ihnen das Recht auf ein wirkliches Staatsdasein verweigert wurde. Das palästinensische Volk, das zwischen mehreren reaktionären arabischen Staaten zerstreut wurde, war tatsächlich während mehrerer Jahre ein revolutionärer Faktor im ganzen Nahen und Mittleren Osten. Diese Rolle wollten seine nationalistischen Leiter nicht übernehmen. Sie zogen es vor, sich mit der Karikatur von einem Staat zu begnügen, die Israel und der Imperialismus ihnen anboten.

Das kurdische Volk könnte vergleichbare Möglichkeiten haben. Mit den arabischen, türkischen, iranischen Bevölkerungen vermischt, könnte es in der Region ein revolutionärer Hebel werden, dazu fähig, diese imperialistische Ordnung zu erschüttern, von der es nichts, nicht einmal die Genugtuung des Rechtes auf einen wirklichen Staat zu erwarten hat.

Das oft zitierte Sprichwort, nach dem "die Kurden keine Freunde als die Berge haben", entspricht nicht der Wirklichkeit. Es ist dagegen wahr, dass die Kurden weder auf der Seite der imperialistischen Mächte, weder auf der Seite der Regime der vier Staaten unter denen sich ihr Territorium aufteilt, noch auf der Seite ihrer gegenwärtigen Leiter echte Freunde haben. Aber sie haben mögliche Verbündete, zuerst in den Kurden der Nachbarstaaten und dann auch in den Volksmassen, in der Arbeiterklasse und in allen Ausgebeuteten dieser Staaten, deren Feinde die Regime von Bagdad, von Teheran, von Damaskus oder von Ankara, im selben Masse wie sie diejenigen der Kurden sind.

Am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts stellt die kurdische Bevölkerung sich nicht mehr nur aus in den Bergen verschanzten Bauern zusammen. Sie schließt eine städtische Bevölkerung und insbesondere eine heute zahlreiche Arbeiterklasse mit ein. Sie bewohnt in großer Anzahl die Städte des irakischen Kurdistans, einer industriellen und erdölfördernden Region. Und das betrifft auch die Großstädte des türkischen Kurdistans. Endlich bilden die Kurden einen großen Teil der Arbeiterklasse der türkischen Großstädte, vor allem Istanbuls, der wirtschaftlichen Hauptstadt des Landes. Sie sind davon oft der klassenbewussteste, am meisten politisierte und linksorientierte Teil.

Ein proletarischer revolutionärer Weg

Diese Arbeiterklasse könnte eine im Klassenkampf entscheidende Rolle spielen und die türkischen, irakischen, iranischen und syrischen Arbeiterklassen beeinflussen. Aber das würde bedeuten, dass ihre Organisationen eine revolutionäre Politik führen und bereit sein müssten, diesen Regimen einen Kampf auszufechten, anstatt sie wie mögliche Stützen gegen die Nachbarstaaten darzustellen, wo doch diese Stützen nur trügerisch und immer bereit sind, den Kurden in den Rücken zu fallen.

Das würde bedeuten, dass man den Nationalismus der gegenwärtigen kurdischen Organisationen überschreitet. Letzterer ist übrigens nicht einmal ein Nationalismus, der dem gesamten kurdischen Volk eine Perspektive gibt, sondern nur ein Mittel je nach Fall eine irakische, iranische, türkische oder syrische Fraktion in den Dienst reaktionärer militärpolitischer Apparate zu stellen. Aber um das gegenwärtige System der Mittäterschaft, das die vier Staaten verbindet, unter denen sich das kurdische Volk aufteilt, auszumerzen, müsste man aber zuerst das Gebiet der Ideen des Nationalismus verlassen.

Denn der kurdische Nationalismus kann kein gemeinsamer Nährboden für die kurdische, türkische oder für die arabische Arbeiterklasse Syriens und Iraks sein und auch nicht im Allgemeinen für die Völker der Gegend, die es alle gemeinsam haben, von den autoritären Regimen unterdrückt und vom Imperialismus geplündert zu werden. Eine solche Politik zu führen, wäre tatsächlich nur für proletarische, kommunistische und internationalistische Organisationen möglich, die sich nicht im Voraus auf die alleinige Genugtuung der nationalen Strebungen der Kurden beschränken.

Da sie jede Form der Unterdrückung bekämpft, wird die kurdische, türkische und arabische Arbeiterklasse natürlich nicht umhin können, in ihr Programm die Anerkennung des vollen Selbstbestimmungsrecht der Nationen einzuschreiben, und zuerst des Anrechts der Kurden, als eine Nation zu existieren, in ihrer eigenen Sprache zu sprechen, zu schreiben und zu studieren; ein elementares Recht, das ihnen das türkische Regime zum Beispiel seit siebzig Jahren ableugnet. Aber eine proletarische revolutionäre Bewegung würde sich nicht auf diese Ziele beschränken. Sie müsste für den Sturz der bestehenden Unterdrückerregimes kämpfen, für die Macht der proletarischen Massen der Türkei, des Irak, des Iran, Syriens und natürlich Kurdistans und für die Ersetzung der bestehenden Aufteilung des Nahen und Mittleren Ostens unter vom Imperialismus kontrollierten Regimes durch einen Sozialistischen Bund aller Völker der Region.

Wenn das kurdische Volk auch nur einfach sein Recht auf eine nationale Existenz durchsetzen will, hat es tatsächlich keinen anderen Weg, als an der Seite der Arbeiterklasse der Staaten, in denen es lebt, gegen die Vorherrschaft der lokalen Bourgeoisie und des Imperialismus und auch gegen die bürgerlichen oder feudalen Klane, die sich momentan als die Kurdenführer präsentieren, zu kämpfen.

Das erfordert den Aufbau proletarischer revolutionärer Organisationen, die auf dem Boden der Arbeiterbewegung kämpfen. Dies mag ein langer und schwieriger Weg sein. Es ist aber der einzige Weg für die kurdische Bevölkerung aus der jetzigen Einkreisung auszubrechen und mit allen ihren gleichfalls unterdrückten Schwestern einen Weg aus der Unterdrückung heraus zu suchen. Wie viele Misserfolge, wie viele Opfer und Massaker mussten die Kurden schon umsonst erdulden, nur weil ihre nationalistischen Führer ihre sinnlose Politik wiederholen?

26. September 1996