Die Krise der kapitalistischen Wirtschaft im Jahre 2017 (aus Lutte de Classe - Klassenkampf - von Dezember 2017)

Die Krise der Kapitalistischen Wirtschaft 2017
Dezember 2017

(Dieser Text wurde vom Lutte Ouvrière-Parteitag von Dezember 2017 angenommen)

Die Äußerungen der Regierung und der Medien zur Lage der Weltwirtschaft haben in den letzten Wochen wieder eine optimistischere Färbung angenommen. Oft kommt das Wort "Aufschwung" vor, allerdings abgeschwächt durch Adjektive wie "vorsichtig", "zart" usw.

Dieser Optimismus wird jedoch immer wieder von panischen Erklärungen über einen drohenden Finanzcrash unterbrochen.

Die Europäische Zentralbank (EZB) zeigt sich optimistisch in Bezug auf einen möglichen Aufschwung. Ihr Präsident Mario Draghi fügt jedoch hinzu: "unter der Voraussetzung, dass keines der vorhandenen Risiken Wirklichkeit wird". Na ja ...

Ihrerseits schreibt das französische Wirtschaftsforschungsinstitut OFCE in seinem letzten Bericht über die wirtschaftlichen Perspektiven: "In allen geographischen Regionen hat ein Aufschwung eingesetzt". Aber es fügt sogleich hinzu: "Die Stigmata der Krise sind noch nicht überwunden und wenn auch die Arbeitslosigkeit in der Eurozone zurückgeht, so bleibt sie doch weiter hoch".

Die Wirtschaftsprognosen, sogar die der repräsentativsten internationalen Organismen der kapitalistischen Wirtschaft, haben etwas von den Vorhersagen einer Wahrsagerin, die in der Kristallkugel liest.

Der Optimismus der bürgerlichen Wirtschaftswissenschaftler ist nur in zwei (parallelen) Bereichen wirklich gerechtfertigt: dem der Gewinne und dem der Dividenden, die den Aktionären ausgeschüttet werden.

Unter der Überschrift "Erfolgreichstes Halbjahr für die Unternehmen des CAC 40 (1)" betont die Zeitung Les Échos vom 1. und 2. September 2017: "In diesem einen Halbjahr haben die Unternehmen des CAC 40 ebenso viel Gewinn gemacht wie im ganzen Jahr 2013 und fast so viel wie im ganzen Jahr 2015: 50,241 Milliarden Euro, das ist eine Steigerung von 23,6% innerhalb eines Jahres [...]. Die Rekordgewinne von 96 Milliarden Euro im Jahr 2007 [am Vorabend des Ausbruchs der derzeitigen Krise, Anmerkung des Verfassers] scheinen auf kurze oder weniger kurze Sicht nicht mehr unerreichbar zu sein [...]. Die gute Nachricht ist ebenfalls das beschleunigte Wachstum des Umsatzes (+ 6,9%): ,Alle Kennzahlen stehen zum ersten Mal seit langem auf Grün', bemerkt das Kabinett Ricol Lasteyrie."

Der weltweite Aktienverantwortliche des Finanzdienstleisters Amundi (ein Unternehmen für Vermögensverwaltung) versichert seinerseits: "Man kann damit rechnen, dass wieder eine Rentabilität wie in der Zeit vor der Krise erreicht wird".

Diese Rekordgewinne spiegeln sich in den Dividenden wieder, die den Aktionären ausgeschüttet wurden: 1.154 Milliarden Dollar wurden ihnen von den 1.200 größten Konzernen der Welt ausbezahlt. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs, denn diese Zahlen berücksichtigen nicht die Hedgefonds und die Bankfilialen, die ihren Sitz in den Steueroasen haben.

Auf dieser Ebene verlieren die Zahlen selbst jede Wirklichkeit. Die Zahlen des angehäuften Reichtums sind jedoch sofort wieder real, wenn man sie mit den Cents vergleicht, die man bei den Gehältern einspart, oder mit den abgeschafften Pausen am Fließband, oder auch mit den im Supermarkt, die gezwungen sind, eine Windel zu tragen, weil man ihnen verbietet, während der Arbeit auf Toilette zu gehen.

Hinter den Wirtschaftszahlen steht ein reales Klassenverhältnis: die beständige Bereicherung des Großbürgertums. Es wäre stumpfsinnig, die lange Liste der Milliardäre aufzuzählen, die in der hierfür spezialisierten Zeitschrift Forbes aufgeführt werden. Ihre Zahl nimmt zu, der Reichtum jedes einzelnen noch mehr.

Die Banken ihrerseits, die 2008/9 durch große Finanzspritzen vor dem Zusammenbruch gerettet wurden und auch weiterhin massiv mit öffentlichen Geld unterstützt werden (sowohl durch die US-Notenbank FED als auch durch die Europäische Zentralbank), erzielten Rekordgewinne: Die 6 größten französischen Banken verbuchten 23 Milliarden Euro Gewinn im Jahre 2016; die größte amerikanische Bank JP Morgan allein 27,8 Milliarden Dollar.

Gewisse Kommentatoren glauben, die Anzeichen eines Aufschwungs auf anderen Gebieten erkennen zu können: An der Tatsache, dass es in Frankreich dieses Jahr mehr Betriebsgründungen als Betriebsschließungen gab; an dem angeblichen Rückgang der Arbeitslosigkeit in Deutschland, Großbritannien oder auch den Vereinigten Staaten; oder daran, dass die Preise der Industriemetalle weltweit wieder steigen, was eine wachsende Nachfrage widerspiegeln würde.

Diese Behauptungen zeugen im besten Fall von naivem Optimismus, viel häufiger jedoch sind sie grobe Verzerrungen der Wirklichkeit oder schlicht und einfach Lügen.

Die Zeitung Le Monde vom 29. September kündigt auf der Titelseite in triumphierendem Ton an: "Frankreich schafft endlich wieder Fabriken". Der Untertitel lautet: "In diesem Halbjahr gab es mehr Betriebseröffnungen als Schließungen, eine Premiere seit 2009." Aber der Hauptteil des Artikels schwächt diese Behauptung ab. Er fügt hinzu, dass "dieser Aufschwung weit davon entfernt ist, die Jahre der Desindustrialisierung auszulöschen: Das Land zählt noch immer ungefähr 570 Fabriken weniger als im Jahr 2009." Und vor allem erklärt der Artikel, dass "die neuen Fabriken wesentlich kleiner sind als diejenigen, die geschlossen wurden - es handelt sich wahrscheinlich um Startups mit ungewisser Zukunft - und dass "die Betriebe, die gegründet werden, im Allgemeinen weniger Personal haben als die, die geschlossen wurden".

Nach dem Wirtschaftsforschungsinstitut Trendeo verbleibt die industrielle Produktion rund 10 Prozent unter dem Niveau von 2007.

Bei ihrem Kommentar zu den Arbeitslosenstatistiken des INSEE (des Nationales Institut für Statistik und Wirtschaftsstudien) schreibt die Zeitung Le Monde vom 7. Oktober auf der Titelseite: "Der Aufschwung geht weiter, aber die Arbeitslosigkeit geht zu langsam zurück."

Man kann also sogar aus den offiziellen Zahlen eigentlich keine großen Schlussforderungen bezüglich des Aufschwungs ziehen. Aber das macht nichts: Woanders geht es deutlich besser!

Die Wirtschaftsexperten der Bourgeoisie stellen Frankreich als Sonderfall hin, im Vergleich zu den Nachbarländern Deutschland und Großbritannien, wo die Arbeitslosigkeit angeblich rückläufig wäre. Die USA wären sogar auf dem Weg zur Vollbeschäftigung.

Das ist eine unverschämte Lügenkampagne. Sogar da, wo "sich die Arbeitslosigkeit im engeren Sinn stabilisiert [...], explodiert die Zahl der unsicheren Arbeitsplätze." (Alternatives Économiques). Was der statistische Jargon "Arbeitslosigkeit im engeren Sinn" nennt, ist die Arbeitslosigkeit der Kategorie A, das heißt die Arbeitslosen, die in den letzten Monaten überhaupt nicht gearbeitet haben. Ihre Zahl beträgt in Frankreich (ohne Überseegebiete) 3,5 Millionen. Aber in dieser Zahl sind weder diejenigen enthalten, die zwar gearbeitet haben, aber nur weniger als 78 Stunden, noch die Arbeitssuchenden, die sich in einer Maßnahme oder einem vom Arbeitsamt subventionierten Arbeitsplatz befinden. Diese werden unter dem netten Ausdruck "verminderte Beschäftigung" zusammengefasst, sprich mit einem verminderten Lohn, und zwar so vermindert, dass er den betroffenen Arbeitern nicht ermöglicht, von einem Arbeitsplatz alleine zu leben.

In Deutschland ist die Arbeitslosigkeit tatsächlich niedrig. Zwischen 1992 und 2013, also innerhalb von 20 Jahren, stieg die Zahl der Berufstätigen um 4 Millionen an. In der gleichen Zeit aber sank die Gesamtzahl der jährlich gearbeiteten Stunden von 68 Milliarden auf 66 Milliarden - obwohl viel mehr Menschen Arbeit hatten!

Deutlich mehr Menschen arbeiten, aber insgesamt weniger Stunden: Die Realität besteht in einem starken Anstieg unfreiwilliger Teilzeitstellen mit entsprechenden Teil-Gehältern oder Minijobs mit weniger als 20 Stunden im Monat, von denen man nicht leben kann, ohne zwei oder mehr von ihnen gleichzeitig zu machen.

Seit der Wirtschaftskrise des Jahres 2008 stieg die Teilzeitarbeit in Frankreich um 80% an.

In Großbritannien genügt es, wenn man eine Stunde in der Woche gearbeitet hat, um in dieser Woche nicht mehr als ein Arbeitsloser gezählt zu werden.

Und was die "Vollbeschäftigung" betrifft, die sich angeblich in den Vereinigten Staaten ankündigt (die offiziellen Statistiken sprechen von einer Arbeitslosenquote von 4,4%), so ist sie nichts als eine plumpe Manipulation der Wirklichkeit. Die Webseite Shadow Statistics, die alle "entmutigten" Arbeitenden mit einberechnet (eine Kategorie, die seit 1994 in den Statistiken nicht mehr erfasst wird), schätzt die reale Arbeitslosenquote auf 23%.

Die Zahlen, die man uns vor die Nase hält, sollen uns glauben machen, dass die Arbeitslosigkeit zurückgeht. Doch in Wahrheit zeigen sie etwas ganz Anderes. Sie zeigen, wie sehr es den kapitalistischen Unternehmen und ihren Aktionären gelungen ist, das Kräfteverhältnis auszunutzen, dass die Massenarbeitslosigkeit ihnen sichert, um die unsicheren Arbeitsverhältnisse und die Flexibilität zu verallgemeinern, die Ausbeutung zu verschärfen und Zahl der Beschäftigten bedeutend zu vermehren, die zwar arbeiten, aber trotzdem in Armut versinken.

Ein anderer Faktor, der man immer wieder als Zeichen einer Konjunkturerholung anführt, ist der starke Anstieg der Grundmetallpreise auf dem London Metal Exchange (dem größten Markt für diese Produkte): Eisen, Kupfer und Zink. Das ist in der Tat im Vergleich zum letzten Jahr eine neue Entwicklung, denn die Kurse dieser industriellen Rohstoffe waren seit Mitte des Jahres regelrecht eingebrochen.

Der Kupferkurs zum Beispiel ist um 15% gestiegen. Daher ziehen die beiden weltweit größten Produzenten dieser Rohstoffe, Chile und Peru, Investoren an, darunter auch diejenigen, die in die Produktion investieren, also neue Bergwerke eröffnen und Arbeiter einstellen. Der Anstieg der Kupferpreise hat übrigens wohl einen erbitterten Wettkampf zwischen den großen Konzernen und den hinter ihnen stehenden Banken ausgelöst. "Laut der S.P. Global Market Intelligence wurden in Lateinamerika, wo sich 40% der weltweiten Kupferreserven befinden, seit 2013 nicht so viele Löcher zur Entdeckung neuer Kupfervorkommen gebohrt wie in diesem Jahr" bekräftigt die Zeitung Les Échos vom 28. September.

Die vorherige Stagnation der Produktion hatte zu einer verminderten Nachfrage nach Rohstoffen geführt, die die Preise hatte einbrechen lassen. Dieser Einbruch hatte zur Schließung zahlreicher Bergwerke, zu einem Abzug des Kapitals und zu Entlassungen geführt.

Der Einbruch war wahrscheinlich übertrieben. Die Spekulanten sehen jetzt offenbar eine Gegenbewegung voraus. Die Prognose, dass der Preis für Eisenerz, der sehr stark gefallen war, wahrscheinlich wieder steigen wird, zieht nicht nur Kapital an, das in die Förderung von Eisenerz investiert wird, sondern auch spekulatives Kapital.

Letzteres wird einzig deshalb in Rohstoffe investiert in der Hoffnung, dass man die Anteile wiederverkaufen kann, bevor die Kurse wieder zu fallen beginnen. Es sind also keine tatsächlichen Investitionen.

Diese rein finanziellen, das heißt spekulativen Antizipationen verstärken so die Schwankungen der Produktion.

Das Kapital, das in Industriebetrieben investiert werden, wird auch für Fusionen und Übernahmen verwendet, das heißt Transaktionen, bei denen größere Firmen kleinere aufkaufen. Diese Transaktionen haben in diesem Jahr stark zugenommen und führen zu einer wachsenden Konzentration des Kapitals, jedoch ohne produktive Investitionen oder Arbeitsplätze mit sich zu bringen. Im Gegenteil: Die Umstrukturierungen, zu denen die Fusionen und Übernahmen gewöhnlich führen, werden von Entlassungen begleitet.

Dieser Typ Investitionen steht zwar mit der Produktion in Verbindung, schafft jedoch keine neuen Produktivkräfte. Er besteht im Wesentlichen darin, den Marktanteil eines Konkurrenten aufzukaufen. Ganz abgesehen von der Verstrickung der Staaten in den Aufkauf der Firma Alstom durch Siemens oder dem der Schiffswerften STX durch Fincantieri, waren Wirtschaftskrisen schon immer Zeiten der Kapitalkonzentration. Den gigantischen Großkonzernen, die einen Wirtschaftssektor beherrschen, folgen andere, noch mächtigere Großkonzerne. Der Imperialismus ist die Herrschaft der Monopole. Die Finanzialisierung verschafft den Monopolen immer mehr Mittel, indem sie den Saft aus dem gesamten wirtschaftlichen Leben heraussaugt.

Dass die Großkonzerne ihre eigenen Aktien aufkaufen, schafft natürlich ebenfalls keine zusätzlichen Produktivkräfte. Es ist jedoch eines der bevorzugten Dinge, für das die Aufsichtsräte der Großkonzerne ihre Profite verwenden. Die amerikanische Zeitschrift Foreign Affairs behauptet, dass die Firmen des S & P 500 (das heißt die 500 größten Konzerne, die an den amerikanischen Börsen notiert werden) zwischen 2003 und 2012 54% ihrer Profite für den Aufkauf ihrer eigenen Aktien verwendet haben. Es kommt noch besser: Sie leihen sich sogar Geld dafür! Die Finanzschlange beißt sich sozusagen in den eigenen Schwanz. Aber diese Absurdität ist vom Standpunkt der Großaktionäre nicht absurd. Einen Teil der Aktien des eigenen Unternehmens aufzukaufen und zu zerstören erhöht automatisch den Wert der restlichen Aktien und nutzt damit den reichsten Aktionären. Es ist eines der wirksamsten Mittel, um die Reichsten immer mehr zu bereichern und die Ungleichheit sogar innerhalb der besitzenden Klasse zu vergrößern.

Wie es die Zeitung Le Monde schreibt, haben "die Investmentfonds Geld in Hülle und Fülle. Die Banken streiten sich darum, ihnen ergiebige und billige Finanzierungen anzubieten und die Versuchung, immer mehr Schulden zu erlauben, ist groß". Anders gesagt, die Versuchung, Kapital in staatliche Obligationen, Schatzbriefe und so weiter anzulegen, das heißt in Wertpapiere, die Staatsschulden darstellen, ist umso größer. Marx sprach schon von der Funktion der öffentlichen Schuld, die "mit dem Schlag der Wünschelrute das unproduktive Geld mit Zeugungskraft begabt und es so in Kapital verwandelt, ohne dass es dazu nötig hätte, sich von industrieller und selbst wucherischer Anlage unzertrennlichen Mühwaltung und Gefahr ausgesetzt wird..." (Das Kapital).

Die Finanzialisierung, die zu einem Aufblähen der finanziellen Sphäre führte, segnete diesen Stab mit einer unvergleichlich größeren Stärke als zur Zeit von Marx.

Die Finanzwirtschaft ist wieder im Zustand einer Überhitzung. Die Schulden erreichen neue Rekorde, sowohl in den USA als auch in China. Es geht dabei um die Schulden der Staaten, aber auch um die der (privaten) Haushalte. Das bringt die Zeitung Le Monde (9-10. Juli 2017) dazu zu schreiben, dass "die Schuldenlast der amerikanischen Haushalte noch nie so groß war [...] 50 Milliarden mehr als im dritten Quartal 2008, vor dem Konkurs der Lehman Brothers Bank", und sie gibt ihrem Artikel die Überschrift: "Die Saat des nächsten Sturms an den Finanzmärkten".

Die Gefahr eines solchen Unwetters ist so greifbar, dass der amerikanische Finanzminister es als Argument nutzen kann, um den Kongress zu erpressen, die von Trump vorgeschlagene Steuerreform schneller zu verabschieden. Die Zeitung Les Échos vom 19. Oktober kommentiert: "Die Äußerungen des Haushaltssekretärs hatten einen besonderen Klang, wurden sie doch einen Tag vor dem Jahrestag des Black Monday getätigt, also des schwarzen Montags im Oktober 1987, der von dem größten Einbruch des Börsenindex Dow Jones in seiner Geschichte gekennzeichnet war (- 22,6% an einem einzigen Tag)."

Die Politik, die darin besteht, die Ressourcen und Möglichkeiten des Staates den Bedürfnissen der Finanzwirtschaft unterzuordnen - das heißt den Finanzjongleuren und dem Großkapital, für das sie arbeiten - übersteigt die kleine Person von Macron (obwohl der Zynismus des Letzteren bemerkenswert ist, wenn er zum Beispiel die Wertpapiere aus der Besteuerungsgrundlage der Vermögenssteuer herausnimmt und dabei vorgibt, dies würde die produktiven Investitionen begünstigen!). Auf zig Arten und Weisen führen alle imperialistischen Länder diese Politik. Das Großkapital verlangt sie.

Die Unterordnung einer steigenden Anzahl von Bereichen des gesellschaftlichen Lebens unter das Finanzwesen - das Gesundheitswesen, die Betreuung pflegebedürftiger Menschen (in den Altersheimen), die Betreuung der Behinderten und so weiter - ist besonders niederträchtig. Obwohl auf technischer und medizinischer Ebene enorme Fortschritte vollbracht wurden, führt das Eindringen der Finanzialisierung in alle diese Sektoren, auf direkte Weise in den Privatkliniken oder den Altersheimen oder auf indirekte Weise im öffentlichen Dienst selber zu tiefgreifenden Rückschritten auf menschlicher Ebene. Was der Kapitalismus im Bereich der industriellen Produktion eingeführt hat, führt die Finanzialisierung in der menschlichen Sphäre ein: Die Kranken, die alten Leute, die Behinderten werden zu Waren!

Aber wozu werden eigentlich die in der Finanzwirtschaft angehäuften Milliarden verwendet?

Die Zeitung Les Échos ist erstaunt darüber, dass das kleine Irland der drittgrößte Gläubiger der USA geworden ist, hinter China und Japan, aber vor dem Vereinigten Königreich, Saudi-Arabien und sogar viermal so viel verleiht wie Frankreich. Die Zeitung kommentiert dieses Phänomen als eine "Merkwürdigkeit, die viel über das Gewicht der Investitionen der Konzerne aussagt."

Die in Irland angehäuften Schuldscheine sind US-amerikanische Staatsanleihen. Auch wenn sie in den Statistiken als Forderungen von Irland gegenüber den Vereinigten Staaten dargestellt werden, sind diese Wertpapiere nicht im Besitz des irischen Staates, sondern in dem der großen internationalen Konzerne, die dieses Land wegen seiner so attraktiven Besteuerung ausgewählt haben, um dort ihre Kriegskasse zu deponieren. Und Les Échos zitiert hier vor allem die großen amerikanischen Firmen: Google ist im Besitz von amerikanischen Anleihen im Wert von 37 Milliarden Dollar, Apple von 52 Milliarden, Microsoft sogar von 111 Milliarden...

Was machen also die Großkonzerne mit ihrer Kriegskasse? Im Besitz dieser gigantischen Summen, die sie nicht in die Produktion investieren, widmen sie sich Geldgeschäften, das heißt der Spekulation, genau wie die großen Hedgefonds es tun.

30 amerikanische Firmen, darunter Ford, Coca Cola und Boeing, sollen diverse Obligationen im Wert von über 800 Milliarden Dollar als Kapitalanlage angehäuft haben.

Neben den amerikanischen Staatsanleihen haben sie auch Unternehmensanleihen gekauft, das heißt Schuldtitel, die von den Firmen ausgegeben werden. Anders gesagt, die Konzerne rivalisieren mit den Hedgefonds.

Mit dem Sinn für Euphemismus, der die Wirtschaftsexperten des Bürgertums kennzeichnet, fügt die Zeitung Les Échos hinzu: "Dieses beeindruckende Erstarken der Firmen in der Sphäre der Obligationen kann eines Tages ein Problem für die finanzielle Stabilität werden".

Wir haben in der Vergangenheit bereits reichlich die Gründe der Finanzialisierung der Wirtschaft erklärt und den parasitären Charakter, den sie für die die kapitalistische Wirtschaft hat. Wir werden hier nicht darauf zurückkommen.

Diese Finanzialisierung wirkt von Jahr zu Jahr zu einer immer größeren Belastung für die Wirtschaft, sogar für die kapitalistischen Betriebe selbst. Les Échos vom 2. Oktober 2017 betitelt einen ihrer Artikel: "Die Aktivisten stellen die Beziehungen mit den Aktionären auf den Kopf" und fügt als Untertitel hinzu: "Fast zwei Drittel der Firmen halten sich für angreifbar angesichts des Risikos, dass die Aktivisten an der Börse darstellen."

Was die Zeitung als "Aktivisten" bezeichnet, das sind die Finanzgesellschaften, die man vor nicht langer Zeit noch als "Corporate Raiders" (Heuschrecken) bezeichnet hat. Es sind Spekulanten, die die Schwäche einer Firma, die Irrtümer oder das Versagen ihres Managements ausnutzen, um sie aufzukaufen, um dann die profitablen Bereiche stückweise und den Rest zu Schleuderpreisen zu verkaufen oder am Ende die Firma ganz zu schließen.

Und Les Échos betont weiterhin: "Die Aktivisten machen den kapitalistischen Betrieben große Sorgen. Und zwar aus gutem Grund. Eine Studie von Morgan Stanley zeigt, dass sich die Aktivitäten der Heuschrecken in Europa binnen 5 Jahren verdoppelt haben (119 zwischen Juli 2016 und Juni 2017). Und ihre Ziele sind so renommierte Betriebe wie Safran, Casino oder Nestlé,. Auch wenn diese Aktivitäten noch lange nicht das Ausmaß erreicht haben, das es in den Vereinigten Staaten hat (327 in einem Jahr), so stellt das plötzliche Auftauchen der Aktivisten mit ihrem zum Teil wenig orthodoxen Methoden eine echte Herausforderung für die Führungspersonen dar, die für die Beziehungen zu den Investoren verantwortlich sind."

Die Finanzialisierung schwächt die industrielle Produktion, während gleichzeitig der gesamte Mehrwert, der auch das Finanzwesen bereichert, in der industriellen Produktion entsteht, durch die Ausbeutung.

Die gleiche kapitalistische Bourgeoisie, ja sogar dieselben Individuen besitzen die Konzerne, die angegriffen werden, aber auch die Hedgefonds, die sie angreifen! Das Finanzwesen verschlingt die Industrie, der Kapitalismus verschlingt sich also gewissermaßen selbst.

Immer gigantischere Summen investierten Kapitals werden von einer Region der Erde in eine andere verschoben. Dieses Kapital hat schlimmere Konsequenzen für das Schicksal von Millionen Menschen als die Hurrikans oder Tsunamis, aber noch weniger vorhersehbare. Seinen Bewegungen liegt die Suche nach Profit zugrunde, und zwar der sofortige Profit. Es genügt, an die hochentwickelten Programme zu denken, mit denen die Kapitalbesitzer innerhalb weniger Mikrosekunden Geld gewinnen können, indem diese Programme jede kleinste Differenz zwischen den Wechselkursen, des Zinssätzen oder Aktienkursen ausnutzen. Es ist nicht notwendigerweise die Realität, von der sich diese Spekulanten bei ihrer Suche nach Profit leiten lassen, sondern das Bild, das die Kapitalisten sich von ihr machen und das, was sie von ihr erwarten.

Eine Erklärung von Janet Yellen, der Präsidentin der amerikanischen FED, oder von Mario Draghi, oder genauer gesagt, was die Finanzmärkte in diese hineininterpretieren, kann einen Sturm auf den Finanzmärkten auslösen. In einer internationalen Lage, die sich durch dauernde Schwankungen auszeichnet, können die Tatsache, dass Trump gegenüber Nordkorea oder Venezuela die Stimme erhebt, ein Attentat in London oder in Barcelona oder die Gefahr, dass ein Staat zerbricht, unvorhersehbare Kapitalbewegungen bewirken.

Es hat sich eine solche Menge an Sprengstoff angesammelt, dass das kleinste Streichholz zu einer Explosion führen kann. Wirtschaft und Politik sind miteinander verwoben, das kapitalistische System ist wahnsinnig geworden.

Der jüngste Wahnsinn des Systems ist die Spekulation auf virtuelle Währungen - Bitcoin oder Ethereum und einige andere - die gerade dabei ist, zu noch virtuellen Spekulationsblasen anzuschwellen, die aber zu einer realen Finanzkrise führen können.

Der Bitcoin ist eine Währung, die man per Computer tauscht und virtuell ist in dem Sinn, dass sie keiner Kontrolle unterliegt, nicht einmal derjenigen der Zentralbanken. Es gibt ungefähr zweihundert dieser virtuellen Währungen, die allgemein als Kryptowährungen bezeichnet werden und von der Finanzwelt verkauft und gekauft werden. "Der Markt existiert", behauptet die Zeitung Le Monde vom 6. Oktober 2017. "70 Hedgefonds investieren mittlerweile in diese virtuellen Währungen, die täglich im Wert von 750 Millionen Dollar gekauft und verkauft werden."

"Die virtuellen Währungen können die Startups finanzieren", kommentiert die Zeitung Le Figaro vom 9. Oktober. Aber auch wenn die Startups, die sich mit Softwareentwicklung beschäftigen, etwas mit der Erfindung dieser virtuellen Währungen zu tun haben - einige von diesen Betrieben glaubten sogar, dadurch dem Bankenkredit und dem Finanzwesen entgehen zu können - so ist ihnen ihre Kreatur schon seit langem entschlüpft. Der Geruch eines neuen Marktes lockt nämlich die Hedgefonds an. Und der besagte Markt wird immer größer, da er eben nicht aus unschuldigen Computerfreaks besteht, die ein Startup gründen wollen, sondern vor allem aus dem, was die Wirtschaftswissenschaftler schamhaft mit "Schattenwirtschaft" bezeichnen: Gewinnen aus dem Drogenhandel, Waffenhandel und Menschenhandel, aus Geldwäscherei in diversen Formen, und so weiter.

Diese virtuellen Währungen bringen exponentielle Profite hervor. Während der Vorsitzende von Goldman Sachs, einer der größten amerikanischen Banken, von dem Profit angelockt in Erwägung zieht, selber Bitcoins auszugeben, nennt sein Konkurrent JP Morgan diese virtuellen Währungen "Betrug" und spricht von "Schwindel".

Er weiß, wovon er spricht. Aber im Grund machen diese virtuellen Währungen nichts Anderes, als die Virtualität der Milliarden an Dollar und Euro, die sich in den elektronischen Stromkreisen um die Welt bewegen, bis zum Äußersten zu treiben.

Dieser Streit zwischen zwei hohen Tieren der kapitalistischen Wirtschaft könnte komisch sein, wenn sich hinter ihm nicht eine sehr reale Gefahr für Millionen von Personen verbergen würde, die nie von Bitcoin oder Ethereum gehört haben. Und wenn die Möglichkeit, mit diesen virtuellen Währungen Profit zu erzielen, nicht auf der Ausbeutung beruhen würde, die ebenfalls sehr real ist.

Die wachsende Finanzialisierung steigert den parasitären Charakter des Großkapitalismus immer weiter und gleichzeitig seine Widersinnigkeit. Die Bereicherung der Aktionäre der großen Konzerne, das heißt der Großbourgeoisie, basiert auf die Verschlechterung der Existenzbedingungen der Arbeitenden, sogar in den reichsten Industrieländern.

Doch die Finanzialisierung bereichert nicht nur eine kleine Schicht extrem reicher Kapitalisten auf Kosten der Arbeiterklasse. Sie zersetzt vor allem das ganze wirtschaftliche und soziale Leben.

Es kommt vor, dass einige der denkenden Köpfe des Großbürgertums sich darüber freuen, dass es ihnen bis jetzt, insbesondere im Jahre 2008, gelungen ist, einen Krach wie im Jahr 1929 zu verhindern.

Aber selbst dessen sind sie sich nicht so sicher, nach der Besorgnis zu urteilen, mit der sie die Bildung der zahlreichen Spekulationsblasen verfolgen. Aber ob nun der drohende Finanzkrach, der noch schlimmere Folgen haben würde als der 1929, stattfinden wird oder nicht - die schädlichen Auswirkungen der Finanzialisierung auf das ganze wirtschaftliche und soziale Leben, sind schon da. Der Zusammenbruch liegt nicht nur vor uns, er ereignet sich seit mehreren Jahren und betrifft alle Erscheinungsformen des wirtschaftlichen Lebens und dadurch auch das gesamte gesellschaftliche Leben.

Der wachsende Einfluss des Finanzwesens, ob direkt oder mittels der Einsparungen der Staatsapparate, fängt bereits an, alle Lebensbereiche zu verrotten, angefangen beim Gesundheitswesen über die Infrastruktur bis zum öffentlichen Bildungswesen.

In Deutschland, dem auf industriellem Gebiet wohl am höchsten entwickelten Land Europas, wird das Verkehrsnetz baufällig. Unentbehrliche Brücken auf Hauptverkehrsadern können nur noch LKWs bis zu einem gewissen Gewicht tragen. Die Schulen müssen sogar in den reichen Vierteln an die Großzügigkeit der Eltern appellieren, um wenigstens ein Minimum an Renovierungen möglich zu machen.

In Rom fehlt das Geld für die Instandhaltung der Kanalisation: Ihre Baufälligkeit führt zu immer massiveren Problemen, insbesondere bei Trockenheit. In diesem Sommer konnte die Stadt die Wasserversorgung nur dadurch aufrechterhalten, dass sie Wasser aus einem See auf Kosten anderer Gemeinden pumpen ließ. Gegenüber der Zeitung Corriere della Sera beziffert der Präsident des Öffentlichen Verbandes für die Wasserversorgung die Summe, die für die Erneuerung der Kanalisation nötig wäre, auf 2 Milliarden Euro. Das kann die Stadt aber nicht bezahlen, da sie bereits unter der Last von 15 Milliarden Euro Schulden zusammenbricht. Es ist unmöglich, gleichzeitig für die Bezahlung der Zinsen dieser Schulden zu sorgen und für die Wasserversorgung einer großen Stadt in einem Land, das zu den entwickeltsten der Erde zählt. Ein Zeichen für die Rückwärtsentwicklung einer Stadt, die in diesem Bereich eine Vorreiterin war... vor 2.000 Jahren!

Solche Situationen hat die unterentwickelte Mehrheit der Erde schon immer gekannt. Der Imperialismus hat es den armen Ländern nämlich nie ermöglicht, ein Gesundheitssystem und eine Infrastruktur zu entwickeln, die den technischen Möglichkeiten unserer Zeit entsprechen. Aber heute ist er dabei, sogar das zu zerstören, was im entwickelten und privilegierten Teil der Erde existiert.

Ein sich auf Marx berufender Essayist, Anselm Jappe, gab seinem jüngsten Werk den Titel: "Die sich selbst auffressende Gesellschaft - Kapitalismus, Übermaß und Selbstzerstörung". Er will auf seine Weise erklären, dass der Kapitalismus aufgrund seiner regressiven Dynamik vollkommen am Ende ist. Er ist nicht der einzige, der dies feststellt und es auch beweist. Aber wie viele seiner Gleichgesinnten (ein kleiner Teil der Intelligenz) enden seine Überlegungen mit dieser Feststellung.

Die eigentliche Frage aber besteht darin, ob dieser "sich selbst auffressende Kapitalismus", der sich vor unseren Augen selbst auffrisst, die ganze Gesellschaft vernichten wird, oder ob die Gesellschaft in sich die Kraft finden wird, die bestehende Gesellschaftsordnung zu stürzen und eine neue zu errichten, befreit von der Diktatur der Großbourgeoisie, vom Privateigentum an den Produktionsmitteln, von Ausbeutung und Konkurrenz.

Hierin besteht der große Unterschied zwischen denjenigen, die - um Marx zu paraphrasieren - sich damit begnügen, den Marxismus zu benutzen, um die Welt zu begreifen, und denjenigen, die die marxistischen Ideen ihrem eigentlichen Zweck gemäß nutzen: als revolutionäres Werkzeug, das nötig ist, um die Welt zu verändern.

Kommentatoren, die als ernstzunehmend gelten oder als "geachtete Wirtschaftsexperten" angesehen werden, stellen sich heutzutage schwerwiegende Fragen über das "Geheimnis der verschwundenen Inflation", um den Titel eines kürzlich erschienenen Artikels der Zeitung Le Monde aufzugreifen. Mit einer Mischung aus Lüge und Naivität wundern sie sich darüber, dass in den Vereinigten Staaten "die Löhne wenig gestiegen sind, auf jeden Fall in weit geringerem Tempo als vor der Finanzkrise". Und sie fügen hinzu: "Das Merkwürdige bei alledem ist, dass die Wirtschaft heute fast Vollbeschäftigung erlebt. Das sollte zu höheren Löhnen führen, die ihrerseits zu höheren Preisen für Waren und Dienstleistungen führen sollten..." Sie stellen dasselbe für Europa fest, wo "die Rückkehr eines robusteren Wachstums und der starke Rückgang der Arbeitslosigkeit nicht den erhofften Aufschwung bewirkt haben".

Ja, es sind keine abstrakten, wirtschaftlichen Mechanismen, die die Grundlage des wirtschaftlichen Lebens bilden, sondern die gesellschaftlichen Beziehungen, die Beziehungen zwischen den sozialen Klassen! Hinter diesen Mechanismen, die die bürgerlichen Wirtschaftsexperten ernähren und dank denen einige von ihnen einen Nobelpreis bekommen haben, steht die Wirklichkeit des Klassenkampfes. Seit Beginn der Krise führt die Großbourgeoisie einen wilden Krieg, um aus der Gesellschaft das herauszusaugen, was sie braucht, um ihre Gewinne aufrecht zu erhalten.

Marx entlarvte zu seiner Zeit den Warenfetischismus und insbesondere den Fetischismus des Geldes. Er zeigte auf, dass diese Schöpfungen der menschlichen Gesellschaft in einem gewissen Stadium ihrer Entwicklung die realen Beziehungen zwischen den Menschen und die Herrschaft einer sozialen Klasse über eine andere verschleiern, hier die Herrschaft der kapitalistischen Klasse über die ausgebeuteten Klassen.

Die Menschheit wird nur dann wirklich ihre lebenswichtigen Probleme lösen können, wenn sie die Fetische zerstört und vor allem die gesellschaftlichen Beziehungen, die diese verschleiern, das heißt wenn sie der Vorherrschaft der Großbourgeoisie ein Ende macht und der kapitalistischen Ordnung, deren Trägerin und größte Nutznießerin sie ist. Die einzige gesellschaftliche Klasse, die dazu die Macht und das Interesse hat, ist das weltweite Proletariat.

25. Oktober 2017

Fußnote:

1. Leitindex der 40 führenden  französichen Aktiengesellschaften, das Gegenstück zum deutschen DAX