Die innere Lage in Frankreich 2023

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Texte von Lutte de Classe - Klassenkampf - von Dezember 2023
Dezember 2023

Während der Krieg in der Ukraine und im Gazastreifen tobt und die seriösesten Zeitungen sich fragen, ob der Dritte Weltkrieg nicht schon begonnen hat, setzen die Politiker ihre parteipolitischen Grabenkämpfe fort. Rechtsextreme, Rechte, Mehrheitsbeschaffer, Linke ... alle Politiker ereifern, beschimpfen und verdammen sich gegenseitig. Aber weder die Regierung noch die großen Oppositionsparteien sind in der Lage, einen glaubwürdigen Ausweg aus der katastrophalen Gesamtentwicklung zu bieten.

Die öffentliche Meinung, wie sie sich in Wahlen und Umfragen ausdrückt, bewegt sich unter dem Druck der inneren und äußeren Krisen nach rechts und rechtsextrem. Krisen, die von den meisten politischen Führern systematisch im denkbar reaktionärsten Sinne ausgenutzt werden.

Jeder Anschlag auf französischem Boden trifft Menschen, verstärkt die Ängste, das Misstrauen gegenüber Muslimen und Einwanderern und den Wunsch, sich auf die nationale Gemeinschaft zurückzuziehen. Dies war erneut der Fall, als ein Lehrer in einer schulischen Einrichtung in Arras ermordet wurde, fast auf den Tag genau drei Jahre nach der Ermordung von Samuel Paty. Im vergangenen Juni hat die Erschießung des jungen Nahel in Nanterre durch einen Polizisten einen Teil der Jugend in den Arbeitervierteln berührt und ihre Wut geweckt. Diese mündete jedoch in drei zerstörerische Krawallnächte und Anschuldigungen gegen diese Jugend.

Die internationalen Ereignisse spielen in die gleiche reaktionäre Richtung. „Wir dürfen den israelisch-palästinensischen Konflikt nicht nach Frankreich importieren“, wiederholt die Regierung, die Israel wie immer bedingungslos unterstützt hat. Und die von der Hamas in Israel verübten Massaker werden versucht als Folge der Anschläge im Bataclan oder in Nizza darzustellen, um uns davon zu überzeugen, dass „wir uns im Krieg befinden“. Eine Botschaft, die sich mit der Ermordung von Dominique Bernard am 13. Oktober und dem Krieg in der Ukraine überlagert hat.

Diese Ereignisse überstürzen sich vor dem Hintergrund anhaltender Migrationsdramen. In demselben Moment, in dem Millionen von Frauen und Männern durch Kriege, Klimakatastrophen oder Zukunftslosigkeit auf die Straße geworfen werden, werden alle Grenzen doppelt und dreifach geschlossen. Wenn diese Frauen und Männer an die Tore Europas klopfen, werden sie nicht mehr als Opfer dargestellt, denen man Zuflucht gewähren muss, sondern als Bedrohungen, vor denen man sich unbedingt schützen muss.

Le Pen ist die erste, die diese Atmosphäre des „verschanzten Lagers“ verschärft. Sie kann ihre Feindseligkeit gegenüber Migranten und Muslimen ungehemmt ausbreiten und mehr Autorität, mehr Grenzen, mehr Polizei und mehr Militär fordern. Diese mittlerweile banalen, man könnte sagen gewöhnlichen Ideen werden von den meisten ihrer Konkurrenten kopiert. Einige machen sich bereits Sorgen über einen Sieg Le Pens bei den nächsten Präsidentschaftswahlen. Abgesehen davon, dass unsere Zukunft vielleicht im Nahen Osten oder in Washington entschieden wird, würde mit Le Pen eine Marionette der Großbourgeoisie an die Macht kommen. Die Erbin des Front National hat sich seit langem dafür entschieden, sich in die institutionelle und wahltaktische Form einzufügen. Sie hat sich zur Vorkämpferin einer einwandererfeindlichen Rechten gemacht. Wenn sie an die Macht käme, würde sie sich wie alle ihre Vorgänger als Superintendentin des Großkapitals aufstellen. Sie könnte Darmanin erneut zum Innenminister machen, denn sie würde nichts wesentlich anders machen als er heute oder als die ehemalige Mussolini-Verehrerin Giorgia Meloni als italienische Ministerpräsidentin.

„Faschistisch ist nicht der, der es sein will“, haben wir bereits erklärt, denn Faschismus ist nicht nur eine Frage der reaktionären Rhetorik, sondern auch der gesellschaftlichen Kräfte. Die Situation kann sich jedoch abrupt ändern und diejenigen, die Le Pen folgen, könnten genauso schnell wieder an die faschistischen Träume des Vaters anknüpfen. Aber heute würde der RN in einer Regierung der nationalen Einheit nicht schlecht dastehen. In Israel hat Netanjahu ein Kriegskabinett mit seinem Hauptrivalen Benny Gantz aufgestellt. Eine solche Regierung ist auch hier denkbar, denn bei jedem Anschlag und jeder neuen Bedrohung werden regelmäßig Aufrufe zur Einheit im Chor vorgetragen, vom RN über die EELV und die PS bis hin zur PCF.

Politische Abgrenzungen verschwimmen unter dem Einfluss von Wahlkalkülen, die angesichts des Misstrauens und der Sprunghaftigkeit der Wählerschaft immer verwinkelter werden. So hat ein Teil der Republikaner beschlossen, nicht für das Gesetz über die Rente mit 64 zu stimmen. Um Mélenchon zu isolieren, heulen die PS, EELV und die PCF (KPF) mit den Wölfen gegen La France insoumise (LFI), das der Nachgiebigkeit gegenüber der Hamas und des Antisemitismus beschuldigt wird. Und wir erleben“, schrieb die Zeitung Le Monde, „die Umkehrung der Figur des Bösen“, mit einer Entdämonisierung des RN und einer Dämonisierung von La France insoumise. Eine Maßnahme, an der Le Monde übrigens nicht unbeteiligt ist.

Auf der linken Seite war die einzige politische Kraft, die „die Gestalt des Bösen“ verkörperte, lange Zeit die Kommunistische Partei. Auch wenn Stalin seit den 1930er Jahren die Integration der UdSSR in die imperialistische Ordnung anstrebte und die kommunistischen Parteien zunächst zur Politik der Volksfronten und später der Résistance drängte, erregte die KP lange Zeit das Misstrauen der Bourgeoisie und stellte in den Augen des bürgerlichen politischen Systems einen Fremdkörper dar.

Was sie in den Augen der Bourgeoisie disqualifizierte, waren ihre Verbindungen zur Sowjetbürokratie und vor allem ihre tatsächliche Verankerung und die Hingabe von Aktivisten, die mit den Arbeitern in den Betrieben wie auch in den Arbeitervierteln verbunden waren. Ihre Stärke erlangte sie nicht durch ihre Hiebe in der Nationalversammlung. Sie stammte von dem Enthusiasmus, den die russische Revolution im Proletariat der ganzen Welt entfacht hatte.

Die KPF hat dieses Erbe im Zuge ihres Verrats an den Interessen der Arbeiterklasse verschleudert. Weiße Weste und Treue zur bürgerlichen Ordnung reichten nicht aus, um im politischen Spiel als eine Partei wie jede andere akzeptiert zu werden. Sie musste ihren Kredit in der Arbeiterklasse verlieren und daher in den Augen der Bourgeoisie unschädlich werden. Heute ist Fabien Roussel, der Generalsekretär der KPF, zum Liebling der Politiker geworden, so sehr liebt er den Rummel, wenn er sich auf die Seite des Konformismus, der nationalen Ordnung, seiner Polizei und seiner Armee stellt.

La France insoumise füllt nicht nur nicht das Vakuum, das die KPF in der Arbeiterklasse hinterlassen hat, sondern bekennt sich auch nicht zur Russischen Revolution, zu Marx oder zum Klassenkampf, da es laut ihrem Vordenker Mélenchon heute nur noch einen Kampf der Bürger gegen die Oligarchie gibt. Wenn La France insoumise derzeit geächtet wird, dann nicht, weil sie eine soziale oder politische Bedrohung darstellt. LFI kann nicht einmal für sich in Anspruch nehmen, einen größeren Einfluss auf die Arbeiterklasse zu haben als die RN. Sie ist einfach der beste politische Punchingball für diejenigen, die wie die PS das Ende des Wechselspiels, das sie von Zeit zu Zeit an die Macht brachte, nicht verdaut haben, oder für diejenigen, die nach Polemik und Demagogie lechzen und möchten, dass alle so denken wie sie.

Linksislamisten für die einen, fünfte Kolonne für die anderen - das mediale Unterfangen, die LFI zu dämonisieren, obwohl sie völlig in die Welt der Politiker integriert ist, gibt einen kleinen Eindruck von der Dampfwalze, die die Gegner zermalmen wird, wenn die Regierung und der Staat beschließen, die gesamte Bevölkerung im Gleichschritt marschieren zu lassen.

Dieses Jahr war geprägt von der Mobilisierung gegen die Anhebung des Rentenalters auf 64 Jahre. Die Demonstrationen waren zahlreich, massiv und haben die Arbeiterschaft in einer klaren und eindeutigen Opposition zusammengeführt. Von Anfang bis Ende war die Arbeiterklasse anwesend. Diese Mobilisierung fand jedoch unter der Schirmherrschaft der Gewerkschaftsbünde statt, den „Agenten der Bourgeoisie im Proletariat“, wie Trotzki es nannte. Und es gab keine Arbeitenden, die bereit waren, den Rahmen zu sprengen, der von der gewerkschaftsübergreifenden Organisation unter Führung der CFDT festgelegt worden war, dem Gewerkschaftsbund, der sich als der „verantwortungsvollste und konstruktivste“ gegenüber der Gesellschaftsordnung versteht. Ohne einen entschlossenen Massenstreik gab es nirgends die Möglichkeit, dass Aktivisten der Bewegung auftauchten und Streikkomitees aufgebaut wurden.

Als Richtschnur für unsere Agitation und unsere Redebeiträge stützen wir uns auf Trotzkis Übergangsprogramm. Es wurde 1938 geschrieben, in einer Zeit der Krise und des Marsches auf den Krieg, die der unseren in vielerlei Hinsicht ähnelt. Doch große Ereignisse wiederholen sich nie eins zu eins. Ihr Ablauf, ihr Zusammenspiel und ihr Tempo sind unterschiedlich. Das Übergangsprogramm gibt uns kein Schema vor, dem wir folgen können. Erinnern wir uns daran, dass noch vor nur drei Jahren das Ziel der Kopplung der Löhne an die Preise angesichts der fast verschwundenen Inflation nur eine Abstraktion war. Der Schwerpunkt unserer Propaganda lag damals auf der Arbeitslosigkeit und der Arbeitsteilung. Die Ereignisse können sich überstürzen und Probleme auf die Tagesordnung setzen, die gestern noch nicht existierten. Man muss also über genügend Verbindungen in der Arbeiterklasse verfügen und ständig den Willen haben, sich dort zu verankern, um die Sorgen der Arbeiter zu verstehen und politisch darauf zu reagieren.

In Was tun? beschrieb Lenin seine Vorgehensweise beim Aufbau der revolutionären Organisation mit „der Forderung, alle Anstrengungen darauf zu richten, daß eine reguläre Armee gesammelt, organisiert und mobilisiert werde“. Diese Arbeit, erklärte er, löse die Organisation nicht von den Massen, da „sie sich in Wirklichkeit ausschließlich mit allseitiger und allumfassender politischer Agitation beschäftigt, d.h. gerade mit der Arbeit, die die spontane zerstörende Kraft der Menge und die bewußt zerstörende Kraft der Organisation der Revolutionäre einander näherbringt und zu einem Ganzen verschmilzt.“ Man muss sicherstellen, „die für eine sozialdemokratische Kampforganisation notwendige Elastizität gewährleisten, d.h. die Fähigkeit, sich den verschiedenen und rasch wechselnden Bedingungen des Kampfes sofort anzupassen. [...] Es wäre der größte Fehler, wollte man die Parteiorganisation so aufbauen, daß man dabei nur auf einen Ausbruch und einen Straßenkampf oder nur auf die „Vorwärtsbewegung des unscheinbaren Tageskampfes“ rechnet. Wir müssen unsere tägliche Arbeit ständig leisten und immer zu allem bereit sein, denn sehr oft ist es fast unmöglich, vorauszusehen, wann Perioden der Stille durch Perioden des Sturms abgelöst werden. [...] Auch die eigentliche Revolution darf man sich keineswegs in der Form eines einmaligen Aktes vorstellen, sondern in der Form eines rasch aufeinanderfolgenden Wechsels von mehr oder weniger starken Ausbrüchen und mehr oder weniger vollständiger Stille.“

Unsere Klasse ist das Proletariat. Der materielle und politische Rückschlag, den die Arbeiter und damit die gesamte Gesellschaft erlitten haben, ist nicht das Versagen des Marxismus. Wie Marx und Engels im „Manifest der Kommunistischen Partei“ schrieben: „Unsere Epoche, die Epoche der Bourgeoisie, zeichnet sich jedoch dadurch aus, daß sie die Klassengegensätze vereinfacht hat. [...] Sie hat nur neue Klassen, neue Bedingungen der Unterdrückung, neue Gestaltungen des Kampfes an die Stelle der alten gesetzt.“ Diese Entwicklung hat nicht aufgehört. Das Proletariat ist heute sogar zahlenmäßig stärker als zur Zeit von Marx und Engels.

Die ärmsten Länder in Afrika, Asien und Lateinamerika, die in die kapitalistische Globalisierung eingebunden sind, verwandeln neue Bataillone von Bauern in Proletarier. Proletariat, das zu dem sich ebenfalls verändernden Proletariat in den imperialistischen Ländern hinzukommt, denn während in Ländern wie Frankreich alte Arbeiterbastionen verschwunden sind, entstehen neue, zum Beispiel im Dienstleistungssektor. Ungeachtet aller Niederlagen und Rückschläge bleibt das Proletariat die einzige revolutionäre Kraft in der Gesellschaft. Ein politisches Erwachen der Ausgebeuteten mit dem Ziel, die Macht der Großbourgeoisie zu stürzen, wäre die größte Bedrohung für die herrschende Klasse. Denn wie die großen revolutionären Wellen gezeigt haben, kann ein solches politisches Erwachen international ansteckend sein.

Die historische Krise der Menschheit ist zurückzuführen auf die Krise der revolutionären Führung“, schrieb Trotzki 1938 im Übergangsprogramm. Diese Krise der Führung begann an der Spitze, mit dem Verrat der Sozialdemokratie und dem Stalinismus. Sie entmutigte und entfremdete einen wachsenden Teil der Aktivisten von der Arbeit und der Organisation und griff dann auf das Proletariat selbst über, wo das Bewusstsein, dass es objektiv eine soziale Klasse bildet, schwand. Das politische Klassenbewusstsein wurde zur Randerscheinung.

Alles muss von der internationalen Arbeiterklasse aus neu aufgebaut werden, denn die Rettung wird vom Proletariat kommen oder nicht. Wenn es Aktivisten gibt, die die Perspektive verteidigen, werden es die zukünftigen Kämpfe der Arbeiterklasse sein, die es ermöglichen, eine echte revolutionäre Arbeiterpartei wieder auferstehen zu lassen. Denn nur ein kämpferischer Aufbruch und ein neues Vertrauen der Arbeiter in ihre eigenen Kräfte können Tausende von Aktivisten in den Betrieben und in den Arbeitervierteln hervorbringen, die bereit sind, sich den Kämpfen ihrer Klasse und dem Aufbau einer revolutionären Partei zu widmen.

 

27. Oktober 2023