Migranten - unsere Brüder als Menschen, unsere Klassenbrüder

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September 2015

Leitartikel der Lutte Ouvrière-Betriebszeitungen vom am 7. September 2015

Der Aufschwung an Solidarität für die Flüchtlinge wärmt das Herz. In Deutschland, wo Merkel die Türen aufgemacht hat und wo die Flüchtlinge das ganze Wochenende in Massen angekommen sind, haben sich Einwohner/innen in den Bahnhöfen versammelt, um sie willkommen zu heißen. Werden diese Zeichen der Sympathie die feindliche Stimmung gegen die Migrant/inn/en schwächen? Man muss es hoffen.

Auf jeden Fall soll man sich nicht von den europäischen Machthaber/innen täuschen lassen. Hinter ihren humanistischen Worten und der Änderung ihrer Politik zugunsten der Syrer/innen steht eine Vielfalt an schmutzigen Berechnungen.

Indem sie die Tore ihres Landes öffnet wird Merkel fast wie eine Heilige angesehen. Sie hat es aber nur getan, weil der Zufluss einer neuen Arbeitskraft im Interesse der deutschen Unternehmer steht! Was Hollande betrifft, nutzt er diese Sympathiewelle nicht, um die französischen Grenzen zu öffnen, sondern um die Luftangriffe gegen IS in Syrien zu rechtfertigen, also um seine kriegerische Politik zu verstärken!

"Es ist die Ehre Frankreichs, die Verfolgten immer willkommen geheißen zu haben", behauptete er in seiner Pressekonferenz, gleich bevor er die Aufnahme von 24.000 Syrer/inne/n in den zwei nächsten Jahren ankündigte. Wenn man diese Zahl mit den 20.000 vergleicht, die in einem einzigen Wochenende in Deutschland angekommen sind, setzt Hollande die Ehre Frankreichs ziemlich niedrig an! Viel niedriger als seine Vorgänger, die 1939 450.000 spanische und ab 1979 130.000 vietnamesische und kambodschanische Flüchtlinge aufgenommen hatten.

Das Drama der Migrant/inn/en ist nicht die Folge einer natürlichen Katastrophe. Es ist die Folge der imperialistischen Politik der Großmächte, die daraus besteht, die ärmsten Länder des Planeten zu plündern, indem sie ihre natürlichen Ressourcen ausbeuten oder sie durch Staatsschulden erwürgen, für den Profit der Großbourgeoisie. Es ist die Folge ihrer Machenschaften, ihrer politischen Rivalitäten, ihrer Kriege.

Die europäischen Machthaber/innen haben dazu beigetragen, aus einem Teil der Erde eine Hölle für die Bevölkerungen zu machen und sie tun alles, damit sie ihr nicht entkommen können. Sie haben aus Europa eine Festung gemacht und sie sind deswegen für die Tausenden Toten verantwortlich, die im Mittelmeer ertrinken, in Lastwagen ersticken oder neben dem Ärmelkanaltunnel durch elektrische Schläge sterben.

Und diese grausame Politik wird weitergehen. Denn obwohl die Syrer/innen ein offizielles Recht auf ein Willkommen haben werden, werden die sogenannten "Wirtschaftsmigrant/inn/en" nur ein Recht auf Stacheldraht, Knüppel und Abschiebungen bekommen. Als ob es mehr akzeptabel wäre, Opfer des Elend als Opfer der Bomben zu sein! Als ob Millionen Kinder, Frauen und Männer, die zur Armut verurteilt sind, nicht Teil der Verfolgten wären!

Wo sind die Interessen der Arbeitenden in dieser Sache? Sicher nicht, die Migrant/inn/en zurückzuweisen. Und es ist nicht nur eine Frage der Menschlichkeit. Es geht um die allgemeinen Interessen der Arbeiter/innen/klasse. Es geht um ihre Einheit. Denn die Migrant/inn/en sind Teil der Arbeiter/innen/klasse oder sie werden es werden. Selbst wenn ein Bruchteil der Flüchtlinge das Leben eines Arztes, eines Anwaltes oder eines Kaufmannes im eigenen Land geführt hat, wartet für die allergrößte Mehrheit von ihnen das Leben eines Proletariers, ein Leben in Ausbeutung, unser Leben. Und es liegt im Interesse der Arbeiter/innen, aus ihnen Verbündete zu machen.

Die Migrant/inn/en verlangen die Freiheit, sich in Europa zu bewegen und sich niederlassen. Die französische Arbeiter/innen/klasse soll diese Forderung unterstützen, die für alle Arbeiter/innen gilt.

Viele fragen sich, ob es möglich ist, die Migrant/inn/en in diesem Krisenkontext würdevoll aufzunehmen. Aber die Arbeitslosigkeit, die miesen Arbeitsverhältnisse und die niedrigen Löhne hängen nicht von der Ankunft der Migrant/inn/en ab. Und all diejenigen, die ihre Zeit damit verbringen, die Migrant/inn/en anzuprangern, sollten eher den Jobvernichtern die Schuld geben.

Wie viele Arbeitende könnten mit den 14 Millionen, der Abfertigung des Chefs von Alcatel, leben? Indem man nur die Hälfte des Profits der kapitalistischen Großkonzerne für die Schaffung von Arbeitsplätzen verwenden würde, würden Hunderttausende Arbeitslose eine Stelle haben. Mit den Dutzenden Milliarden, die für die Olympischen Spiele geplant sind, könnte man zehntausende Wohnungen bauen.

Dazu müssen aber die Arbeitenden diese falsche Selbstverständlichkeit ablehnen, nach der "wir nicht die ganze Armut der Welt empfangen können", und ausrufen, dass "wir nicht mehr für die Bourgeoisie verbluten wollen."