Entwicklung der Wissenschaften und Grundlagen der kommunistischen Ideen

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Januar 2015

Entwicklung der Wissenschaften und Grundlagen der kommunistischen Ideen

Vortrag des Leo-Trotzki-Zirkels (Paris) vom 23. Januar 2015

Die Krise, in der sich die Gesellschaft seit über 40 Jahren festgefahren hat, hat nicht nur wirtschaftliche Folgen. Sie führt auch zu einem Rückschritt der Gesellschaft insgesamt. Rückschrittliche Ideen aller Art werden stärker, Aberglauben, Mystik, religiöse Überzeugungen und alle möglichen Arten von Aufklärungsfeindlichkeit (Obskurantismus) verbreiten sich.

Auf diesem Boden entwickeln sich reaktionäre und arbeiterfeindliche politische Parteien und gewinnen an Einfluss. In Frankreich haben wir Demonstrationen der extremen Rechten gegen die "Ehe für alle" erlebt, bei denen Pfaffen in ihren Kutten und Kampfstiefeln aufmarschiert sind und bereit waren zuzuschlagen. Im Maghreb und im Nahen Osten versuchen fundamentalistische islamistische Parteien, der ganzen Gesellschaft ihre Gesetze aufzuzwingen. In Israel ist das wachsende Gewicht religiöser und rechtsextremer Organisationen der Preis, den die Gesellschaft für die Politik der Unterdrückung der Palästinenser und den anhaltenden Konflikt mit der arabischen Bevölkerung zahlt. Außerdem müssen wir hier die christlichen Fundamentalisten in den Vereinigten Staaten, die extreme hinduistische Rechte in Indien oder religiösen Milizen aller Glaubensrichtungen in Afrika usw. nennen. Keine einzige Region der Welt, kein einziges Land kann sich diesem Rückschritt entziehen.

Selbst in einem Land wie Frankreich, das doch von einer Vergangenheit antiklerikaler Kämpfe und einer starken Tradition des Atheismus in der Bevölkerung geprägt ist, erleben wir seit Jahren ein Wiederaufleben der Religiosität. Die katholische Kirche scheint neue Anhänger zu gewinnen. Auch das Judentum und der Islam werden stärker. Und neue mystische Vorstellungen, die mit evangelischen, hinduistischen, buddhistischen oder anderen Tendenzen verbunden sind, entwickeln sich. Allen diesen kleinen und großen Sekten - ob offiziell institutionalisiert oder nicht - ist gemeinsam, dass sie Vorstellungen von Natur, Leben und Gesellschaft vermitteln, die aus einer anderen Zeit stammen. Und alle neigen dazu, wissenschaftliche Entdeckungen in Frage zu stellen, die ihren Dogmen widersprechen, wie zum Beispiel die Evolution.

Dieser ideologische Rückschritt der Gesellschaft kommt auch auf subtilere Weise zum Ausdruck, indem idealistische philosophische Vorstellungen wieder in Mode kommen. Unabhängig von ihrer Vielfalt leugnen diese Vorstellungen alle auf die eine oder andere Weise, dass es eine vom Beobachter unabhängige Realität gibt. Sie verbreiten auch die Idee, dass in der Natur der Zufall angeblich eine große Rolle spielt, was die Möglichkeiten des wissenschaftlichen Verständnisses einschränkt. Und obwohl diese Vorstellungen sich nicht als religiös darstellen, öffnen sie Tür und Tor für Mystik und Obskurantismus.

Und populärwissenschaftliche Zeitschriften, ja sogar welche, die vorgeben seriös zu sein, verbreiten diese Konzepte mit großer Regelmäßigkeit. Die Zeitschrift La Recherche (Die Forschung) hatte vor einiger Zeit den Aufmacher: "Die Realität existiert nicht." Die Verleger scheint es offensichtlich nicht zu stören, dass das Ziel der Wissenschaft darin besteht, eben diese Realität zu verstehen, und dass die Aufgabe einer Zeitschrift zur Wissenschaftsverbreitung darin besteht, der breiten Öffentlichkeit über die Fortschritte des wissenschaftlichen Verstehens zu berichten. Sie werden ganz offensichtlich mehr davon geleitet kundenwerbende Titel zu finden, als den Obskurantismus zurückzudrängen.

Diese Fragen mögen weit entfernt vom Kampf der Arbeiter erscheinen. Das sind sie aber durchaus nicht. Die Arbeiterklasse kann nur dann einen entschiedenen Kampf gegen den Kapitalismus führen, wenn sie sich von allem Aberglauben befreit, zumindest ihre bewusstesten Aktivisten, und dass dieser Kampf auf einem rationalen und objektiven Verständnis der Gesellschaft, auf einer wissenschaftlichen Kenntnis ihrer inneren Triebfedern und ihrer Funktionsweise beruht. Jedem Aberglauben müssen wir ein anderes Weltbild und die Geschichte der menschlichen Gesellschaften, ihrer Vergangenheit und natürlich ihrer Zukunft entgegenstellen.

Die kommunistischen Ideen von Marx und Engels, die sie selbst "wissenschaftlichen Sozialismus" nannten, basieren auf materialistischen und dialektischen Vorstellungen von der Natur und Geschichte der Gesellschaften. Diese Vorstellungen basieren einerseits auf der materialistischen Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts, die in Europa das erste nicht-religiöse Verständnis von Natur und Gesellschaft systematisierte, und andererseits auf dem deutschen Philosophen Hegel, der im frühen 19. Jahrhundert ein auf der Dialektik basierendes Weltbild entwickelte. Mit anderen Worten, der Erkenntnis, dass sich Natur, Gesellschaft und Geschichte in ständiger und notwendiger Veränderung befinden, dass sie sich nicht nur entwickeln, sondern dass ihre Entwicklung das Ergebnis periodischer Umwälzungen ist, die selbst das Produkt von Widersprüchen innerhalb der gesamten Realität sind. Diese Verbindung von Materialismus und Dialektik durch Marx und Engels brachte den dialektischen Materialismus hervor.

Seit der Entstehung dieser Konzepte vor etwas mehr als anderthalb Jahrhunderten hat sich die Wissenschaft in allen Bereichen erheblich weiterentwickelt. Viele Entdeckungen haben diese Vorstellungen gestärkt. Daher werden wir hier zunächst auf das zurückzukommen, was der dialektische Materialismus ist, um dann zusehen, wie er sich durch neue wissenschaftliche Entdeckungen bereichert hat, und damit auch die zeitgenössischen Grundlagen unserer revolutionären kommunistischen Ideen betrachten.

Die materialistische Vorstellung der Natur: Die Materie und ihre Eigenschaften

Die erste Entwicklung der Wissenschaften als Vorbereitung des Materialismus

Der Aufschwung der Wissenschaften begann am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Damals gab es keine bewussten Materialisten. Seit der Antike gab es zwar eine - wenn auch kleine, aber reale - materialistische Strömung, aber damit dieses philosophische Weltbild in seiner modernen Form entstehen konnte, musste sie sich auf bereits fest verankerte wissenschaftliche Erkenntnisse stützen. In dieser vorbereitenden Phase, die fast 200 Jahre dauerte, fanden die ersten wissenschaftlichen Fortschritte in einer von religiösen Ideen geprägten Gesellschaft statt.

Die ersten Gesetze über die Bewegung von Planeten um die Sonne und des Fallens von Gegenständen auf die Erdoberfläche wurden von der Mitte des 16. bis zum Ende des 17. Jahrhunderts erarbeitet. Es dauerte mehr als 100 Jahre und um dies zu erreichen waren Beiträge von Intellektuellen aus ganz Europa notwendig: vom Polen Kopernikus, dessen Werk De revolutionibus orbium coelestium 1543 veröffentlicht wurde, bis zum Engländer Newton mit seinem berühmten Buch Philosophiae naturalis principia mathematica aus dem Jahr 1686, dem Dänen Tycho Brahe, dem Deutschen Kepler und dem Italiener Galilei.

So wie wir uns auf die ersten Kämpfe der Unterdrückten, wie den von Spartakus geführten Sklavenaufstand der Antike berufen, so berufen wir uns auch auf jene ersten Denker, die im Verständnis der Welt einen Sprung nach vorn gemacht haben, wenn sie nicht sogar zur Entstehung materialistischer Vorstellungen, oder zumindest zu ihrer Stärkung beigetragen haben. Sie waren Kämpfer und auf ihrem Gebiet, sind auch sie Revolutionäre gewesen. Ihre wichtigsten wissenschaftlichen Sprünge nach vorn waren das Ergebnis von Kämpfen, nicht nur von Kämpfen der Ideen: Galilei wurde vom Inquisitionsgericht der katholischen Kirche unter Hausarrest gestellt, weil er die Idee verteidigte, dass sich die Erde um die Sonne dreht. Und vor ihm wurde ein anderer dieser Denker, Giordano Bruno, von derselben Inquisition zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt.

Marx sagte später, "Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirn der Lebenden": Und tatsächlich hatten diese Wissenschaftler den intellektuellen und moralischen Mut, diesen toten Ballast abzuwerfen, und sich nicht entsprechend den alten Traditionen zu verhalten. Sie hatten die Kühnheit, sich der Gesellschaft ihrer Zeit entgegenzustellen, um einen neuen Weg zu öffnen und auf ihre Weise einen Sprung ins Unbekannte zu machen. Im Übrigen: Nur, weil es immer wieder, in allen Epochen, Frauen und Männer gab, die in der Lage waren, diesen Sprung ins Unbekannte zu wagen, hat die Menschheit Fortschritte gemacht. Ob die Geschichte ihre Namen behalten hat oder nicht, wir berufen uns auf den Kampf all dieser Frauen und Männer.

Diese Wissenschaftler entdeckten die Grundlage unserer heutigen Vorstellung vom Sonnensystem. Galilei benutzte ein Vergrößerungsfernrohr, das die Optiker gerade entwickelt hatten. Indem er es Richtung Himmel richtete, fand er die unwiderlegbaren Beweise für die Bewegung der Planeten um die Sonne. Er bewies außerdem, dass die Sterne nicht "perfekt" sind: Er sah die Krater auf der Mondoberfläche und die Punkte auf der Sonnenoberfläche. Und dann sah er besonders beim Beobachten des Planeten Jupiter vier kleine Himmelskörper, die sich um den Planeten Jupiter drehten - die Monde. Das schlug ein wie der Blitz, denn es war der Beweis dafür, dass sich Gestirne um einen anderen Himmelskörper als die Erde drehen konnten.

Der Engländer Newton hat all diese Entwicklungen zu einer neuen Theorie zusammengefasst, die einen Meilenstein in der Geschichte des Wissens darstellt. Er stellte sich die Bewegung einer Kanonenkugel vor, die mit einer so großen Geschwindigkeit auf der Erdoberfläche abgeschossen wird, dass sie stark genug ist, um den Boden nicht zu berühren, und um die ganze Erde herum zu fliegen. Indem er diese Bewegung mit der des Mondes um die Erde verglich, erarbeitete er das Gravitationsgesetz, also das Gesetz der Schwerkraft, das die Bewegung der Sterne ... und auch die der Kanonenkugeln erklärt. Newton entwickelte die grundlegenden Formeln der Mechanik [1]. Auf diese Formeln stützt man sich heute noch, um Satelliten in den Weltraum zu schicken, um die Flugbahn der Rosetta-Weltraum-Sonde über mehr als zehn Jahre vorherzusagen und ihr zu ermöglichen, ein Gerät auf einem mehr als 500 Millionen Kilometer von der Erde entfernten Kometen abzuwerfen.

Um seinen Vorgängern Ehre zu erweisen übernahm er in einem an einen anderen Wissenschaftler gerichteten Brief die Formulierung eines mittelalterlichen Mönches, den seither berühmten Satz: "Wenn ich soweit sehen konnte, so deshalb, weil ich auf den Schultern von Riesen stand." Tatsächlich hatten die Entdeckungen der einen, die Gedanken der anderen genährt. Aber in dieser Epoche waren alle auch das Produkt einer Gesellschaft, die sich in einem immer schnelleren Tempo wandelte und in einem Europa, in dem die Städte zu immer intensiveren Zentren des Handwerks und des Handels wurden oder wieder wurden.

Seit dem 12. Jahrhundert hatten die europäischen Städte sich mit einer immer stärkeren Arbeitsteilung erneuert und immer neue Berufe und Spezialisierungen hervorgebracht, wie zum Beispiel die Optiker, die Galilei mit seinem Fernglas versorgten. Und noch allgemeiner entwickelte sich eine neue soziale Klasse - aus Tausch und Handel geboren, erlebte sie einen Aufschwung: die Bourgeoisie, die auszog, die Welt zu erobern, und einen nie dagewesenen Elan zu neuen geografischen Entdeckungen anregte. Von Marco Polo am Ende des 13. Jahrhunderts bis zu Christoph Kolumbus am Ende des 15. Jahrhunderts eröffneten all diese Kaufleute und Seefahrer, die den Fernen Osten, das südlich der Sahara gelegene Afrika und Amerika betraten, der Menschheit gigantische neue Horizonte. Die Revolutionäre der Wissenschaft wurden Teil dieses mächtigen Kurses ständiger Umwälzungen in der Gesellschaft. All diese "Riesen", um Newtons Begriff zu verwenden, waren deshalb auch selbst aufgestiegen, weil die Gesellschaft als Ganze aufstieg.

Die neue Vorstellung vom Universum zu der Newton gelangte, lief auf eine neue Frage hinaus: Wenn die Planeten um die Sonne und der Mond um die Erde kreisen, was ist der Ursprung all dieser Bewegungen? Woher kommt der ursprüngliche Impuls, der den Mond und die Planeten in die Umlaufbahn brachte? Newton glaubte weiterhin, dass Gott der Ursprung all dessen war.

Es war der deutsche Philosoph, Kant, der Ende des 18. Jahrhunderts als erster einen Ansatz zu einer wissenschaftlichen Erklärung dieses Problems hatte. Und es war ein französischer Astronom und Mathematiker, Laplace, der eine präzise Formulierung dafür entwickelte. Kants ursprüngliche Idee war, dass Sonne und Planeten nicht immer so existiert hatten, wie man sie sieht. Er nahm an, dass eine Gaswolke, die er Ur-Nebel nannte, der Ursprung ihrer Entstehung war.

Einige Jahrzehnte später zeigte Laplace, dass man, wenn man das Newton'sche Gravitationsgesetz auf die Gaswolke, die Kant sich vorgestellt hatte, anwendet, nicht nur die Entstehung der Sonne, sondern auch die der Planeten und ihre Rotation um die Sonne erklären konnte.

Mit dieser Entdeckung ist eine Anekdote verbunden. Genau nach der Französischen Revolution, zu der Zeit als Napoleon Bonaparte eine führende Persönlichkeit wurde, stellte ihm Laplace die Ergebnisse seiner Arbeit vor. Bonaparte habe ihn darauf hingewiesen, dass er, Laplace, im Gegensatz zu Newton nicht von Gott sprach. Laplace antwortete: "Ich brauche diese Hypothese nicht."

Vom mechanistischen Materialismus zu Marx' und Engels' dialektischem Materialismus

Gott war eine Hypothese geworden, eine Hypothese, auf die die Wissenschaftler verzichten konnten. Und nicht nur sie, denn aus dieser Art zu denken sind die ersten modernen materialistischen Vorstellungen hervorgegangen. Vom 18. Jahrhundert an verkündeten französische Philosophen, darunter Diderot und La Mettrie, die ersten völlig nichtreligiösen Vorstellungen von der Natur seit der Antike.

Die Grundlage des Materialismus ist die Vorstellung, dass die Welt, das Universum, die Natur, alles, was uns umgibt und von dem wir ein Teil sind, unabhängig davon, wer sie beobachtet, eine objektive Realität außerhalb unseres Bewusstseins besitzt. Selbst wenn wir diese Realität durch unsere Sinne kennen, die es uns erlauben zu sehen, zu hören und zu berühren, existiert diese Realität außerhalb von uns. Sie ist nicht das Produkt unseres Denkens.

Unser Denken ist das Produkt dieser Realität: Nicht nur, weil es diese widerspiegelt, sondern auch, weil ihre Quelle, unser Gehirn, Materie ist. Das Denken ist eine Eigenschaft der Materie oder genauer gesagt einer bestimmten Organisation der Materie, eine komplexe Organisation, Ergebnis einer biologischen Evolution über Hunderte von Millionen von Jahren, aber eine Organisation der Materie und nichts Anderes.

Diese Vorstellung mag uns heute ganz selbstverständlich erscheinen. Aber als die Menschen versuchten, die Welt um sich herum zu erklären, erschien ihnen ihr Denken als etwas völlig anderes als der Rest der Natur. Sie waren nicht in der Lage, zu verstehen und sich überhaupt vorzustellen, dass Materie Gedanken erzeugen könne. Sie hatten keinerlei wissenschaftliche Vorstellung von der Materie selbst. Deshalb haben sie sich in den ersten Vorstelllungen, die sie sich von der Welt machten, alle Lebewesen mit einer Seele versehen vorgestellt, die Menschen, die Tiere und schließlich die ganze sie umgebende Welt. Für unsere prähistorischen Vorfahren, für die überwiegende Mehrheit derer der Antike und des Mittelalters, war die "Seele" etwas anderes als Materie, sogar unabhängig von dem, was ihren eigenen Körper bildete. Der menschliche Körper konnte sterblich sein, die Seele war unsterblich, weil sie immateriell war - eben nicht aus Materie bestand.

Um die Vorstellung von einer außerhalb unseres Denkens existierenden materiellen Welt, von der unser Denken nur eines der Produkte ist, als Voraussetzung für jedes Naturverständnis zu begreifen, bedurfte es zunächst der Entwicklung der Wissenschaft und einer systematischen Überprüfung ihrer Ergebnisse.

Der von den Philosophen des 18. Jahrhunderts entwickelte Materialismus wurde später als mechanistisch bezeichnet. Die einzige Wissenschaft, die zu dieser Zeit einen gewissen Entwicklungsstand erreicht hatte, war tatsächlich die Mechanik, und die Menschen neigten dazu, die Realität nur durch das Modell der Mechanik aufzufassen, ein wenig so, als ob alles als Maschine verstanden werden könnte, einschließlich der Menschen. La Mettrie's bekanntestes Buch war Die Maschine Mensch. Daraus ergab sich eine weitere fundamentale Grenze ihres Materialismus: Sie begriffen die Realität nicht als Prozess, in ständiger Veränderung. Diese Denker waren auf die Grenzen des Wissens ihrer Zeit angewiesen. Sie konnten sich nicht weiter über sie hinaus erheben, als sie es bereits getan hatten.

Um voran zu kommen, musste der Materialismus die Entwicklung berücksichtigen: die der Natur und die der menschlichen Gesellschaften. Die Entwicklung zu verstehen war überhaupt nicht einfach. In vielerlei Hinsicht konnte die Natur als unveränderlich erscheinen: Die Jahreszeiten wiederholen sich eine nach der anderen, die Zyklen des tierischen und menschlichen Lebens reproduzieren sich, als wäre es immer so gewesen und würde immer so sein. Die menschliche Gesellschaft konnte auch unveränderlich erscheinen: Herrscher folgte auf Herrscher, die Unterdrückten blieben unterdrückt; selbst die Berufe wurden von Generation zu Generation vom Vater an den Sohn weitergegeben.

Die politischen und sozialen Umwälzungen der Französischen Revolution und die Infragestellung der feudalen Ordnung in ganz Europa machten die Idee der Entwicklung wieder aktuell. Der deutsche Philosoph Hegel lebte in der Zeit dieser europäischen gesellschaftlichen Umwälzungen, die ihn faszinierten und inspirierten. Hegel war ein Philosoph, für den die Quelle aller Veränderungen in den Widersprüchen, dessen zu suchen sind, was sich gerade verändert. Unter der Wirkung dieser Widersprüche verläuft die Entwicklung manchmal langsam, manchmal sprunghaft, und der Widerspruch wird durch den Sieg eines der Elemente über das andere gelöst. Dadurch entsteht keine stabile Situation, sondern eine neue Realität voller Widersprüche, die der Motor einer neuen Entwicklung zu einem höheren Entwicklungsgrad sind.

Hegel war im philosophischen Sinn des Wortes ein Idealist. Für ihn fand die reale Welt, ob physisch oder sozial, ihre Vollendung in der Ideenwelt. Er verstand dies nicht starr, sondern als einen von explosiven Widersprüchen getriebenen Entwicklungsprozess.

Hegels philosophische Vorstellungen von einer sich unaufhörlich wandelnden Welt fanden bei den radikalen jungen deutschen Intellektuellen des frühen 19. Jahrhunderts Zustimmung. Beginnend bei all denen, die wegen der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Rückständigkeit ihres Landes empört waren, - weit zurück hinter den Fortschritten, die sie in England und Frankreich sahen. Marx und Engels gehörten zu diesen jungen Leuten. Sie definierten sich damals als linke Jung-Hegelianer und waren auch stark von den Vorstellungen der französischen Materialisten geprägt. Und ihre eigene philosophische und politische Entwicklung, die sie zur umfassendsten gesellschaftlichen Gegnerschaft, also zum Kommunismus drängte, führte sie dazu, diese beiden Standpunkte miteinander zu verbinden.

Sie nahmen Hegels Dialektik wieder auf und stellten sie "auf ihre Füße", wie Marx sagte, das heißt, sie gaben ihr eine materialistische Grundlage, um sie auf das Studium natürlicher und sozialer Phänomene anzuwenden. Wie Marx schrieb, "ist die Bewegung des Denkens nur die Reflexion der realen Bewegung, die ins menschliche Gehirn transportiert und umgesetzt wird." Bewaffnet mit ihrer dialektisch-materialistischen Sichtweise gingen sie von der realen Wirklichkeit aus und entwickelten so ihre Vorstellung vom Kommunismus aus der realen Bewegung der Gesellschaft.

Durch die Integration der Dialektik erhob sich der Materialismus über die Grenzen des mechanistischen Materialismus des 18. Jahrhunderts. Er drängte einen dazu, die natürlichen und sozialen Phänomene in ihrer Dynamik und Widersprüchlichkeit zu studieren, wohlwissend, dass sich die wissenschaftlichen Konzeptionen selbst unaufhörlich entwickeln.

Die Entwicklung der Naturwissenschaften seit Marx

Das 19. Jahrhundert war für viele Bereiche der Natur- und Sozialwissenschaften eine Zeit erheblichen Aufschwungs. Die von Darwin begründete Evolutionstheorie, die neuen Erkenntnisse über die Geschichte der frühen menschlichen Gesellschaften und andere Entdeckungen haben Marx' und Engels' Denken ständig beflügelt.

Seit dieser Zeit hat die Weiterentwicklung der Wissenschaft nicht aufgehört, und es ist unmöglich, all die großen Entdeckungen der letzten hundertfünfzig Jahre aufzulisten. Um zu veranschaulichen, wie sich die wissenschaftlichen Vorstellungen weiterentwickelt haben, und wie dieser Fortschritt das materialistische und dialektische Verständnis der Natur verstärkt, werden wir Beispiele aus zwei grundlegenden Bereichen nehmen: dem der Materie und der Geschichte ihrer Organisation, wie sie von der gegenwärtigen Physik erfasst wird, und dem der Biologie und der Entwicklung des Lebenden.

Die Geschichte des Universums und die Organisation der Materie

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wusste man, dass die Materie aus Atomen besteht, die für jedes der Elemente charakteristisch ist. Die Chemie hatte sie entdeckt, klassifiziert und als Basis aller bekannten chemischen Verbindungen darstellt: Wasserstoff, Kohlenstoff, Sauerstoff, Blei, Uran und viele andere. Die Chemie hatte beispielsweise herausgefunden, dass ein Wassermolekül aus zwei Wasserstoffatomen und einem Sauerstoffatom besteht, und dass die Moleküle brennbaren Gases wie Butan, nur aus Kohlenstoff- und Wasserstoffatomen bestehen.

Fortschritte in Optik und Elektromagnetismus machten es möglich, stärkere Mikroskope zu entwickeln, optische und dann elektronische, mit deren Hilfe man die Materie immer besser betrachten konnte. Andere Geräte, die großen Teilchenbeschleuniger, ermöglichten es, Materie in noch kleinerem Maßstab zu untersuchen, indem sie in immer feinere Teile gebrochen werden. Und man versteht immer besser, wie sich die Materie im Bereich des "unendlich Kleinen" verhält.

In den späten 1960er Jahren stellten Physiker ein sehr einfaches Modell auf, nach dem alle bekannten chemischen Elemente aus drei Grundbausteinen bestehen, drei Arten von Elementarteilchen: zwei Teilchen namens Quark u und Quark d, und ein anderes, das Elektron, dessen Rolle bei elektrischen Phänomenen seit langer Zeit hervorgehoben wurde.

So bilden zwei Quarks u und ein Quark d den Kern des einfachsten Atoms, des Wasserstoffs (ein Proton), dem man ein Elektron ringsherum hinzufügen muss, um ein vollständiges Wasserstoffatom zu erhalten. Und durch mehrstufige Verschachtelung organisiert sich die Materie. Aus Quarks entstehen Atomkerne, aus Atomkernen und Elektronen: Atome und aus Atomen: Moleküle. Diese Moleküle können einfach sein, wie Wasser, oder extrem komplex, wie die Moleküle lebender Organismen, die aus mehreren Milliarden Atomen bestehen.

Um zu verstehen, wie aus so wenigen Grundelementen die ganze Vielfalt der Materie entsteht, kann man eine Analogie zum Alphabet herstellen. Unser Alphabet besteht aus 26 Buchstaben. Wir haben eine Art und Weise, jeden Buchstaben a, b, c, d usw. auszusprechen, aber wenn diese Buchstaben in einer bestimmten Weise angeordnet sind, können sie ein Wort bilden, das wir anders aussprechen als jeden der einzelnen Buchstaben, aus denen das Wort besteht. Die Bedeutung dieses Wortes hängt nicht mit den Buchstaben selbst zusammen, sondern mit ihrer Anordnung. Nehmen wir ein Beispiel. Mit den Buchstaben r, o, t kann das Wort "rot" geschrieben werden. Aber mit den gleichen Buchstaben, kann man in einer anderen Reihenfolge "Tor" schreiben. Also ein Wort, das nichts mit dem Ersten zu tun hat. Und wir können noch weitergehen: aus Wörtern können wir Sätze bilden, in denen die Bedeutung desselben Wortes unterschiedlich sein kann. Denn die Zuordnung von Wörtern innerhalb des Satzes gibt den Wörtern ihre endgültige Bedeutung. Unsere gesamte Literatur ist mit 26 Buchstaben geschrieben; und genauso ist die ganze Vielfalt der Materie aus den drei Elementarteilchen aufgebaut, von denen wir gesprochen haben.

Um die Geschichte dieser komplexen Organisation der Materie zu verstehen, ist es notwendig, einen Umweg über die Astronomie zu machen.

Dank der Konstruktion immer leistungsfähigerer Teleskope hatte der amerikanische Astronom Hubble Anfang der 1920er Jahre bewiesen, dass das Universum aus unendlich vielen Galaxien besteht, die aus Milliarden von Sternen wie unserer Sonne bestehen. Ein paar Jahre später machte derselbe Hubble eine Entdeckung, die die Astronomie revolutionierte: Er bemerkte, dass sich diese Galaxien alle voneinander zu entfernen scheinen, ein wenig wie die Moleküle eines explodierenden Gases: Er hat also die Ausdehnung des Universums entdeckt. Die Vorstellung eines unveränderlichen Universums war damit veraltet und das Universum als Ganzes hatte nun eine Geschichte.

Mehrere Jahrzehnte lang stellten Astrophysiker Hypothesen darüber auf, wie diese Geschichte abgelaufen sein könnte. Dabei stützten sie sich auf das Wissen, dass sie bereits über die Struktur der Materie hatten. Und Mitte der 1960er Jahre entwickelten sie ein Modell, das sie die Urknalltheorie nannten.

Wenn man davon ausgeht, dass das Universum vor mehr als zehn Milliarden Jahren nichts anderes als eine riesige Suppe von Elementarteilchen war, einschließlich der schon erwähnten Quarks und Elektronen, und man dann eine weitere Hypothese aufstellt, nämlich die der Ausdehnung dieser Suppe, dann kann man mit den bekannten Gesetzen der Materie erklären, wie sich die Suppe von Elementarteilchen allmählich verändert. Sie dehnt sich aus und kühlt sich ab, was zu einer immer komplexer werdenden Organisation der Materie führt. Dabei entstehen die ersten Atomkerne, dann die ersten Atome und dann die Sterne, die in ihrem Inneren noch schwerere Elemente herstellen. Diese Theorie erklärt die Entwicklung des Universums, von einem sehr einfachen primitiven Zustand bis zur Struktur des gegenwärtigen Universums mit seinen Sternen, Planeten und allen chemischen Elementen, die wir kennen.

Im Moment gibt es noch keine befriedigende Erklärung für die Ursache der Expansion des Universums. Natürlich gibt dies einigen die Möglichkeit, dort die Hand Gottes zu sehen. Aber es ist nicht neu, dass religiöse Vorurteile sich dort ansiedeln, wo die Wissenschaft noch nicht alles aufgeklärt hat.

Das ist umso lächerlicher, als diese Geschichte des Universums und der Organisation der Materie ein unglaublicher Schlag gegen die Mystik ist. Die Urknalltheorie zeigt, dass das Universum, so komplex wie es heute ist, vor Milliarden von Jahren in einem extrem einfachen Zustand war: eine Suppe aus Elementarteilchen, die von Gesetzen regiert wurde, die die Wissenschaft aufgestellt hat und keinen Raum für Unsinn über die Seele oder das Göttliche lässt. Zwischen dieser Suppe aus Elementarteilchen und der komplexen Organisation der Materie, aus der wir Menschen gemacht sind, gibt es eine unendliche Anzahl von Stufen, von denen viele noch verstanden werden müssen, aber es geht um dasselbe Universum und dieselbe Materie.

Die Entwicklung der Arten und die Genetik

Die systematische Erforschung des Funktionierens und der Evolution von Lebewesen begann vor über 200 Jahren.

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begannen Naturforscher, alle bekannten Pflanzen- und Tierarten zu erfassen, zu klassifizieren und zu benennen. Für die überwiegende Mehrheit dieser Wissenschaftler waren die Arten unveränderlich, obwohl sie ihre Klassifizierung auf Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Arten gründeten. Damals dominierte die religiöse Vorstellung von der Schöpfung. Fossilien unbekannter Arten waren bereits entdeckt worden, aber die gängige Meinung war, dass sie Zeugen von Arten seien, die während der Sintflut verschwanden, wie die Bibel berichtet.

Ausgehend von den Ähnlichkeiten zwischen fossilen und lebenden Arten hat ein französischer Naturforscher, Lamarck, mitten in der Französischen Revolution die Idee aufgebracht, dass die Arten sich verändern. Der Mechanismus, den er als Motor dieser Wandlung vorschlug, war eine Anpassung der Arten an Veränderungen in ihrer Umwelt. Laut Lamarck hätte sich beispielsweise der Hals der Giraffen verlängert, um die hohen Äste der Bäume der afrikanischen Savanne zu erreichen. Aber es gab keine Beweise für seine Hypothese.

1831 begab sich der 22-jährige englische Naturforscher Darwin auf eine fünf Jahre dauernde wissenschaftliche Weltreise. Wie andere vor ihm entdeckte er neue Tier- und Pflanzenarten, von denen er Exemplare nach England schickte.

Bei der Passage seines Schiffes durch die Galapagos-Inseln des Pazifiks war er von der außergewöhnlichen anatomischen Spezialisierung bestimmter Vögel, der Finken, überrascht. Von einer Insel zur anderen im Archipel unterscheiden sich die Finken leicht in der Form ihrer Schnäbel. Jeder Schnabeltyp war an eine Art sich zu ernähren angepasst: ein dünner Schnabel, um die Würmer aus der Tiefe eines Lochs im Boden zu holen, oder ein robusterer Schnabel, um Körner aufzubrechen usw., je nach der Umwelt der jeweiligen Insel.

Zurück in England versuchte Darwin, seine Beobachtungen zu interpretieren. Eines Tages, 1837, zeichnete er in einem seiner kleinen Notizbücher einen Zweig, der verschiedene Arten mit einem gemeinsamen Vorfahren repräsentieren sollte, und schrieb darüber auf Englisch: "Ich denk". Darwin hatte gerade die Evolution der Arten begriffen. Aber er musste erklären, auf welchem Gesetz diese Entwicklung beruht.

Die Entwicklung von Arten durch Selektion war den Züchtern bekannt. Sie wussten seit Jahrtausenden, dass sie durch die Auswahl von Tieren einer bestimmten Art mit einer Eigenschaft, die für sie von Interesse war, die Übertragung der Eigenschaften dieser ausgewählten Tiere auf ihre Nachkommen fördern konnte. Und zwar indem man diese ausgewählten Tiere sich untereinander paaren lässt und dies über mehrere Generationen hinweg macht. Sie stellten also innerhalb derselben Art Rassen her. Viele Hunderassen und Pferde sind das Ergebnis dieser Selektion durch den Menschen. Aber wie fand die Artenauswahl in der Natur statt?

Darwin wurde von einem reaktionären anglikanischen Pastor, Malthus, inspiriert, der eine Theorie des "Kampfes um das Leben" unter den Menschen dargelegt hatte. Seine Überlegungen führten ihn zu der Überzeugung, dass die Evolution aus der Auswahl der am besten für die Umwelt geeigneten Individuen resultierte, d.h. aus den Eigenschaften, die für das Überleben und die Fortpflanzung am besten geeignet sind.

Darwin brauchte mehr als zwanzig Jahre, um seine Ideen bekannt zu machen, denn er wusste, dass er sich dann dem Druck der Kirche aussetzen musste. 1859 veröffentlichte er ein Buch mit dem Titel Der Ursprung der Arten durch natürliche Selektion. In der Einleitung schrieb er: "Nach den gründlichsten Studien, nach einer kalten und unparteiischen Bewertung, sehe ich mich gezwungen zu behaupten, dass die Meinung, die bis vor kurzem von den meisten Naturforschern vertreten wurde, eine Meinung, die ich selbst einmal geteilt habe, das heißt, dass jede Art Gegenstand einer unabhängigen Schöpfung war, absolut falsch ist. Ich bin fest davon überzeugt, dass Arten nicht unveränderlich sind; schließlich bin ich davon überzeugt, dass die natürliche Auslese die Hauptrolle bei der Veränderung von Arten gespielt hat."

In der Mitte des 19. Jahrhunderts war die Gesellschaft in vollem Aufbruch. Die industrielle Revolution breitete sich von Großbritannien auf den Kontinent aus und untergrub endgültig die wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen der alten Adelsherrschaft. Revolten und soziale Revolutionen erschütterten die Königreiche und Imperien in ganz Europa. In dieser Zeit fand Darwins Kampf statt.

Darwin löste Im Bereich der Ideen eine echte Revolution aus. Er und seine Verteidiger kämpften hartnäckig gegen die Vorstellungen der Vergangenheit, beginnend mit den von der Kirche verbreiteten Ideen, die auch unter den Naturforschern Druck ausübten. Aber Darwins Entdeckung war da, und genau wie in den Tagen Galileis und Newtons war diese neue, strahlende Vision der Natur unwiderstehlich. Sie konnte sich nur durchsetzen, und sie hat sich durchgesetzt!

Seit Darwin haben Fortschritte in Biologie und Chemie viele weitere Details über die Mechanismen der Evolution auch auf molekularer Ebene geliefert.

Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts wusste man, dass jeder lebende Organismus aus einer großer Vielfalt von Zellen besteht: aus Zellen, die unsere Haut, unsere Knochen, unser Gehirn, unsere Leber usw. bilden. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts wissen wir, dass alle Zellen des gleichen Individuums das gleiche Molekül, die so genannte DNA (Desoxyribonukleinsäure) enthalten. Dieses Molekül, das jedes Individuum charakterisiert, ist die chemische Basis der so genannten Gene, die eine beträchtlichen Menge an Informationen speichern, und die Ausprägung dieser Gene ermöglichen.

Die Entwicklung eines lebenden Organismus, zum Beispiel eines Menschen, beginnt mit einer einzigen Zelle, die sich teilt und wieder teilt, und dann zu Zellreihen führt, die sich spezialisieren, und die die ganze Vielfalt der Zellen ergeben aus denen sich der betreffende Organismus zusammensetzt. Alle biologischen Informationen des sich entwickelnden Wesens sind im DNA-Molekül enthalten. Dieses Molekül enthält daher eine beträchtliche Menge an Informationen.

Die Grundlage ist wie bei der Organisation der Materie ein sehr einfaches "Alphabet". Das gesamte DNA-Molekül kann in vier kleine Einzelmoleküle, sogenannte Nukleotide, zerlegt werden. Diese vier Nukleotide, Adenin, Guanin, Thymin, Cytosin, werden durch ihre ersten Buchstaben A, G, T und C dargestellt. Sie allein kodieren alle in der DNA enthaltenen Informationen, also die Essenz aller chemischen Prozesse, die es einer einzelnen Zelle, dem so genannten Ei, ermöglichen, sich durch Zellteilung und Spezialisierung in einen kompletten Organismus zu verwandeln.

Die Zusammensetzung des DNA-Moleküls wird von den Eltern vererbt. Aber wie jedes Molekül kann es Veränderungen in seiner Zusammensetzung erfahren. Es sind diese Veränderungen, die bei Keimzellen, also Eizellen oder Spermien, die Quelle biologischer Veränderungen der Arten sind. Eine Veränderung der DNA hat möglicherweise keine Auswirkungen auf den Menschen, der geboren wird, aber sie kann bei ihm auch Behinderungen auslösen oder ihn stattdessen besser an seine Umgebung anpassen. Die natürliche Auslese erfolgt dann durch die Zwänge der Umwelt und lässt eine Art sich zu einer besseren Anpassung an die Umwelt entwickeln, wie es bei den Finken der Galapagosinseln der Fall war. Es ist also das DNA-Molekül, das sowohl die Vererbung als auch die Evolution chemisch unterstützt.

Aber die Gene, die wir von unseren Eltern geerbt haben, machen nicht alles. Wir alle sind viel mehr als die Gensequenz, die sie uns hinterlassen haben. Die Umwelt greift nicht nur auf der Ebene der natürlichen Selektion ein, sondern auch in die biologische Entwicklung eines Individuums, indem sie die Entwicklung der Gene direkt beeinflusst, auf der Ebene der chemischen Mechanismen, die sie entschlüsseln und in beobachtbare biologischen Eigenschaften übersetzen. Diese Mechanismen werden als epigenetisch bezeichnet, weil sie die Ausprägung der Gene begleiten. Zum Beispiel sind einige Zwillinge, also Zwillinge mit genau den gleichen Genen, weil sie aus dem gleichen Ei geboren wurden, bei der Geburt sehr ähnlich. Aber im Laufe ihres Lebens werden sie immer unterschiedlicher. Dies ist für das Auge sichtbar, wird aber von Spezialisten auch auf zellulärer Ebene gemessen. Während der Zellteilung, die Zwillinge zur Welt bringt, können viele chemische Prozesse das DNA-Molekül während seiner Vervielfältigung verändern. Aber auch ihr ganzes Leben lang, passen sich ihre Körper durch diese epigenetischen Mechanismen unter dem Einfluss der Umwelt anders an die Umgebung an.

Diese Mechanismen können einen großen Einfluss auf die Entwicklung des Einzelnen haben. Alle Bienen eines Bienenstocks haben bei der Geburt das gleiche genetische Erbe. Aber eine von ihnen, weil sie anders gefüttert wird als die anderen, mit Weiselfuttersaft, wird die einzige fruchtbare Biene des Bienenstocks. Sie übernimmt dann die Rolle der Fortpflanzung, der "Königin" wie die Imker sagen.

Seit einigen Jahren ist bekannt, dass dieser Einfluss der Umwelt auf epigenetische Mechanismen von einer Generation auf die nächste übertragen werden kann. Es hat sich z.B. bei Mäusen gezeigt: Ohne das für die Haarfarbe verantwortliche Gen zu verändern, ist das Auftreten von weißen Flecken am Schwanz das Ergebnis eines epigenetischen Mechanismus, den eine Maus während ihres Lebens erworben hat, und der auf ihre Nachkommen übertragen werden kann.

Von den ersten einzelligen Lebewesen, die vor über 3,8 Milliarden Jahren im Meerwasser aufgetreten sind, bis zur Vielfalt der heutigen Pflanzen- und Tierwelt, haben Fortschritte in der Biologie eine immer einheitlichere Vorstellung vom Leben hervorgebracht, die auf einem immer genaueren Verständnis der Funktionsweise der Lebewesen und der Mechanismen der Evolution beruht und alle Teile dieses globalen Stammbaums miteinander verbindet.

Über die Entwicklung der wissenschaftlichen Gesetze

Die Wissenschaften haben Fortschritte beim Verständnis und der Beherrschung der Natur ermöglicht. Es ist den wissenschaftlichen Gesetzen zu verdanken, dass man Flugzeuge fliegen lassen, dass man mit 30 Kilogramm Uran einen ganzen Tag lang den elektrischen Strom für den Großraum Paris liefern kann, dass man von einem Ende des Planeten zum anderen kommunizieren kann, als stünde man Seite an Seite.

Bei all dem sind wir heute weit davon entfernt, dass die große Mehrheit daran teilhaben kann. Und auch wenn heute Milliarden Menschen ein Handy haben, kann denselben Menschen das Dach über dem Kopf oder der Zugang zu Trinkwasser fehlen. Aber die Ursache davon ist nicht die fehlende Beherrschung der Natur mit Hilfe der Wissenschaft, sondern um die fehlende Kontrolle der Menschheit über ihre eigene soziale Organisation.

Es gibt immer noch unendlich viele unerklärliche Phänomene. Jede Entdeckung, die die Grenzen des Wissens überschreitet, eröffnet ein neues Feld für die Erforschung der Natur. Aber all das erworbene Wissen zeigt, wozu das menschliche Gehirn und die schöpferische Aktivität der Menschheit fähig sind, und lässt uns glauben, dass wir erst am Anfang eines grandiosen Abenteuers stehen: dem der Menschheit, die endlich von jeglicher Unterdrückung befreit ist.

Die Geschichte der Wissenschaft und ihres Fortschritts zeigt, dass alle ausgearbeiteten wissenschaftlichen Gesetze sich entwickeln und manchmal revolutioniert werden können. Wissenschaftliche Gesetze sind Modelle, die vom menschlichen Gehirn konstruiert wurden, um die Natur zu verstehen. Keine kann als ewige Wahrheit betrachtet werden. Das bedeutet nicht, dass die Wissenschaft ihre Zeit damit verbringt, ihre Theorien zu konstruieren und zu dekonstruieren. Wenn eine Entdeckung manchmal ein bereits bestehendes Gesetz oder eine Theorie widerlegen kann, so führt sie immer zu einem höheren Grad an Verständnis, welches die Ergebnisse der Vergangenheit aufnimmt und sie in eine neue, umfassendere und fruchtbarere Perspektive stellt.

Einstein revolutionierte mit seiner Relativitätstheorie das Verständnis des Universums, das wir von Newton geerbt hatten. Um die globale Geschichte des Universums richtig zu verstehen, erlaubt uns nur Einsteins Theorie, klar zu sehen. Aber wenn es darum geht, Sonden oder Satelliten ins Weltall zu schicken, liegen Einsteins Theorie und die von Newton nahe genug beisammen, und es genügt die Theorien Newtons zu benutzen, da sie viel einfacher zu handhaben sind.

Die wissenschaftlichen Gesetze sind keine absoluten, unveränderlichen Gesetze, die in der Gedankenwelt schon existieren und dort nur von den Menschen gesucht werden müssten. Die wissenschaftlichen Gesetze ergeben sich aus der sozialen, kollektiven Arbeit der Menschheit und sie werden aus den Problemen und schon zum Teil herrschenden Vorstellungen einer Epoche herausgearbeitet. Aus der Vielzahl von Hypothesen, die zur Lösung eines Problems aufgestellt werden, entsteht aus einigen von ihnen ein neues Gesetz, weil es diesem gelingt, die objektive Realität zu erfassen und das, was bisher unklar oder ungeordnet schien, nachvollziehbar zu machen. Und das ermöglicht, auf diese Realität besser zu reagieren.

Der Determinismus in der Wissenschaft: - ein Kampf

Der wissenschaftliche Fortschritt hat viele Phänomene entmystifiziert, die als zufällig erschienen. Denn der Begriff des Zufalls in den Naturwissenschaften ist nichts anderes als ein Ausdruck unserer Unwissenheit. Ein wissenschaftliches Gesetz ändert nicht die Realität. Es bringt ein neues Verständnis und verwandelt in unserem Geist und in unserem Leben einen Zufall in eine Notwendigkeit. Mit anderen Worten, wissenschaftliche Gesetze erklären die Triebfedern der Realität, die Ursachen der beobachteten Phänomene und ihre notwendigen Konsequenzen.

Für unsere fernen Vorfahren wurden Erdbeben als Schicksal, Zufall oder Gottes Wille angesehen. Alles Begriffe, die letztlich den Mangel an rationaler Erklärung dieses Phänomens ausdrücken. Die Geologie hat bis heute gezeigt, dass die Bewegungen der Erdkruste diese Erdbeben zwangsläufig auslösen. Von den ersten Menschen bis zu den heutigen Geologen hat sich die Realität der Erdbeben nicht verändert, aber unser Wissen hat uns von einer Situation, in der nur fatalistische Unterwerfung unter die Kräfte der Natur herrschen konnte, zu einer Situation geführt, in der die Menschheit zumindest in den reichen Ländern, immer mehr Mittel hat, diese vorauszusagen und sich vor diesen Erdbewegungen zu schützen.

Trotz des wissenschaftlichen Fortschritts verteidigen einige immer noch die Idee des Zufalls, der auf irgendeiner Ebene der Natur innewohnt. Diese Auffassung steht im Gegensatz zu der des Determinismus. Dieser vom Materialismus untrennbare Begriff setzt voraus, dass für jedes Phänomen Ursachen gefunden werden können, und dass es grundsätzlich keinen Zufall gibt als den, der mit unserer Unkenntnis der Ursachen verbunden ist. Determinismus ist eine Art "Glaubensbekenntnis" in den Wissenschaften, das durch die Entdeckungen selbst gerechtfertigt ist. Er ist die Grundlage des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses. Denn gerade weil die gleichen Ursachen zu den gleichen Wirkungen führen, können wir versuchen, die Gesetze herauszufinden. Auf die deterministische Voraussetzung zu verzichten bedeutet, auf der einen oder anderen Ebene auf die Gesetze zu verzichten, die eine Ordnung in die scheinbare Unordnung bringen. Das heißt, darauf zu verzichten letztere zu verstehen.

Ein französischer Mathematiker, René Thom, der sich jedoch nicht auf den Materialismus berief und manchmal idealistische Vorstellungen zeigte, war dennoch ein erbitterter Gegner der Propagandisten des Zufalls. Und er fasste den Determinismus in einer materialistischen Formel zusammen: "Determinismus in der Wissenschaft ist keine Selbstverständlichkeit, sondern eine Eroberung. In dieser Hinsicht sind die Eiferer des Zufalls Apostel der Desertion."

Es kommt auch vor, dass Wissenschaftler idealistische Ansichten vertreten, und behaupten, sich auf diese oder jene Entdeckung zu stützen. Es gibt, wie bereits erwähnt jene, die Gott als Ausgangspunkt der Urknall-Theorie sehen, aber es kann auch subtiler sein.

Zum Beispiel, warum war der Urknall stark genug, um die Suppe der Elementarteilchen abzukühlen, so dass er die Organisation der Materie ermöglichte, indem er sie verdünnte? Und warum war er gleichzeitig nicht zu stark, wobei er dann alle Elementarteilchen weggeblasen und sie daran gehindert hätte, sich in Form von Atomen, dann Sternen und Galaxien zu organisieren? Auf diese wichtige Frage antworten einige Astrophysiker mit dem von ihnen so genannten "anthropischen Prinzip" (aus dem Griechischen "anthropos", was "Mensch" bedeutet). Dieses Prinzip lässt sich wie folgt zusammenfassen: Das Universum hat die aktuelle Konfiguration, denn wenn dies nicht der Fall gewesen wäre, würde die Menschheit nicht existieren und niemand wäre da, um es zu festzustellen. Aber was wie eine Bemerkung des gesunden Menschenverstands erscheint, ist in Wirklichkeit nur eine idealistische Wendung oder "Desertion", um den Begriff von René Thom zu verwenden. Entweder ist diese Art von Antwort die einzige, die gegeben werden kann, und in diesem Fall muss die Wissenschaft, zumindest was dieses Problem betrifft, in der Versenkung verschwinden; oder es ist durchaus möglich, dass der wissenschaftliche Fortschritt früher oder später eine Antwort auf dieses Problem geben wird, und in diesem Fall hat dieses "anthropische Prinzip" unserer Unwissenheit nur einen anderen Namen gegeben. Und anstatt zu helfen, das Problem zu lösen, verdunkelt es seine Formulierung und öffnet die Tür zur Mystik.

In ihrem eigenen Forschungsgebiet können Wissenschaftler nur als Materialisten agieren. Nur wissenschaftliches Denken ermöglicht es, neue Naturgesetze zu finden. Aber das macht nicht automatisch alle Wissenschaftler zu bewussten Materialisten. Auch die Wissenschaftler sind von den Vorurteilen unserer Gesellschaft durchdrungen. Und obwohl sie von vornherein intellektuell besser gerüstet scheinen, um bestimmten Vorurteilen zu widerstehen, ist es klar, dass dies bei weitem nicht bei jedem der Fall ist.

Das Verstehen der Funktionsweise des menschlichen Gehirns und des menschlichen Denkens

Nach den Vorstellungen über die Organisation der Materie und die Evolution der Arten müssen wir auch von einem Gebiet der Naturwissenschaften sprechen, das zu einer Grundlage materialistischer Vorstellungen geworden ist, nämlich der Biologie des Gehirns, der Neurobiologie. Die wissenschaftlichen Entwicklungen auf diesem Gebiet haben immer tiefergehende Erklärungen darüber gegeben, was Denken ist. Erklärungen, die Waffen zur Bekämpfung von Vorurteilen aller Art über die Seele oder idealistische Vorstellungen über den Ursprung von Ideen darstellen.

Das menschliche Gehirn: denkende Materie

Die Hirnbiologie ist eine junge Wissenschaft, die mit der Entwicklung der modernen Krankenhäuser und des öffentlichen Gesundheitswesens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbunden ist.

Ein französischer Arzt, Broca, der Patienten mit Sprachstörungen untersuchte, d.h. diejenigen, die nicht mehr sprechen konnten, aber verstanden, was sie hörten, und keine Probleme mit den Mundmuskeln hatten, vermutete, dass ein Bereich ihres Gehirns defekt war. Als diese Patienten starben, ermöglichte ihm die Autopsie, einen Sprachbereich im linken Vorderlappen des Gehirns zu identifizieren: In der Tat, bei all diesen Patienten zeigte dieser Bereich Verletzungen. Etwa zehn Jahre später schrieb der deutsche Neurologe Wernicke im hinteren Schädel einem Bereich das Sprachverständnis zu. Das Rennen um die Lokalisierung der Gehirnfunktionen war eröffnet.

Das Verständnis der Verbindungen zwischen dem Gehirn und dem Rest des Körpers schreitet dabei parallel voran. Das Nervensystem wurde systematisch untersucht. Dann wurde der Nervenimpuls entdeckt, der elektrische Impuls, der sich durch die Nerven im ganzen Körper ausbreitet und die Muskeln sich zusammenziehen lässt.

Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich eine Konzeption durchgesetzt: Laut dieser gab es ein Gehirn mit Zonen, die durch ein System von Nerven, das den ganzen Körper durchzieht, mit den Funktionen des Körpers verbunden sind; das Ganze bildet eine starre Struktur, die als "netzartig" bezeichnet wird, wie ein elektrisches Kabelnetz.

Doch frühe Beobachtungen der Hirnsubstanz unter dem Mikroskop zeigten im Gegenteil fadenförmige, aber unabhängige Strukturen, Gehirnzellen, die Biologen Neuronen oder Nervenzellen nennen. Nach heftigen Auseinandersetzungen zwischen Verteidigern und Gegnern der Neuronen-Theorie entstand eine neue Sichtweise des Gehirns, weit entfernt von der eines starren Kabelsystems.

Das Gehirn besteht aus einer sehr großen Anzahl spezifischer Zellen, Neuronen, die miteinander verbunden sind. Ein menschliches Gehirn enthält etwa hundert Milliarden Neuronen und jedes Neuron hat im Durchschnitt etwa zehntausend Verbindungen mit anderen Neuronen. Das ergibt insgesamt eine Billiarde Verbindungen, die im Laufe des Lebens ständig hergestellt und wieder unterbrochen werden und die für unsere Lernfähigkeit eine grundlegende Rolle spielen.

Durch die Entdeckung der Neuronen stellte die Neurobiologie erneut das Problem der Übertragung von Nervenimpulsen. Wie können sich elektrische Impulse ausbreiten, wenn die Gehirnstruktur so zerstückelt ist? Im Innern der Neurone breitet sich der Nervenimpuls wie ein elektrischer Impuls aus. Aber wie passiert das zwischen den Nervenzellen?

Fortschritte in der Chemie und die Entwicklung immer feinerer Messgeräte ermöglichten es Anfang des 20. Jahrhunderts die chemischen Mechanismen zu verstehen, welche die Übertragungen zwischen Neuronen ermöglichen. Es wurden Moleküle entdeckt, die von der Spitze eines Neurons in ein anderes wandern und als Neurotransmitter bezeichnet werden. Ob durch chemische Übertragung zwischen Neuronen oder durch die Ausbreitung eines elektrischen Signals innerhalb von Neuronen, unsere gesamte Gehirnaktivität wird auf elektrochemische Prozesse reduziert.

Die Entdeckung von Neurotransmittern hat es ermöglicht, einen weiteren Schritt beim Verständnis der Funktionsweise des Nervensystems und insbesondere des Gehirns zu machen. Und es war auch eine Revolution in der Pharmakologie, denn sie führte zur Entwicklung von Medikamenten, die in der Lage sind, durch Eingriffe in diese Übertragungsmechanismen zwischen Neuronen, bestimmte Körperregionen zu betäuben oder Gehirnfunktionen zu beeinflussen.

Mitte des 20. Jahrhunderts untersuchte der kanadische Neurochirurg, Penfield, elektrische Impulse, Nervenimpulse, auf der Oberfläche der oberen Hirnschicht, der Hirnrinde (Kortex), bei Patienten mit Epilepsie, deren Schädel er geöffnet hatte. Er konnte so eine Darstellung aller sensiblen und motorischen Teile des menschlichen Körpers im Gehirn erhalten. Er war in der Lage, jeden Teil des Körpers mit einem Bereich im Kortex zu verbinden. Er zeigte, dass die Größe dieser Hirnareale nicht proportional zur Größe des entsprechenden Körperteils, sondern zu dessen Empfindungsvermögen ist. So hängen die größten Bereiche in der Hirnrinde mit dem Gesicht (vor allem dem Mund und der Innenseite des Rachens) und der Hand (vor allem den Fingerspitzen) zusammen, während der Rest des Körpers viel kleineren Bereichen in der Hirnrinde entspricht.

Eine der spektakulärsten Anwendungen dieser Entdeckungen betrifft die so genannte Neuroprothesen. Durch die Einpflanzung von Elektroden, die in der Lage sind, Nervenimpulse aufzunehmen, die durch die motorischen Zonen des Kortex wandern, kann der Patient eine Prothese, zum Beispiel einen Armprothesenarm, durch Denken steuern. Das funktioniert, weil jeder Gedanke sich in Nervenimpulse des Gehirns übersetzt. Vor einigen Jahren konnte ein junger Querschnittsgelähmter, dessen Gehirn mit einem Computer verbunden war, nach einem Training mit fast ebenso viel Geschick einen Cursor auf einem Bildschirm bewegen wie unsere Hand mit einer Maus. Er war auch in der Lage, einen Gelenkarm zu betätigen, um einen Gegenstand in die Hand des behandelnden Arztes zu legen. Und erst kürzlich hat ein amerikanisches Team einem Mann, der seit fast 30 Jahren blind war, das Sehvermögen wiederhergestellt, indem es eine optoelektronische Prothese (die Licht in elektrische Impulse umwandelt) in seinem linken Auge installiert und mit dem Sehnerven verbunden hat.

Ausgehend von der Identifizierung bestimmter Bereiche im Gehirn, die auf bestimmte Aufgaben spezialisiert sind und vom Verständnis des Informationstransfers zwischen diesen verschiedenen Bereichen, konnten Neurobiologen beginnen zu verstehen, wie das Gehirn organisiert ist. Es hat sich gezeigt, dass für einen einfachen Gedanken, einen verstandenen Satz, ein beobachtetes Bild oder ein ausgesprochenes Wort eine beträchtliche Anzahl von Zonen aktiviert und in Beziehung gesetzt werden. Das Beobachten eines Objekts und das Aussprechen des mit diesem Objekt verbundenen Wortes betrifft das Auge, seine Sensoren und den Sehnerv, aber auch mehrere Gehirnbereiche, die die vom Sehnerv gesendeten Informationen entschlüsseln: der eine identifiziert die "Objekte" in einem Bild, der andere trennt, was sich im Ruhezustand befindet und was sich bewegt, und der andere ist im Gegenzug in der Lage, die Zusammenhänge all dieser Analysen synthetisch wiederherzustellen. Dann wird im Zusammenhang mit den Sprachzonen des Gehirns die Verbindung zwischen einem Wort und dem identifizierten Objekt hergestellt.

In ständiger Verbindung mit all diesen Bereichen des Gehirns und sogar mit dem ganzen Körper, da sich das Nervensystem über den ganzen Körper erstreckt, spielt ein Teil des Gehirns, der sich vorn befindet, der präfrontale Kortex, eine entscheidende Rolle. Dieser Bereich des Gehirns, der keiner bestimmten Funktion des Körpers gewidmet ist, ist zweifellos die Quelle des rationalen Denkens. Alle Säugetiere haben einen präfrontalen Kortex. Das haben wir mit den Affen, den Hunden oder auch den Ratten gemeinsam. Aber es ist bemerkenswert zu sehen, dass die relative Größe dieses Teils des Gehirns mit der Evolution der Wirbeltiere gewachsen ist und dass er bei Affen viel größer ist als bei Hunden und beim Menschen sogar noch größer: der präfrontale Kortex macht 7% des gesamten Kortex bei Hunden, 17% bei Schimpansen und 29% beim Menschen aus.

Am Ende des 20. Jahrhunderts war die Neurobiologie bei der Erforschung des Gehirns weit fortgeschritten. Aber eine wesentliche Frage blieb offen. Netze zwischen Neuronen wurden als starr betrachtet. Wie kann also das Lernen, was für die menschliche Spezies so grundlegend ist, stattfinden? Anfang der 80er Jahre erlebte die Neurobiologie eine Revolution: die Entdeckung der "Neuroplastizität". Es wurde entdeckt, dass Verbindungen zwischen Neuronen hergestellt und wieder unterbrochen werden können, dass das Gehirn Verbindungen zwischen verschiedenen Bereichen der Hirnrinde herstellen oder sie im Gegenteil beseitigen kann.

Das passiert zum Beispiel, wenn ein Blinder mit den Fingerspitzen die Blindenschrift lesen lernt. Wenn er liest, fühlt er, dass die Spitze seines Zeigefingers empfindlicher wird. In Wirklichkeit sind es die mit der Berührung des Zeigefingers verbundenen Hirnareale, die sich entwickeln. Das Gleiche passiert, wenn das Gehör von blinden Menschen besser entwickelt ist. So liegt es daran, dass dieser Sinn, indem er eine wichtigere Rolle im Leben dieser Menschen einnimmt, bei ihnen ausgedehntere Zonen im Kortex einnimmt.

Diese Neuroplastizität ist die biologische Voraussetzung für das Lernen, für den Wissenserwerb. Und in der alten Debatte über das Angeborene und das Erworbene bestätigt dieser Begriff die materialistischen Vorstellungen über den Ursprung des Denkvermögens der Menschen.

Das Angeborene und das Erworbene

Die ersten englischen Philosophen, die sich am Ende des 17. Jahrhunderts dem Materialismus annäherten, hatten bereits die Idee entwickelt, dass die Gedanken von unseren Sinnen kommen, und dass es keinen angeborenen Gedanken gibt, nicht einmal den von Gott. Einer von ihnen, Locke, benutzte das Bild eines "unbeschriebenen Blatts", um den Geist eines neugeborenen Kindes zu charakterisieren.

Die ersten modernen Materialisten, wie Diderot und La Mettrie, waren begeistert von Geschichten über von Geburt an Blinde und Taube, und ihrer Art, die Welt zu begreifen. Für sie ermöglichten diese besonderen Fälle, über die Funktionsweise des Gehirns aller Menschen nachzudenken. In seinem Buch Brief über die Blinden erzählt Diderot die Geschichte eines blinden Mannes, der Professor für Mathematik an der Cambridge University in England wurde. Er berichtet von den Worten, die dieser zu dem Priester gesagt haben soll, der ihm vorschlug, auf seinem Sterbebett zu beichten, und der ihm die Wunder der Natur lobte: "Ach, Herr Pfarrer, antwortete ihm der blinde Philosoph, lassen Sie doch dieses ganze schöne Schauspiel sein, das nie für mich geschaffen wurde! Ich war dazu verurteilt, mein Leben in der Finsternis zu verbringen, und Sie führen Wunder an, die ich nicht verstehe und die nur beweiskräftig sind für Sie und die anderen, die sehen wie Sie. Wenn Sie wollen, dass ich an Gott glaube, müssen Sie ihn mich fühlen lassen."

Nachdem er erzählt hatte, dass der Priester ihm vorgeschlagen habe, sich selbst zu berühren, damit der Blinde in sich eine göttliche Verwirklichung sieht, greift Diderot die Aussagen des Blinden auf: "Ich sage Ihnen noch einmal, das alles ist für mich nicht so schön wie für Sie. Aber wäre der tierische Mechanismus auch so vollkommen, wie Sie behaupten und wie ich gern glauben will, denn Sie sind ein ehrlicher Mensch, also gewiss nicht imstande, mir etwas vorzumachen - was, frage ich, hat dieser Mechanismus mit einem höchst intelligenten Wesen zu tun? Vielleicht sind Sie nur deshalb so erstaunt, weil Sie alles, was über Ihre Kräfte zu gehen scheint, als Wunder zu betrachten pflegen. Ich war so oft ein Objekt der Bewunderung für Sie, so dass ich eine recht schlechte Meinung davon habe, was Sie überrascht. Ich zog Leute aus den Tiefen Englands an, die sich nicht vorstellen konnten, wie ich Geometrie machte: Sie müssen zustimmen, dass diese Leute keine sehr genauen Vorstellungen von der Möglichkeit der Dinge hatten. Gibt es unserer Meinung nach ein Phänomen, das über dem Menschen steht? Wir sagen sofort: Es ist das Werk eines Gottes; unsere Eitelkeit ist nicht mit weniger zufrieden. Könnten wir nicht etwas weniger Stolz und etwas mehr Philosophie in unsere Denkweise bringen? Wenn uns die Natur einen so schwer zu lösenden Knoten bietet, wollen wir ihn so lassen, wie er ist, und zum Zerschneiden dieses Knotens nicht die Hand eines Wesens benutzen, das dann für uns einen neuen Knoten bedeutet, der noch unlösbarer als der erste ist. Fragen Sie einen Inder, warum die Welt in der Luft schwebt, so antwortet er ihnen, sie ruhe auf dem Rücken eines Elefanten. Und worauf stützt sich der Elefant? Auf eine Schildkröte! Und die Schildkröte - wer trägt die? Dieser Inder tut Ihnen leid, doch könnte man Ihnen ebenso wie ihm sagen: Herr Holmes, lieber Freund, gestehen Sie zunächst Ihre Unwissenheit und verschonen Sie mich mit dem Elefanten und der Schildkröte."

Diderot, La Mettrie und die anderen Materialisten dieser Zeit schlossen aus solchen Beispielen, dass die Gedanken der Menschen die Frucht von Interaktionen zwischen den Menschen waren. Mettrie hat es so ausgedrückt: "Die größte Vielfalt der Ideen der Menschen liegt in ihrem gegenseitigen Austausch."

Die Entwicklungen in der Neurobiologie bilden heute eine wissenschaftliche Grundlage für diese philosophischen Positionen. Während der Entwicklung des Fötus sind die Gene des Individuums für die biologische Organisation des Gehirns verantwortlich. Und unsere Gene sind durch die Evolution entstanden. Im Laufe der Jahrmillionen der Evolution hat sich die Hirnrinde so weit entwickelt, dass sie sich falten muss, um in den Schädel hineinzupassen. Wenn wir die menschliche Hirnrinde entfalten, würden wir sehen, dass sie eine Fläche von etwa zwei Quadratmetern darstellt.

Die allgemeine Organisation des Gehirns, die von unseren Genen kodiert wird, ist somit angeboren. Aber dies Angeborene ist eine erworbene Eigenschaft unserer Spezies, des Homo sapiens, die einen großen Teil von den unseren zahlreichen Vorfahren in Millionen von Jahren der Evolution geerbt hat. Sehr komplexe Verhaltensweisen können in Genen kodiert werden, auch bei Tieren. Tierverhalten ist auch ein Verhalten, bei dem das angeborene und damit das genetische Erbe eine wesentliche Rolle spielt. Zum Beispiel wird ein Tintenfisch gegenüber einem Raubtier immer den gleichen Reflex haben: Er zieht sich zurück, schüttelt seine Tentakel und stößt Tinte aus, um seinen Gegner zu blenden und zu versuchen, sich zu verstecken. Dieses in der Evolution entstandene geerbte Verhalten wird von Geburt an im Gehirn des Tintenfisches programmiert. Der zum Lernen belassene Platz wird durch die Anpassungsfähigkeit des Gehirns bestimmt. Er ist sehr gering bei den Wirbellosen, wie zum Beispiel Tintenfischen, viel bedeutender bei Säugetieren, je nach Art auch sehr unterschiedlich. Und die Größe und Plastizität des menschlichen Gehirns ist die biologische Grundlage unserer enormen Lernfähigkeit. Zum Zeitpunkt der Geburt eines Individuums sind nur 10% der zukünftigen Verbindungen zwischen den Neuronen hergestellt. Die restlichen 90% werden in der Kindheit und Jugend aufgebaut und entwickeln sich im Laufe des Lebens weiter. Das ist die materielle Grundlage der Neuroplastizität.

Dank der medizinischen Bildgebungsverfahren kann man heute Schwankungen im Blutfluss des Gehirns messen. Man kann genau sehen, welche Zonen bei einem Säugling wann aktiv sind. So sind wir in der Lage, die Entwicklung des Gehirns bei Babys zu studieren und dann bei einem Kind, wie es lernt. Von Geburt an gewöhnt sich das Gehirn an das, was das Kind sieht, hört und berührt. Verbindungen zwischen Neuronen werden entsprechend der Umgebung des Kindes hergestellt. Sein Gehirn spezialisiert sich unter anderem auf die Analyse der für seine Muttersprache charakteristischen Geräusche. Bevor auch nur ein einziges Wort gesprochen wird, bereitet sich das Gehirn eines Babys monatelang darauf vor, zu sprechen.

So wissen wir, dass Kinder ab dem Alter von sechs Monaten den Klang, der im Französischen mit dem Buchstaben r verbunden ist, vom Klang, der mit dem Buchstaben l verbunden ist, unterscheiden können. Aber bei japanischen Kindern, da ihre Sprache diese beiden Klänge nicht unterscheidet, entwickelt sich die Fähigkeit, sie auseinanderzuhalten, nicht. Ebenso nimmt das Gehirn einer Person, deren Muttersprache Französisch ist, die beiden Arten von Klängen der Hindi-Sprache, die mit unserem Buchstaben d verbunden sind, nicht wahr. Wir könnten zahlreiche solcher Beispiele anführen.

Nach und nach entwickelt und spezialisiert sich das Gehirn des Kindes unter dem Einfluss von Wechselwirkungen mit seiner physischen, familiären und sozialen Umgebung. Denn das soziale und kulturelle Umfeld spielt eine wesentliche Rolle bei der Bildung des menschlichen Gehirns. Und das macht es mindestens ebenso zu einem Produkt der Gesellschaft wie der Biologie.

Das menschliche Hirn ist auch ein Produkt der Gesellschaft

Um eine Formulierung des sowjetischen Neurobiologen, Alexander Luria, zu benutzen, unser Gehirn - genauer gesagt - unser präfrontaler Kortex ist unser "Organ der Zivilisation". Ihm ist es zu verdanken, dass sich die menschliche Spezies kulturell und nicht mehr nur biologisch weiterentwickeln konnte. Im Gegenzug hat der kulturelle und soziale Kontext unseren präfrontalen Kortex geprägt.

Unsere weit entfernten Vorfahren haben vor mehr als zwei Millionen Jahren angefangen zu sprechen. Wahrscheinlich ist der Homo habilis der älteste Vormensch, der eine artikulierte Sprache verwendet hat. Mit der Entwicklung der menschlichen Spezies, der Größe des Gehirns, der Fähigkeit, Werkzeuge herzustellen und die eigene Umgebung zu modifizieren, haben die Menschen auch ihre Sprache und ihr Denkvermögen weiterentwickelt.

Denn wir denken mit Hilfe unserer Sprache. Nachdenken ist letztendlich ein stilles Reden zu sich selbst. Und da die Sprache ein Produkt der sich ständig in Entwicklung befindlichen menschlichen Gemeinschaft ist, sind die Ideen, die in unserem Gehirn keimen oder widerhallen, auch das Ergebnis unserer gegenseitigen Wechselwirkungen in der Gesellschaft, in der wir leben. Auch um zu verstehen, was Ideen sind, ist es notwendig zu verstehen, was eine Gesellschaft ist und wie sie sich entwickelt.

Die materialistische Konzeption der Entwicklung von Gesellschaften

Wir haben über die Naturwissenschaften gesprochen, aber was können wir über die Gesellschaft sagen, welche Gesetze kann man aus der sozialen Organisation des Menschen herausfinden? Und wie haben die Entdeckungen, die wir bezüglich der Vergangenheit der Menschheit gemacht haben und weiterhin machen, ein wissenschaftliches Verständnis der Gesellschaften und ihrer Entwicklung gefördert?

In diesem Bereich haben noch mehr als in anderen, idealistische, abergläubische, ja sogar religiöse Auffassungen immer noch ein riesiges Gewicht. Auf vielen Ebenen sind sie sogar vorherrschend. Vor allem, da materialistische Vorstellungen auf dem Gebiet der Gesellschaftsgeschichte sehr früh mit dem Marxismus in Verbindung gebracht wurden und, als solche werden sie von der herrschenden Ideologie bekämpft.

Der freie Wille und die Gesetze der Entwicklung der Gesellschaften

Wenn wir uns die Geschichte der menschlichen Gesellschaften anschauen, kann man nur über die Verschiedenartigkeit der Situationen erstaunt sein. Es gab Gesellschaften, in denen die Menschen nur als Jäger und Sammler lebten; es gab die großen Reiche der Antike in Ägypten, in Mesopotamien; Gesellschaften wie Griechenland und Rom, die auf der Sklaverei basierten; Feudalgesellschaften im Mittelalter; große Königreiche und in den letzten Jahrhunderten die weltweite Entwicklung des Kapitalismus. Und das ist nur eine grobe, begrenzte Auflistung, die sich vor allem auf Europa konzentriert.

Die Menschheitsgeschichte zeigt eine beträchtliche Anzahl verschiedener sozialer Formationen, die im Vergleich zu der, in der wir leben, unverständlich erscheinen mögen. Zum Beispiel verletzt und empört uns die Idee der Sklaverei; doch die Sklaverei prägte in den Jahrhunderten des antiken Griechenlands und Roms den gesamten Mittelmeerraum und noch später das moderne Europa. So wurden in der Zeit des abscheulichen Handels mit Millionen von Sklaven, diese in Afrika von den europäischen Mächten gefangen genommen, um unter anderem Baumwolle in ihren Kolonien in Amerika zu kultivieren.

Auf der anderen Seite können einige von Ethnologen untersuchte Gesellschaften für all diejenigen, die Unterdrückung, Ungleichheit und Privateigentum für unvermeidlich halten, unvorstellbar erscheinen. Unter den San (Buschmänner) im südlichen Afrika wird das getötete Wild systematisch unter allen verteilt. Und das Teilen geschieht durch den, der den Pfeil gemacht hat, der nicht unbedingt derjenige ist, der ihn geschossen hat, weil die Pfeile zwischen den Jägern zirkulieren.

Alle diese Gesellschaften bestehen jedoch aus der gleichen Spezies Mensch, denn es besteht kein grundlegender biologischer Unterschied zwischen dem San, den Menschen der Sklavenzeit, den Herren oder Sklaven und uns heute.

Genauso wie es auch keinen biologischen Unterschied zwischen uns und den Frauen und Männern gibt, die vor 15.000, 20.000 oder 30.000 Jahren die Wandmalereien in den Höhlen von Lascaux in der Dordogne in Frankreich, in Altamira in Spanien und an vielen anderen Orten angefertigt haben. Wir alle bilden die gleiche biologische Spezies: Wir wissen das von der Erforschung von Fossilien. Die Biologie hat definitiv die Unmöglichkeit der Definition menschlicher Rassen bewiesen, sei es in der Vergangenheit des Homo sapiens oder heute. Während jeder von uns anders und einzigartig ist, gibt es verwandtschaftliche Bindungen, die alle Bewohner der Erde auf die eine oder andere Art miteinander vereinen.

Die extreme Vielfältigkeit all dieser Gesellschaften der Vergangenheit und Gegenwart mag als Zufall erscheinen. Doch genau das macht den wissenschaftlichen Ansatz aus, dass man Gesetze genau dort sucht, wo der Zufall zu herrschen scheint.

Der Mensch hat ein Bewusstsein und handelt nach seinem eigenen Ermessen, aber viele Folgen seines Verhaltens und seiner Entscheidungen entziehen sich ihm. Die individuellen Wahlmöglichkeiten folgen extrem unterschiedlichen Motivationen. Die Richtung, in die sich die Gesellschaft entwickelt, ist das Ergebnis all dieser Entscheidungen, all dieser Aktionen, die abgesehen von sehr seltenen Fällen nicht koordiniert sind. Selbst wenn dies der Fall ist, weichen ihre Ergebnisse oft sehr erheblich von dem ab, was erwartet oder erhofft wurde.

Der Grund dafür ist, dass das Bewusstsein, mit dem der Einzelne agiert, in der Regel nur sehr relativ ist, schon allein deshalb, weil er nur einen Teil der Gesellschaft, in der er lebt, kennt und im besten Fall auch versteht. Und trotz des freien Willens sind Entscheidungen in Wirklichkeit das Ergebnis einer Vielzahl von Faktoren und sozialem Druck, dem man sich in der Regel nicht klar bewusst ist.

Um einen der Verbreiter des Marxismus in Russland am Ende des 19. Jahrhunderts, Plekhanov, zu zitieren, "die menschliche Aktivität definiert sich nicht als freie Aktivität (...), sondern als notwendige Aktivität, das heißt, als eine, die Gesetzen entspricht und Gegenstand eines wissenschaftlichen Studiums sein kann".

Die Suche nach der Aufdeckung solcher Gesetze bedeutet nicht, dass der Mensch sein Schicksal nicht selbst bestimmen kann. Im Gegenteil, indem wir uns der Mechanismen der Entwicklung von Gesellschaften bewusst sind, können wir versuchen, bewusst auf die Gesellschaft, in der wir leben, einzuwirken. Das Kennen der Schwerkraftgesetze hat es nie möglich gemacht, ihnen zu entkommen, und die Menschen fallen nicht weniger auf den Boden als vor den Entdeckungen von Galilei, Newton und Einstein. Aber die Entdeckung dieser Gesetze hat es erlaubt, Flugzeuge fliegen zu lassen und Menschen erst in den Weltraum und dann auf den Mond zu schicken.

Die Produktivkräfte, Basis jeder gesellschaftlichen Organisation

Im Gegensatz zu anderen Tierarten, auch denen, deren Existenz durch kollektive Organisation geregelt wird, haben die Menschen ihre Umwelt mehr oder weniger radikal verändert, je nach den betrachteten Gesellschaften: wenig oder sehr wenig bei Jägern und Sammlern, viel mehr bei Bauern und wesentlich mehr in der modernen kapitalistischen Gesellschaft, mit dem Auftreten der Großindustrie, wo praktisch alles, was uns umgibt, selbst das, was oft fälschlich als natürlich bezeichnet wird, in Wirklichkeit das Produkt menschlicher Arbeit ist. Und man kann, um vollständiger zu sein, hinzufügen, es ist das Ergebnis einer Kette von verändernden Arbeitsschritten, die heute von einem großen Teil der Menschheit durchgeführt werden!

Das menschliche Leben und sogar das Überleben waren schon immer direkt mit der Fähigkeit verbunden, die Natur zu nutzen und zu verändern, um Nahrung zu produzieren, sich vor Witterungsbedingungen zu schützen, Unterkunft und Kleidung zu finden und viele andere komplexere Bedürfnisse zu erfüllen, die die Gesellschaft hervorbringt: sich fortzubewegen, Gegenstände und Ideen auszutauschen, Wissen zu vermitteln, für Kranke und Verletzte zu sorgen ... Jede Gesellschaft hat auf diese Probleme, oder zumindest die wesentlichsten von ihnen, ihren Mitteln entsprechend reagiert; Mittel, die in erster Linie durch den Grad der technischen Entwicklung, des Wissens und des Know-hows jeder menschlichen Gruppe zu einem bestimmten Zeitpunkt gekennzeichnet sind.

Die Gesellschaften der Jäger- und Sammler haben in der Regel einen sehr niedrigen Stand der Technik. Natürlich wären wir im Busch Südafrikas verloren und da wäre es besser, sich in Begleitung eines San (Buschmann) zu befinden, der die lokale Flora und Fauna kennt, der weiß, wie er sich zurechtfindet, um in einer Umgebung zu leben, die uns leer und verlassen erscheint, als mit einem Atomphysiker allein zu sein. Dies schließt jedoch nicht aus, dass die sehr geringe Fähigkeit dieser primitiven Gesellschaften, die sie umgebende Natur zu verändern, sie oft an die Grenze des Überlebens bringt. Von diesen Gesellschaften, die regelmäßig unter Hungersnöten leiden, sind nur diejenigen bekannt, die überlebt haben. Viele - zahlreichere - sind verschwunden. Bei Jägern und Sammlern gibt es im Allgemeinen sehr wenig Überschuss, zumindest sehr wenig dauerhaften Überschuss, der es ihnen erlaubt, Vorräte anzuhäufen und sich zu entwickeln. Jahrmillionen lang begnügten sich unsere fernen Vorfahren damit, Kleintiere und Kadaver zu sammeln, zu jagen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Spuren dieser Menschen wurden gefunden: Skelette, Werkzeuge und sogar aus einer neueren Ära Malereien. Und während dieser Entwicklung haben Archäologen in beachtlich langen Zeiträumen die Spur eines sehr langsamen, aber grundlegenden technologischen Fortschritts gesehen.

Die gefundenen Werkzeuge unterstreichen diese Entwicklung der Techniken. Der Stein, das einzige Material, das aus den ältesten Epochen erhalten geblieben ist, wurde mit zunehmender Effizienz bearbeitet. Fachleute haben geschätzt, dass die Menschen vor 2,5 Millionen Jahren zehn Zentimeter Schneide aus einem Kilo Material herstellen konnten, zwei Millionen Jahre später, vor 500.000 Jahren, konnten unsere Vorfahren vierzig Zentimeter Schneide daraus gewinnen, viermal mehr. Vor 40.000 Jahren waren es zwei Meter, und etwa zehntausend Jahre später mehr als sechs Meter!

Diese steigende Effizienz der Steinbearbeitung spiegelt viele Veränderungen wider. Erstens Veränderungen im Zusammenhang mit der biologischen Evolution, denn vom Homo habilis zum Homo erectus und dann zum Homo sapiens hat sich die Größe des Gehirns unserer Vorfahren deutlich erhöht, ja mehr als verdoppelt. In diesen 2,5 Millionen Jahren verbreitete sich die Menschheit über alle Kontinente und passte sich den unterschiedlichsten Umgebungen an. Lange Zeit auf dem afrikanischen Kontinent auf kleine Gruppen reduziert, die vom Sammeln und von Aas lebten, hat es die Menschheit geschafft, sich durch einen größeren Variantenreichtum ihrer Werkzeuge und Handlungen an kältere Breitengrade zu gewöhnen. Die wichtigsten Etappen dabei waren die Kontrolle des Feuers, welche seit 500.000 Jahren belegt ist und die Praxis der Jagd, die durch 400.000 Jahre alte Jagdwaffen offenbart wird.

In den letzten zehntausenden von Jahren haben sich die Werkzeuge allmählich entwickelt und spezialisiert: Nadeln mit Nadelöhr, Nadeln aus Knochen- oder Rentierholz zur Herstellung von Kleidung, Kanus und Harpunen, Speerschleudern.

Noch spektakulärer war die Anpassungsphase an den Klimawandel 13.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung. In weniger als 5.000 Jahren, von 7.000 v.u.Z. bis 2.000 v.u.Z., wurden Pfeilbögen, Fischernetze, Jagdfallen, Navigation und in einigen Gegenden die Herstellung von Keramik zum Kochen und Konservieren von Lebensmitteln entwickelt. Zu dieser Zeit wurde auch der schon seit langer Zeit gezähmte Hund für die Jagd verwendet. Schließlich kamen zwei der außergewöhnlichsten Entdeckungen der Menschheitsgeschichte: Ackerbau und Viehzucht. Man sieht also, dass die ersten von der Menschheit entwickelten Techniken zwar sehr langsam vorangeschritten sind, das Tempo dieser Fortschritte aber nicht aufhörte sich zu beschleunigen. Jede Entdeckung hat den Menschen neue Möglichkeiten eröffnet, die Beherrschung ihrer Umwelt zu verbessern, jede hat das, was man die ursprünglichen Produktivkräfte der Menschheit nennen könnte, vorangebracht.

Parallel zur technologischen Entwicklung zeugen weitere Spuren dieser Gesellschaften von Fortschritten des Bewusstseins, das diese Frauen und Männer von sich selbst und der Welt um sie herumhatten.

Seit mehr als 100.000 Jahren betrauern Menschen ihre Toten durch Rituale, wie die Entdeckung ihrer ersten Gräber beweist. Und es ist mindestens 30.000 Jahre her, dass ihr künstlerischer Sinn durch Fresken und Wandmalereien zum Ausdruck kam, die uns einen Eindruck vom Reichtum ihres geistigen Lebens vermitteln. Jüngste Forschungen haben auch die Vorstellung in Frage gestellt, dass diese Bilder ausschließlich von Männern geschaffen wurden. Bei der Untersuchung der Handabdrücke in mehreren Dutzend Höhlen in Südwesteuropa fand ein Forscherteam mit Hilfe der Form dieser Handabrücke, die es erlaubt, Alter und Geschlecht des Malers zu bestimmen, heraus, dass Dreiviertel dieser Abdrücke weiblich waren. Man findet aus dieser Zeit und von verschiedenen Orten, auch in großer Zahl, kleine Statuetten, von denen viele weibliche Figuren aus Terrakotta oder Stein sind, die die Prähistoriker Venus nennen.

Es ist unmöglich heute genau sagen, wie die ersten Hominiden und dann die ersten Menschen lebten; wie diese kleinen verstreuten Gruppen während der sehr langen Zeit, die wir gerade erwähnt haben, und die wir das Paläolithikum nennen, organisiert waren. Aber unter den Prähistorikern herrscht fast Einigkeit darüber, dass ihre Lebensweise der von Jägern und Sammlern in Gesellschaften, die wir heute kennen, ähnelt, eben gerade weil ihre Lebensweise der ihren so ähnelt. Es müssen sehr gleichberechtigte Gesellschaften gewesen sein, mit keiner tiefgreifenden Unterscheidung zwischen ihren Mitgliedern, außer zwischen Männern und Frauen, wegen der Mutterschaft oder zwischen Jung und Alt, aus offensichtlichen Gründen.

Mehrere Prähistoriker haben diese Phase der Menschheitsgeschichte als "primitiven Kommunismus" bezeichnet. Dabei geht es nicht darum, in diesen Jäger- und Sammler-Gesellschaften ein verlorenes Paradies zu sehen oder das was wir wissen und uns an Beziehungen zwischen ihren Mitgliedern vorstellen können zu idealisieren. In diesen Gesellschaften relativer Knappheit war das Leben oft sehr schwierig. Der Begriff "primitiver Kommunismus" veranschaulicht lediglich die Vorstellung, dass in einem sehr primitiven Entwicklungsstadium die Produktivkräfte und die menschlichen Gesellschaften sich gar nicht anders als in einer sehr gleichberechtigten Weise organisieren konnten und zwar vor allem deswegen, weil das Überleben des Einzelnen direkt vom Überleben der Gruppe abhängig war.

In der Folge sah die Menschheit auf einander folgend andere soziale Organisationsformen, die alle von einer Differenzierung und sozialen Ungleichheiten gekennzeichnet waren. Man kann die Verschiedenheit und vor allem die Entwicklung der Gesellschaften nur verstehen, indem man zuerst vom Grad der Entwicklung der Produktivkräfte all dieser sozialen Organisationen ausgeht.

Die neolithische Revolution und das Erscheinen der sozialen Klassen

Zwischen 10.000 und 7.000 v.u.Z. findet man im Nahen Osten, in der Region des Fruchtbaren Halbmonds, die ersten Bevölkerungsgruppen, die Landwirtschaft und Viehzucht beherrschen. Die Definition dieses geographischen Gebietes, in dem einer der größten Umwälzungen in der Geschichte der Menschheit stattgefunden hat, hat sich durch archäologische Entdeckungen entwickelt. Heute gehen Archäologen davon aus, dass sich dieses Gebiet vom Jordantal in Palästina bis zum Südosten der heutigen Türkei und nördlich der Tigris- und Euphrat-Ebene bis zum Fuß des iranischen Zagros-Gebirges erstreckt.

Anschließend und unabhängig davon traten Landwirtschaft und Viehzucht in anderen Regionen auf: in Südostasien zwischen 8.000 und 5.000 v.u.Z.; im heutigen Nordostchina zwischen 8.000 und 6.500 v.u.Z.; in Südamerika zwischen -7.000 und -3.000; im heutigen Mexiko zwischen 7.000 und 4.500 v.u.Z.; auch Afrika südlich der Sahara erlebte ein eigenes Zentrum der Verbreitung dieser neuen Wirtschaft zwischen 3.000 und 1.000 v.u.Z.. Von diesen verschiedenen Ansiedlungen aus verbreitete sich die Landwirtschaft in wenigen Jahrtausenden fast überall auf der Welt. In Europa, das bereits von Jägern und Sammlern früherer Migrationen aus Afrika bevölkert war, kam die Landwirtschaft mit Menschen aus dem Nahen Osten. Sie erreichte das westliche Ende Europas, etwa 5.400 v.u.Z. den Bereich des heutigen Portugals, etwa 4.800 v.u.Z. die heutige Bretagne und etwa um 4.000 v.u.Z. das heutige England.

Man weiß, dass einige Gemeinschaften vor der Entstehung von Landwirtschaft und Viehzucht mit der nomadischen Lebensweise gebrochen hatten. So die Jomonen an der Westküste Japans, die bereits seit 7.000 v.u.Z. sesshaft geworden sein sollen. Diese Menschen lebten dann von den Ressourcen des Waldes und der Fischerei, die ihnen einen gewissen Reichtum brachten. Sie entdeckten auch die Keramik, die im Nahen Osten erst nach der Erfindung der Landwirtschaft auftauchte. Es ist auch wahrscheinlich, dass der Übergang zur Landwirtschaft darauf zurückzuführen ist, dass sich einige nomadische Jäger- und Sammlergemeinschaften, die Natufien im Nahen Osten, daran gewöhnt hatten, sich in der Nähe von Orten niederzulassen, die reich an Naturprodukten waren, und an denen auch Wildherden regelmäßig vorbeizogen.

Durch Auswahl der von ihnen gesammelten Pflanzen, die ihnen am einfachsten die meiste Nahrung brachten, werden sie eine unbewusste Auswahl getroffen haben: im Nahen Osten Getreide (Weizen, Gerste und Roggen), aber auch Linsen, Kichererbsen und Flachs. Das gleiche Phänomen der Zähmung und Selektion fand sicherlich auch bei den gefügigsten Wildtieren statt. So wurden die ersten künstlichen Selektionen der Arten vom Menschen vorgenommen. Diese Jäger und Sammler agierten unbewusst als die ersten Bauern und Züchter.

Wenn für gewisse Volksstämme die Sesshaftigkeit der Landwirtschaft vorausging und letztere sogar auslöste, so war es andererseits die bewusste Übernahme von Landwirtschaft und Viehzucht, dann die Ausbreitung dieser Art des Lebensunterhalts, die zur Sesshaftigkeit fast der gesamten Menschheit geführt hat.

Zur gleichen Zeit wurde eine neue Technologie der Steinbearbeitung, das Polieren, entwickelt, die dieser neuen Etappe in der Geschichte der Menschheit ihren Namen gibt: das Neolithikum oder die Jungsteinzeit oder Poliersteinzeit. Durch die Vermeidung von brüchigen Stellen wurde die Schlagfestigkeit einer Steinaxt deutlich erhöht. Dies erlaubte die Entwicklung einer Reihe von Werkzeugen zur Holzbearbeitung. Ausgestattet mit polierten Steinäxten konnten die ersten landwirtschaftlichen Gesellschaften durch Rodung von Wäldern neues Land für Ackerbau und Viehzucht erobern.

Die erste Bewirtschaftung von Waldgebieten ist auf die Technik der Brandrodung zurückzuführen. Sie bestand darin, eine Lichtung im Wald zu schaffen, indem man die schwächsten Bäume fällte, und nicht einmal die Baumstümpfe entfernten. Vertrocknete Blätter, Äste und abgestorbenen Stämme wurden vor Ort verbrannt, sodass die in der Asche enthaltenen Nährstoffe den Boden befruchteten.

Nach zwei bis drei Jahren Bewirtschaftung wurde das Land dem Nachwachsen des Waldes überlassen, der in wenigen Jahrzehnten seine natürliche Fruchtbarkeit wiederherstellte. Diese Brachland-Waldwirtschaft ist wohl so erfolgreich gewesen, dass sie in der Jungsteinzeit einen großen Bevölkerungsaufschwung ausgelöst hat, der bis an die Grenzen dieses Systems stieß. In der Tat wird angenommen, dass die Rodungen dieser Zeit eine Rolle bei der Entwaldung des Mittelmeerrandes und bei der Wüstenbildung bestimmter warmer subtropischer Regionen mit geringer Bewässerung im Nahen Osten gespielt haben.

Diese Errungenschaften dienten dann je nach Region als Grundlage für die Entwicklung effektiverer Anbaumethoden, wie Bewässerungs-landwirtschaft, Reisanbau oder die Verbesserung von Brachlandsystemen.

Diese Fähigkeit, Misserfolge zu überwinden, die Grenzen zu verschieben, diese Flexibilität, diese Kreativität, die die Menschheit zu Beginn der Zivilisation gezeigt hat, waren auch die Folge der Zunahme der Zahl der Menschen. Die regelmäßigere und bessere Ernährung sowie der sesshafte Lebensstil haben zu einer deutlichen Steigerung der Fruchtbarkeit der Frauen geführt. Es wird geschätzt, dass die Weltbevölkerung, die früher aus einigen Millionen Menschen bestand, im Neolithikum auf fast 50 Millionen anstieg.

Dies bedeutete einen enormen Anstieg der Produktivkräfte. Die sozialen Veränderungen waren so groß, dass der australische Archäologe Vere Gordon Childe den Ausdruck "Neolithische Revolution" benutzte, um diesen Umbruch zu charakterisieren.

Nicht mehr ständig oder jahreszeitlich bedingt mit seinem Lager umziehen zu müssen, hat die Existenz der Menschen radikal verändert. In der Lage zu sein, sich dauerhaft niederzulassen, erlaubte es, Lebensmittel zu lagern, um für schlechte Zeiten, schlechte Ernten vorsorgen zu können. Dies ermöglichte auch die Anhäufung von Werkzeugen, so dass vielfältigere, besser angepasste und effektivere Arbeitsinstrumente zur Verfügung standen. Einige nomadische Jäger- und Sammler-Stämme hatten nur ein einfaches Mehrzweckwerkzeug: Die Ureinwohner des Wüstenzentrums von Australien zum Beispiel haben eine Speerschleuder, mit dem sie ihr Geschoss abfeuern, dessen Form aber so ist, dass sie auch als Behälter und kleines Werkzeug zur Holzbearbeitung dient. Mit der Sesshaftigkeit entwickelte sich der Variantenreichtum der Werkzeuge massiv.

Die Geschichte der vielfältigen Ausgangspunkte von Ackerbau und Viehzucht in verschiedenen Regionen der Welt zeigt, dass die Entdeckungen nicht immer überall in der gleichen Reihenfolge aufeinander folgten. Die Jungsteinzeitliche Revolution war ein Komplex von Erfindungen und Veränderungen, die aufeinander aufbauten, wie z.B. polierte Steinwerkzeuge, Keramik, Sesshaftigkeit, Vorratslagerung, die zur Praxis der Landwirtschaft und Viehzucht führten oder ihnen folgten. Diese grundlegende qualitative Veränderung war eine radikale Änderung der Produktionsmethoden.

Die neolithische Revolution, das Ergebnis der technischen Entwicklung der Menschheit, hat die Menschheit selbst tiefgreifend verändert, nicht nur biologisch, sondern auch sozial.

Die Steigerung der menschlichen Arbeitsproduktivität führte zu einem Bevölkerungswachstum und brachte zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit in großem Maß und dauerhaft ans Licht, was Marx als soziales Mehrprodukt bezeichnete. Die Arbeit ermöglichte es nun, nicht nur den Lebensunterhalt aller Mitglieder der Gesellschaft zu sichern, sondern auch im allgemeinen Sinne des Wortes: Nahrung anzuhäufen, aber auch auf subtilere Weise sozialen Reichtum anzuhäufen. So erhielten bestimmte Mitglieder der Gesellschaft die Möglichkeit, sich ganz oder teilweise anderen Aktivitäten als den für die Nahrungsmittelproduktion notwendigen zu widmen.

Das Erscheinen der ersten spezialisierten Handwerker sowie der ersten intellektuellen Arbeiter zeugt von der Etablierung einer dauerhaften und institutionalisierten Arbeitsteilung.

Diese grundlegende Veränderung hat alle menschlichen Gesellschaften endgültig geprägt. Die Arbeitsteilung war die Grundlage des Fortschritts, weil sie die Spezialisierung, die Förderung von Wissen und Know-how und deren Weitergabe ermöglichte. Ein beträchtlicher Teil der gewaltigen Zunahme der Produktivkräfte war letztendlich in dieser Arbeitsteilung und dem damit verbundenen Mentalitätswandel enthalten, d.h. im Know-how jedes Einzelnen, organisiert auf der Ebene der gesamten Gesellschaft. Diese Arbeitsteilung führte zur ersten Verstädterung, der ersten großen Trennung zwischen Stadt und Land. Die Zivilisation sollte aus der so genannten "urbanen Revolution" hervorgehen.

In diesem Rahmen und auf dieser Grundlage setzte sich das Privateigentum an Produktionsmitteln durch, beginnend mit dem des Landes; die sozialen Ungleichheiten schlugen Wurzeln; die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen wurde etabliert, und die Gesellschaft in soziale Klassen geteilt.

Denn die Produktivkräfte mussten einen Entwicklungsstand erreicht haben, der das Entstehen eines wirtschaftlichen Mehrprodukts ermöglicht, das ausreichend regelmäßig und sicher war, um eine weitgehende Teilung der Arbeits- und Gesellschaftsschichten in Ausbeuter und Ausgebeutete zu erreichen.

Das Privateigentum an den Produktions- und Ausbeutungsmitteln brachte die Menschheit in die Ära der Klassengesellschaften mit all den Mitteln der Gewalt und institutionalisierter Unterdrückung. Aber angesichts des Entwicklungsgrades der Produktivkräfte war dieses "Böse", wenn man es so sagen kann, für den weiteren Fortschritt der menschlichen Gesellschaften unerlässlich.

Dies kann man zum Beispiel an der Geschichte des alten Ägypten sehen. Vor 6.000 Jahren haben die Menschen am Ufer des Nils, ihre Landwirtschaft an die Überschwemmungen des Flusses und seine fruchtbaren Schlammablagerungen angepasst. Archäologen haben Spuren der ersten Dörfer dieser Bevölkerungsgruppen entdeckt. Zunächst wurde die Landwirtschaft nur am Rande von Überschwemmungsgebieten betrieben, die unmittelbar nach Rückgang des Wassers kultiviert wurden. In einem zweiten Schritt wurden durch das Anlegen einfacher Deiche Hochwasserrückhaltebecken errichtet. Dadurch konnte Wasser zurückgehalten werden, um die Anbauflächen zu bewässern und anzuschwemmen. In einem dritten Schritt wurden von den Ufern des Flusses aus schrittweise, miteinander verbundene Rückhaltebecken gebaut, die sich immer weiter in Richtung Wüste entfernten. Dann wurden angeschlossene Rückhaltebecken gebaut, nicht weit weg in der Wüste, sondern entlang des Flusses und parallel dazu, um eine gleichmäßige Befüllung dieses Wasserreservoirs zu gewährleisten. Schließlich wurden entlang des Nils große Schutzdämme gebaut und große Kanäle verbanden die aufeinander folgenden Rückhaltebecken vom oberen Niltal bis zum Fluss-Delta. Die Etappen dieser hydraulischen Architektur, die sich über fast tausend Jahre erstrecken, verteilten Wasser und Schlamm im ganzen Tal. Der fortschreitenden technischen Organisation dieser Landwirtschaft entsprach eine soziale und sogar politische Geschichte der ägyptischen Königreiche. Der Anthropologe und Agrarhistoriker Marcel Mazoyer schrieb zu diesem Thema: "(...) die großen Etappen der Entwicklung dieser hydraulischen Anlagen und des koordinierten Hochwassermanagements in immer größeren Teilen des Tals fielen mit den Etappen der Entwicklung immer mächtigerer Formen der sozialen und politischen Organisation zusammen, die in der Lage waren, ihre Wasserkraft auf die entsprechenden Gebiete auszudehnen: Hintereinander-liegende Dörfer entlang des Tals und am Rande des Deltas zu Beginn des 6. Jahrtausends v.u.Z.; gegen Mitte dieses Jahrtausends dominierten rudimentäre Stadtstaaten einen kleinen Teil des Tals, dann beherrschten mächtigere Stadtstaaten eine ganze Schwemmebene zwischen zwei engen Pässen des Tals; große Königreiche, die mehrere Städte vereinten und mehrere Schwemmebenen beherrschten, dann zwei Königreiche (das von Oberägypten, das dem Tal selbst entspricht, und das von Unterägypten, das dem Delta entspricht) in der zweiten Hälfte desselben 6. Jahrtausends. Schließlich erfolgte, vor etwas mehr als 5.000 Jahren, die Bildung des Pharaonenstaates, der die beiden Königreiche vereinte. Danach herrschten während 3.000 Jahren etwa 200 Pharaonen aus dreißig Dynastien mehr oder weniger vollständig über diese beiden Königreiche, wobei die Zeiten des Wohlstands (Altes Reich, Mittleres Reich und Neues Reich) mit einer starken Machtkonzentration und die Zeiten des Niedergangs (Zwischenzeiten und Niedere Epoche) fielen mit der Schwächung und dem Auseinanderbrechen der Zentralmacht zusammen."

So bearbeitete in Ägypten vor 6.000 Jahren die Bauernschaft bei Überschwemmungen und dem Rückgang des Wassers entlang des Nils und kultivierte kleine Ackerflächen, die ihnen vom Pharao, dem Besitzer des Landes, zur Verfügung gestellt wurden. Im Gegenzug mussten sie schwere Frondienste ausführen, um die hydraulischen Einrichtungen zu erhalten und die Tempel, Gräber und Pyramiden zu bauen. Naturalabgaben wurden erhoben, um die Bedürfnisse des Pharaos, seines Gefolges, des Klerus und der zivilen und militärischen Verwaltung zu befriedigen, sowie um Arbeiter und staatliche Handwerker zu ernähren oder um Sicherheitsvorräte zur Bewältigung der Unregelmäßigkeiten der Überschwemmungen zu bilden.

Der Fall des alten Ägypten brachte eine neue Institution in der Geschichte der Menschheit hervor: den Staat. Es handelt sich dabei um eine Institution, die sich über die Gesellschaft erhebt, um ihre Widersprüche zu beherrschen. Diese Widersprüche entstehen aus der Entwicklung sozialer Klassen mit gegensätzlichen Interessen. In Ägypten wurde mit der Entwicklung einer immer anspruchsvolleren Landwirtschaft, die ein immer umfassenderes Hochwassermanagement erforderte, eine immer umfassendere soziale Organisation notwendig. Die Vereinigung der Dörfer, dann der Stadtstaaten, unter der Kontrolle einer Zentralmacht war eine Notwendigkeit, die durch das Management der Überschwemmungen des Nils notwendig wurde, um das Wasser entlang der tausend Kilometer, die der Fluss von Assuan bis zum Mittelmeer fließt, aufzuteilen. Und das südliche Königreich, das die Bewässerung des nördlichen Königreichs kontrollieren konnte, weil es flussaufwärts gelegen war, erzwang etwa 3.200 v.u.Z. seine Herrschaft und die Vereinigung des Landes.

Ein weiterer, allgemeinerer Grund war, dass die Konstituierung großer Reiche wie Ägypten dem Niveau der Produktivkräfte der Zeit entsprach, als die Produktivität der menschlichen Arbeit, d.h. vor allem der landwirtschaftlichen Produktivität, sehr niedrig blieb, da die Werkzeuge der ägyptischen Bauern sehr lange Zeit aus Stein oder Holz waren. Die Großproduktion ermöglichte es, trotz der geringen Stückzahlen genügend Überschüsse zu erwirtschaften, um eine kleine Schicht von Ausbeutern, Handwerkern und Arbeitern zu erhalten, die von einer für die damalige Zeit großen Bevölkerung und einer hoch entwickelten Organisation benötigt wurden.

Im alten Ägypten spielte diese kleine Minderheit, die von der Arbeit der großen Mehrheit lebte, eine wesentliche Rolle, insbesondere die Kaste derjenigen, die die Bewässerung aus der Kenntnis des Nilwasserregimes bewältigen mussten. Durch sorgfältige und minutiöse Beobachtung der Sterne stellten sie zu Beginn des 3. Jahrtausends v.u.Z. fest, dass die gleichen Konstellationen, die sich jede Nacht zu bewegen scheinen, alle 365 Tage an genau den gleichen Ort am Himmel zurückkehren. So erfanden sie den ersten exakten Kalender, der nicht mehr auf den Mondmonaten basierte. Der Mondkalender war im Verhältnis zu den Jahreszeiten ständig zeitversetz. Ihr Kalender aber bezog sich auf die Sterne und damit indirekt auf die Sonne, so dass echte Vorhersagen über Naturphänomene wie den Beginn der Nilfluten möglich wurden.

Es waren auch diese priesterlichen Verwalter Ägyptens, wie kurz vor ihnen ihre sumerischen Amtskollegen aus Mesopotamien, die aus den gleichen Gründen zur Verwaltung des Staates und der Wirtschaft im 3. Jahrtausend v.u.Z. die Schrift erfanden: die Keilschriftzeichen in Sumer, die Hieroglyphen in Ägypten.

Die Ideologien und der Sozialismus

Klassengesellschaften, deren große Vorläufer das alte Ägypten und Sumer waren, entwickelten sich im Rhythmus des Fortschritts der Produktivkräfte und der Konflikte zwischen den sozialen Klassen, zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten. Wie Marx und Engels gleich zu Beginn des Kommunistischen Manifests zusammenfassen: "Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen."

So drückte Marx die Verbindung zwischen den Produktivkräften einer bestimmten Gesellschaft und dem, was er den ideologischen Überbau nannte, aus: "In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt." (Kritik der politischen Ökonomie.)

Religionen, Vorstellungen von Nation, Demokratie, Republik und sogar die Idee des Sozialismus, alle Ideologien sind Ausdruck einer sozialen Realität. "Ideen fallen nicht vom Himmel, und nichts kommt im Traum zu uns", sagte einer der ersten italienischen Marxisten am Ende des 19. Jahrhunderts, Antonio Labriola. Und wenn diese Ideen ein Publikum von Tausenden, Millionen Menschen haben und aufgenommen werden, dann deshalb, weil sie auf eine gesellschaftliche Notwendigkeit antworten.

Ideologien sind Produkte der in Klassen gespaltenen Gesellschaften. Indem sie die Massen zusammenschließen und auf koordinierte Weise Massen von Individuen in Bewegung setzen, wirken sie im Gegenzug auf diese soziale Realität zurück.

Einige Ideen sind revolutionär und fortschrittlich, weil sie die Elemente der Zukunft der Gesellschaft in sich tragen, ihre weitere Entwicklung ankündigen und vorbereiten. Andere, reaktionäre Ideologien, drücken im Gegenteil das Gewicht der Vergangenheit aus und verlangsamen die historische Entwicklung, versuchen sogar, sie zurückzudrehen. Sehr oft werden erstere von den sozialen Schichten getragen, die die Macht beanspruchen, und letztere von denen, die sie bereits besitzen und zu erhalten suchen. Aber die soziale Realität hört nicht auf, sich zu verändern, und dieselbe Idee, die in ihren Anfängen revolutionär war, kann mit der Entwicklung des Klassenkampfes reaktionär werden.

Die modernen republikanischen Ideen wurden von der Bourgeoisie getragen, als sie darum kämpfte, sich von der Macht des Adels zu befreien. Zunächst gab es die bürgerlichen Stadtrepubliken des Mittelalters, in denen die reichen Patrizierfamilien herrschten und die kleinen Leute nichts zu sagen hatten. Die Bourgeoisie war da zu Hause, wo sie es in den mittelalterlichen Städten geschafft hatte, der Macht des lokalen Herrschers zu entkommen. Sie war die herrschende Klasse und die Republik mit Zensuswahlrecht bot einen institutionellen Rahmen, der zu ihrer kollektiven Herrschaft passte. In den folgenden Schlachten, diesmal nicht in der Größenordnung einer Stadt, sondern eines Königreichs, brauchte die Bourgeoisie Jahrhunderte, um sich stark genug zu fühlen, um die Macht zu beanspruchen. Und erst recht eine Macht, die sie nicht teilen musste. Im Kampf um die Unabhängigkeit der vereinigten Provinzen, der Vorfahren der Niederlande, am Ende des 16. Jahrhunderts, musste die Bourgeoisie einen Adligen an die Spitze ihrer Revolte und dann ihres Staates stellen. Ein halbes Jahrhundert später, in England, nach der von Cromwell geführten Republik von kurzer Dauer, zog es die noch zu schwache Bourgeoisie vor, unter dem Deckmantel der Monarchie die Macht mit der Aristokratie zu teilen.

Erst mit der Französischen Revolution von 1789 führte die Bourgeoisie unter dem Druck der Ereignisse und insbesondere des überbordenden einfachen Volkes den Kampf bis zum Ende und gründete die Republik. Aber auch in Frankreich hat diese Republik fast ein Jahrhundert gebraucht, um sich durchzusetzen. Denn die Bourgeoisie fürchtete sich, nachdem sie die Zügel der Macht übernommen hatte, vor den Mobilisierungen des Volkes. Sie fürchtete sich vor der Gefahr, dass diese im Rahmen einer Republik leichter zum Ausdruck gebracht werden könnten. Während des gesamten 19. Jahrhunderts trug die Mehrheit der Bourgeoisie ihre Königstreue zur Schau und die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Bourgeoisien äußerten sich durch die verschiedenen royalistischen Tendenzen.

Auch die Idee der Nation wurde von der Bourgeoisie getragen. Angesichts zerstückelter Feudalstaaten, mit zahlreichen Zollschranken, die es einem parasitären Adel erlaubten, sein Einkommen zu sichern, schwenkte die Bourgeoisie die Fahne der nationalen Einheit. Dieser Nationalismus des 18. und 19. Jahrhunderts war fortschrittlich: wirtschaftlich, weil er die Unterdrückung regionaler Kleinstaaten und die Schaffung eines viel größeren und einheitlichen nationalen Marktes bedeutete, aber auch politisch, weil er die Fahne des Kampfes gegen das alte Regime war. Aber sobald die politische Macht der Bourgeoisie gesichert war, wurde der Nationalismus zur Flagge der bürgerlichen Herrschaft und Unterdrückung der Völker unter der vorherrschenden bürgerlichen Nation. Mit dem Wettlauf um kolonialen Besitz im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert wurde der Nationalismus zur Flagge der Rivalitäten zwischen den großen imperialistischen Mächten um die Aufteilung der Welt. Nationalismus war schon immer eine Ideologie der Bourgeoisie und er hat sich mit ihr entwickelt: zunächst fortschrittlich, als die Bourgeoisie die alte Feudalordnung hinwegfegte, wurde sie dann zutiefst reaktionär, als sie damit ihre Macht über die Welt zum Ausdruck brachte und die Proletarier untereinander spaltete.

Zu sagen, dass dies Ideologien der Bourgeoisie sind, bedeutet nicht, dass alle Bürgerlichen aller Zeiten sie verteidigt haben, noch dass nur die Bourgeoisie sie wieder aufnehmen kann. Es bedeutet, dass sie den allgemeinen Interessen der bürgerlichen Klasse entsprechen. Ideen stützen sich notwendigerweise auf Gruppen von Individuen, auf Klassen, die gemeinsame Interessen haben, weil "Ideen nicht vom Himmel fallen".

Diese Ideologien im Interesse einer herrschenden Klasse werden mit vielen Mitteln weitergegeben und überschwemmen das Bewusstsein auch eines großen Teils der Ausgebeuteten. Wir sehen es jeden Tag in der kapitalistischen Gesellschaft. Aber das galt auch für die Bourgeoisie, bevor sie an die Macht kam. Auch sie wurde von den Ideen der damals herrschenden Klasse, dem Adel, beherrscht: Das Stück von Molière "Der Bürger als Edelmann", das den bürgerlichen Traum adlig zu werden beschreibt, zeugt davon!

Das Proletariat, aus der industriellen Revolution geboren, war praktisch von Anfang an eine kämpferische Klasse. Obwohl seine Kämpfe zunächst nicht darauf abzielten, die Führung der Gesellschaft zu übernehmen, versuchte sie zumindest, ihre unmittelbaren Interessen als eigene Klasse zu verteidigen. Die ersten Kämpfe des Proletariats in England in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts können einen heute wirklich beeindrucken, wenn man auf der Seite der Arbeiter steht. Im Laufe ihrer Kämpfe war die Arbeiterklasse zunehmend in der Lage, ihre eigenen Interessen und Ideen hervorzubringen.

Die Arbeiterklasse hat sehr früh dem Nationalismus der Bourgeoisie den Internationalismus entgegengestellt. Denn der Kapitalismus, der Millionen von Arbeitern auf der ganzen Welt in Armut treibt, hat Arbeiter von überall her auf die Straße und in die Unternehmen gebracht. Die Arbeiterklasse ist keine nationale Klasse. Sie besteht seit jeher aus den ausgebeuteten Menschen aller Länder, vor allem aus den ärmsten Regionen und Ländern, die von dort in die reichsten Zentren kamen. Doch das Rad der Geschichte dreht sich weiter: Aus Auswanderungsländern sind manchmal Einwanderungsländer geworden und umgekehrt.

Gegen den Republikanismus hat das Proletariat den Sozialismus gestellt, d.h. nicht eine Form der politischen Organisation der nationalen Macht, sondern eine Form der Organisation der Gesellschaft und der Produktion im Weltmaßstab. Auf das bürgerliche Motto "Menschen werden frei und gleichberechtigt geboren" reagierte die Arbeiterbewegung mit dem Kampf für soziale Gleichheit, dem Ende der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und damit dem Sturz der Bourgeoisie, ihrer Enteignung und der Kollektivierung der Produktionsmittel.

Aber die Arbeiterbewegung brachte nicht nur instinktiv Ideen zum Ausdruck, die ihren unmittelbaren, ja sogar allgemeinen Interessen entsprachen. In der Geschichte kämpften frühere Klassen ohne Bewusstsein oder nur mit einem geringen Bewusstsein für die allgemeine historische Entwicklung, in die ihr Kampf passte. Die von Marx und Engels ausgearbeitete materialistische Geschichtsauffassung, die am Vorabend der revolutionären Welle, die 1848 Europa erschütterte, brachte dem Proletariat ein Bewusstsein für den gesamten historischen Prozess, in dem sich sein Kampf abspielte. Die industrielle Arbeiterklasse entstand und führte ihre ersten Kämpfe, und die Ideen des wissenschaftlichen Sozialismus wurden von vielen Arbeiteraktivisten "als erwarteter Gast" begrüßt, um Marx' Ausdruck zu verwenden. Indem die Arbeiterbewegung den Marxismus verinnerlichte, hat sie sich mit einem bewussten politischen Ausdruck des historischen Prozesses ausgerüstet und hatte damit eine unverzichtbare Waffe in ihrem Kampf für die Errichtung einer neuen Gesellschaftsordnung.

Dieses Bewusstsein machte die marxistische Arbeiterbewegung fähig, auch für bürgerliche Forderungen wie die Republik, die nationale Einheit und die Unabhängigkeit zu kämpfen, als diese noch einen fortschrittlichen Charakter hatten, aber gleichzeitig die politische Unabhängigkeit der Arbeiterklasse zu bewahren. Denn so war es klar, dass es sich um ein befristetes Bündnis für ein bestimmtes Ziel mit einem grundlegenden Klassenfeind handelte.

So nahm die Bolschewistische Partei in Russland neben anderen Kräften, einschließlich der Bourgeoisie, eine große Rolle im Kampf gegen den Zarismus ein. Sie hat das getan, ohne die Position und die Interessen der Arbeiterklasse zu beeinträchtigen und bewahrte die politische Unabhängigkeit der Arbeiterklasse. Und 1917, nach dem Niederwerfen des alten Regimes, dauerte es einen acht Monate langen Klassenkampf von außergewöhnlicher politischer Intensität, bis das Proletariat die Macht eroberte und sie der Bourgeoisie entriss, aber nur acht Monate und nicht eine ganze historische Periode.

***

Heute sind wir weit entfernt von einer revolutionären Situation wie der Russlands 1917. Wir erleben seit mehreren Jahrzehnten eine Situation, in der die Arbeiterbewegung sich weltweit deutlich auf dem Rückzug befindet. Und wie immer, wenn die Arbeiterklasse nicht als eigenständige politische Kraft an den stattfindenden Kämpfen teilgenommen hat, bedeutet das Hissen der Fahne des Kommunismus immer, diese Ideen gegen den Strom der Mehrheit zu verteidigen.

Doch wenn der Kapitalismus zu der Zeit von Marx durch die Entwicklung kollektiver Arbeits- und Produktivkräfte die wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine überlegene soziale Organisation geschaffen hatte, sind heute die objektiven Bedingungen für eine sozialisierte Organisation der Produktion im Weltmaßstab mehr als reif. Um ein Objekt herzustellen, müssen Arbeiter in jedem Winkel der Welt tätig sein. Mit den heutigen technischen Mitteln werden die spektakulärsten Konstruktionen mit fantastischer Geschwindigkeit entwickelt. Wissenschaftliche Entdeckungen und technologische Fähigkeiten sind atemberaubend, vom Kunstherz bis zur Rosetta-Weltraumsonde. Angesichts dessen, was der wissenschaftliche Fortschritt allen Bewohnern des Planeten bringen könnte, ist die Barbarei der gegenwärtigen sozialen Organisation umso empörender und menschenunwürdiger.

Um die Produktivkräfte zu befreien und ihr Potenzial in den Dienst des Allgemeininteresses zu stellen, wird es notwendig sein, die Bourgeoisie zu enteignen. Die einzige soziale Klasse, die dazu in der Lage ist, ist die Arbeiterklasse. Sie konzentriert sich auf Unternehmen und Großstädte, in denen sich die Machtzentren befinden. Und im Gegensatz zu Marx' Zeit ist sie nicht nur in einigen wenigen Ländern präsent, sondern überall auf der Welt. Wie Marx sagte, "die Arbeiterklasse hat nichts zu verlieren außer ihren Ketten." Und sie kann und muss den Rest der Unterdrückten in ihrem Kampf zum Sturz der Bourgeoisie mitreißen. Aber dieser Akt, bzw. das, was Millionen von Arbeitern und Ausgebeuteten auf der ganzen Welt erreichen werden, kann nur das Ergebnis einer bewussten kollektiven Zusammenarbeit sein.

Deshalb ist es unerlässlich, die Ideen des wissenschaftlichen Sozialismus zu verteidigen und zu verbreiten. Damit sie von den bewussten Arbeitern verkörpert werden, die in revolutionären Parteien und einer Internationale vereinigt sind, die, um Trotzkis Formulierung zu verwenden, "den bewussten Ausdruck des unbewussten historischen Prozesses, das heißt des spontanen und instinktiven Bestrebens des Proletariats, die Gesellschaft auf kommunistischen Grundlagen wiederaufzubauen", darstellen werden.

Es ist nicht ungewöhnlich für uns zu hören, dass wir Utopisten sind. Aber die gesamte Geschichte der Menschheit, ihrer Entdeckungen und gesellschaftlichen Veränderungen sind von Umwälzungen und Revolutionen geprägt. Wann immer eine entscheidende Etappe nahte, lastete das Gewicht der Vergangenheit auf den Ideen und dem Willen der Lebenden. Glücklicherweise gab es immer wieder Menschen, die sich der Notwendigkeit bewusst waren, mit der Vergangenheit zu brechen und die Kühnheit besaßen, vorwärts zu gehen, was immer einen Sprung ins Unbekannte bedeutet. Diese "Utopisten" ließen ihre Ideen Wirklichkeit werden, weil ihre Erwartungen auf die in den Tiefen der Gesellschaft reifenden Veränderungen reagierten. Wenn das utopisch ist, dann ist es Kritik, die wir als Kompliment verstehen.

 

ANHANG:

Determinismus und Zufall in den Naturwissenschaften

Das Wort Zufall kann sehr unterschiedliche Dinge bedeuten. Geworfene Würfel fallen in eine bestimmte Position, und man kann sagen, dass dies dem Zufall geschuldet sei, denn die Würfel werden geworfen, ohne genau zu wissen, in welche Richtung, in welcher Höhe über dem Boden und mit welcher anfänglichen Drehbewegung das geschah. Die hinreichend genaue Kenntnis all dieser Informationen sowie der Härte des Bodens erlaubt es allerdings, unter Berücksichtigung der physikalischen Gesetze, das Ergebnis des Wurfes fehlerfrei zu bestimmen. Natürlich könnte ein Windstoß diese Vorhersage stören. Aber auch hier können wir, indem wir die Windgeschwindigkeit und -richtung genau messen, ihre Wirkung berücksichtigen und wieder genaue Vorhersagen treffen. Im einfachen Fall des Wurfes ist der Zufall also auf einen Mangel an Informationen zurückzuführen ... Sehr unterhaltsam, denn das Spiel würde aufhören, ein Würfelspiel zu sein, wenn man sich auf die erwähnten Berechnungen einlassen müsste

Anfang des 19. Jahrhunderts hatte der schottische Botaniker Brown unter dem Mikroskop die ungeordnete Bewegung von Pollenpartikeln auf der Oberfläche einer Flüssigkeit beobachtet. Fast hundert Jahre lang blieb diese Bewegung unverstanden. Wir wissen jetzt, dass diese scheinbar zufällige Bewegung - vom lateinischen Wort "alea" kommt, das "Würfelspiel" bedeutet - tatsächlich auf die ständigen Schocks von Wassermolekülen auf die Pollenpartikel zurückzuführen ist. Jeder Schock eines Wassermoleküls auf den Pollenpartikel verursacht eine kleine Verschiebung, die durch die einfachen Gesetze der Mechanik [1] vorhersagbar ist, aber die große Anzahl von Schocks in die verschiedensten Richtungen macht die Vorhersage der Bewegung unmöglich. Der Zufall ist hier auf das Wirken einer sehr großen Zahl aufeinander folgender Störungen zurückzuführen. Unabhängig betrachtet, haben sie jeweils eine vorhersehbare Wirkung, es ist ihre große Zahl, die dem ganzen Phänomen einen unvorhersehbaren Charakter verleiht.

Der Zufall beeinflusst auch die genetische Übertragung von den Eltern auf ihre Kinder. Die sexuelle Fortpflanzung ist dadurch gekennzeichnet, dass die Gene eines Individuums nicht einfach eine Kopie der Gene eines Elternteils sind, was Klonen wäre, sondern eine Mischung und Auswahl von Genen beider Elternteile. Diese Auswahl der Gene der Eltern erfolgt dem Zufall entsprechend. Auch hier steckt dahinter eine große Zahl chemischer Prozesse, die alle einzeln betrachtet absolut vorhersehbar sind, aber deren Endresultat unvorhersehbar ist. Dieser Zufall widerspricht nicht dem Gesetz der Evolution der Arten, er ist sogar eines ihrer Elemente. Tatsächlich findet die natürliche Selektion, d.h. die Wirkung der Umwelt, auf die Vielzahl von Individuen mit den unterschiedlichsten Charakteren statt, weil es diese mit der sexuellen Fortpflanzung verbundene Variabilität gibt und die Evolution wählt diejenigen aus, die am besten geeignet sind.

Ein weiteres Beispiel aus der Genetik kann verdeutlichen, dass Phänomene zwar zufällige Folgen haben können, dass dies aber nicht bedeutet, dass die Mechanismen, die sie erzeugen, zufällig, sondern eindeutig determiniert sind.

Es ist möglich, ein Individuum anhand seiner genetischen Sequenz zu identifizieren. Aber wenn wir die DNA-Moleküle seiner Zellen und insbesondere die seiner Nervenzellen im Detail untersuchen, stellen wir fest, dass diese nicht völlig identisch sind. Leichte Variationen bedeuten, dass beispielsweise jede Nervenzelle ihr eigenes DNA-Molekül hat.

Diese Variabilität erscheint uns zufällig, aber wir kennen den dafür verantwortlichen Mechanismus. Diese sogenannten "springenden Gene" sind DNA-Stücke, die während der Zellteilung in der Lage sind, sich innerhalb des DNA-Moleküls zu bewegen, und zu dieser leichten Veränderung in der DNA von einer Zelle zur anderen führen kann.

Wenn also die Folge eines Phänomens zufällig ist (z.B. dass das Genom eines bestimmten Neurons nicht genau vorhersagbar ist), ist der Mechanismus am Ursprung dieses Ergebnisses (die Verschiebung der "springenden Gene") identifiziert und gut bestimmt.

In einem Werk, in dem er auf den Materialismus zurückkam und die "allgemeinen Gesetze der Bewegung, sowohl der Außenwelt als auch des menschlichen Denkens" ansprach, schrieb Engels: "In der Natur, und bis heute auch in den meisten Bereichen der Menschheitsgeschichte, finden [die allgemeinen Gesetze der Bewegung] ihren Weg nur unbewusst, in Form einer äußeren Notwendigkeit, inmitten einer unendlichen Reihe von scheinbaren Zufällen."

Determinismus in der Wissenschaft bedeutet nicht, dass alles vorhersehbar ist, geschweige denn, dass "alles im Voraus geschrieben ist". Denn wissenschaftliche Vorhersagen werden auf der Grundlage von Gesetzen gemacht, die Modelle der Realität sind, die auf der Grundlage des Wissensstandes der Menschheit über diese gleiche Realität zu einem bestimmten Zeitpunkt ausgearbeitet wurden. Die Gesetze der Wissenschaft sind nicht absolut: Die Wissenschaft entwickelt sich und mit ihr ihre Vorhersagefähigkeit.

In den späten 1970er Jahren begann eine Debatte über die Interpretation der "Chaostheorie", die sich bis in die 1990er Jahre fortsetzte und ein breiteres Publikum erreichte. Diese Theorie, deren erste wissenschaftliche Elemente aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg stammen, modelliert die sogenannten chaotischen Phänomene. In der Physik hat dieser Begriff eine sehr genaue Definition: Er charakterisiert Systeme, die extrem empfindlich auf kleinste Störungen reagieren. Eine sehr kleine Störung kann zu großen Schwankungen führen. In diesen Bereich fallen die Wettervorhersagen. Das ist der berühmte "Schmetterlingseffekt" des amerikanischen Meteorologen Edward Lorenz. Er veranschaulichte seinen Standpunkt in Form einer Frage: "Kann das Flügelschlagen eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas verursachen?"

Im Laufe dieser Debatten stellten einige Autoren, darunter auch Wissenschaftler, den Determinismus in Frage. Ein berühmter amerikanischer Paläontologe, Stephen Jay Gould, erweiterte diese Sichtweise auf die Evolutionstheorie und versuchte, die Rolle des Darwinismus, dessen großer Verfechter er vorher war, zu verwässern, indem er argumentierte, dass während der Hunderte von Millionen Jahre Geschichte des Lebens auf der Erde, Katastrophen wie die Einschläge von Asteroiden auf der Erde die Evolution so gestört hätten, dass die Evolution nur ein sekundärer Aspekt wäre. Er kam zu dem Schluss, dass der Zufall Herr der Evolution sei.

Stephen Jay Goulds Argumentation sondert willkürlich Naturkatastrophen aus der Evolution aus. Aber ohne die Auswirkungen von Katastrophen zu ignorieren, warum nicht im Gegenteil versuchen, sie als Umweltzwänge zu berücksichtigen und zu verstehen, warum und wie einige Arten in der Lage waren, diesen Naturkatastrophen zu widerstehen und andere nicht? Sein Ansatz basiert auf einer philosophischen Wahl, die dem wissenschaftlichen Denken und der Beweisführung fremd ist.

Was die Chaostheorie selbst betrifft, so haben Mathematiker und Physiker, die sie durch genaue Untersuchung chaotischer Phänomene, die auch in vielen anderen Bereichen als der Meteorologie zu finden sind, sehr genau diese extreme Empfindlichkeit bestimmter Systeme gegenüber anfänglichen Störungen quantifiziert. Innerhalb ihrer Theorie haben sie den Determinismus nie in Frage gestellt. Er wird sogar formal in allen ihren Modellen berücksichtigt. Und die Entwicklungen in der Chaostheorie haben es ermöglicht, die Wettervorhersage durch Multiplikation von Messungen zu verbessern.

Marxisten hatten oft mit dem Einfluss "modischer" idealistischer Vorstellungen zu kämpfen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts musste Lenin in der sozialistischen Bewegung, nicht nur in Russland, gegen den Einfluss idealistischer Vorstellungen kämpfen, die damals von Philosophen und Wissenschaftlern wie Avenarius und Mach getragen wurden. "Die wirklich wichtige Frage der Erkenntnistheorie, die philosophische Strömungen trennt, ist nicht, wie genau unsere Beschreibungen von Kausalzusammenhängen sind, noch ob diese Beschreibungen in einer präzisen mathematischen Formel ausgedrückt werden können, sondern ob die Quelle unseres Wissens über diese Zusammenhänge in den objektiven Gesetzen der Natur oder in den Eigenschaften unseres Geistes liegt, in seiner Fähigkeit, bestimmte a priori Wahrheiten zu kennen, etc. Das ist es, was die Materialisten Feuerbach, Marx und Engels für immer von den Agnostikern Avenarius und Mach (Anhänger Hume's) unterscheidet."

Schließlich hat die Quantenphysik, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt wurde, um das Verhalten der winzigen Bestandteile der Materie, der Elementarteilchen zu studieren, zu einer philosophischen Interpretation Anlass gegeben, die sehr vom Idealismus und dem Begriff des Zufalls geprägt ist, einer Interpretation, gegen die Physiker wie Einstein gekämpft haben. Diese Debatte kann am Beispiel der Radioaktivität angesprochen werden. Dabei zeigt sich, dass sich bestimmte chemische Elemente auflösen können. Und wir können die Lebensdauer dieser radioaktiven Elemente sehr genau messen. So hat eine bestimmte Art von Kohlenstoffkernen, zum Beispiel Kohlenstoff-14, eine durchschnittliche Lebensdauer von 5.734 Jahren. Archäologen nutzen die Messung der Anzahl dieser radioaktiven Kerne zum Beispiel in bestimmten Knochen bis heute. Aber diese 5.734 Jahre sind ein Durchschnitt. Und während die Entwicklungen der Quantenphysik erklären können, warum sich Kohlenstoff-14-Kerne im Durchschnitt nach dieser Lebensdauer auflösen, können sie nicht vorhersagen, wann sich ein bestimmter Kohlenstoff-14-Kern auflösen wird.

Diese Grenze, die das, was die Quantenmechanik vorhersagen kann, auf Wahrscheinlichkeiten reduziert, ist seit Jahrzehnten Gegenstand intensiver Diskussionen unter Physikern und wird auch heute noch diskutiert. Die vorherrschende philosophische Interpretation postuliert, dass die Natur ein ihr innewohnendes und zutiefst probabilistisches Wahrscheinlichkeitsverhalten hat. Was verbirgt sich hinter diesem Verhalten, das auf innere Zufälle in der Natur zurückzuführen wäre? Die Befürworter dieser Ansicht antworten nicht. Andere Physiker suchen und schlagen Theorien vor, um den aktuellen Formalismus der Quantenphysik zu ergänzen.

Die wissenschaftlichen Debatten haben vielfältige philosophische Interpretationen hervorgebracht und werden dies auch weiterhin tun. Aber der Determinismus, untrennbar mit dem Materialismus verbunden, betrifft die materielle Realität selbst, noch selbst bevor wir uns eine Vorstellung davonmachen können. Und die wissenschaftlichen Gesetze modellieren diese Realität und werden sie immer genauer modellieren, je mehr Entdeckungen gemacht werden.

[1] Mechanik ist die Wissenschaft von der Bewegung und dem Gleichgewicht der Körper.