Nach 10 Jahren Modi- und BJP-Regierung: Indien zur Stunde der Wahlen

aus Lutte de Classe (Klassenkampf)
April 2024

Nach zehn Jahren an der Spitze der Indischen Union und ihrer 1,5 Milliarden Einwohner kandidiert ihr Premierminister Narendra Modi im Namen der Bharatiya Janata Party (Indischen Volkspartei, BJP) erneut für seine Wiederwahl. Er tritt aus einer starken Position heraus an und scheint auf dem besten Weg zu sein, wiedergewählt zu werden - für eine dritte Amtszeit in Folge. Doch er fährt fort, Einschüchterungen und diskriminierende Maßnahmen gegen Teile der Opposition und die muslimische Minderheit zu verstärken. Die siegessicheren Reden des Regimes über den Aufstieg Indiens zur neuen Weltwirtschaftsmacht sind genauso viel wert wie die Wahlversprechen in der „größten Demokratie der Welt“.

Ein angekündigter Wahlsieg

Es scheint wenig Zweifel daran zu geben, dass die BJP und die um sie gebildete Koalition bei den allgemeinen Wahlen im April und Mai nächsten Jahres einen Sieg erringen werden. Bei der letzten Wahl im Jahr 2019 in der Lok Sabha, dem Unterhaus des Parlaments, das über die Farbe des Premierministers entscheidet, hatte Narendra Modi mit nur 37 Prozent der Stimmen gewonnen, ein Ergebnis, das ihm jedoch eine sehr große Mehrheit der Sitze sicherte (303 von 543). Er profitierte von der Spaltung der Oppositionsparteien und dem vom britischen Imperialismus übernommenen Ein-Runden-Wahlsystem. Außerdem verfügte er bereits über einen Propagandaapparat mit enormen finanziellen Mitteln und ein freiheitsfeindliches Gesetzeswerk, das sich gegen Medien, die ihm nicht hörig sind, Oppositionsparteien, Vereinigungen und NGOs richtet.

Die BJP stützt sich auch auf ein riesiges Netzwerk von Organisationen mit Millionen von Freiwilligen, die alle Teile der Bevölkerung betreuen und sich ihrer Politik verschrieben haben: Religiöse Organisationen wie die Vishva Hindu Parishad (VHP); Sozialarbeiter; Propagandabeauftragte in sozialen Netzwerken; Studenten- und Arbeitergewerkschaften wie die Bharatiya Mazdoor Sangh, die indische Arbeitergewerkschaft; rechtsextreme hinduistische und sogar paramilitärische Gruppen, die in antimuslimische Pogrome verwickelt sind, wie die Rashtriya Swayamsevak Sangh (Nationale Freiwilligenorganisation, RSS). Oppositionsparteien und ihre Sprecher sind häufig Gegenstand repressiver Maßnahmen. Das jüngste Opfer war Mitte März Arvind Kejriwal, der Premierminister des Bundesstaates Delhi, der wegen Korruption und Erpressung verhaftet wurde. Dies ist eine Nebelwand, die vielleicht ein Zeichen für eine gewisse Hektik ist, um von den ähnlichen Verdächtigungen abzulenken, die gegen mehrere enge Vertraute Modis, allen voran den Milliardär Gautam Adani und seinen Clan, vorliegen.

Die Kampagne der BJP richtete sich weitgehend gegen die 200 Millionen Muslime und um die Förderung der Hindu-Religion und -Kultur, die die BJP von Anfang an zur Grundlage ihrer Politik gemacht hat. Die Hindus, die laut der BJP das einzig wahre Indien seien, würden endlich von „1.000 Jahren Unterwerfung“ durch Muslime und Säkulare befreit. 2019 hatte Modi die Autonomie von Jammu und Kaschmir, dem einzigen Bundesstaat mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit, abgeschafft. Am 11. Dezember bestätigte der Oberste Gerichtshof diese Entscheidung und legitimierte damit all die Propaganda und Demagogie, die er seit seinem Amtsantritt entfaltet hatte. Mitte Januar inszenierte Modi spektakulär die Einweihung des Hindu-Tempels von Ayodhya im Nordosten des Landes anstelle einer Moschee, deren Zerstörung 1992 durch Hindu-Fanatiker zu einer Welle der Gewalt und fast 2.000 Toten geführt hatte, von denen die meisten Muslime waren. Und am 11. März kündigte die Regierung die Umsetzung einer Staatsbürgerschaftsreform an, die seit ihrer Verabschiedung im Jahr 2019 unangewendet geblieben ist: Sie schließt Muslime von bestimmten Einbürgerungsverfahren aus und bricht mit einer im Wesentlichen säkularen Staatsdefinition.

Da 970 Millionen Wähler zur Wahl aufgerufen sind, scheinen die BJP und ihre Verbündeten in einer günstigen Position zu sein. Im Frühjahr 2023 gewann die Kongresspartei, die das politische Leben Indiens dominiert und das Land nach der Unabhängigkeit jahrzehntelang geführt hatte, zwar die Mehrheit der Sitze in der Versammlung des Bundesstaates Karnataka und sicherte sich damit die Kontrolle über die Exekutive des Bundesstaates. Doch dieser Erfolg hat die Dynamik zugunsten Modis nicht umgekehrt. Im vergangenen November gewann die BJP drei der vier Wahlen zu den Parlamenten von Bundesstaaten mit insgesamt mehr als 200 Millionen Einwohnern, darunter zwei, Radschastan und Chhattisgarh, die ihr vor fünf Jahren von der Opposition weggenommen worden waren. Neben den Angriffen und der hinduistischen und antimuslimischen Demagogie, die ihr seit einem Jahrzehnt im Norden des Landes zum Erfolg verholfen haben, stellt die BJP-Propaganda nun die „Ausrichtung“ der lokalen, kommunalen und bundesstaatlichen Behörden als Garant für den Erfolg ihrer Politik auf nationaler Ebene dar. Die politische Farbe der Exekutiven ist in der Tat traditionell das Produkt zahlreicher Feilschereien und Koalitionen mit sehr variabler Geometrie. So schloss sich Nitish Kumar, Premierminister von Bihar, einem armen Bundesstaat im Norden mit 100 Millionen Einwohnern, im Januar dieses Jahres dem Bündnis an, das Modi bei den nächsten Wahlen anführen wird. Seit 2015 hat derselbe Politiker fünfmal die Ergebenheit gewechselt, um seinen Futtertrog zu behalten.

Die BJP, die in weiten Teilen der Indischen Union hegemonial ist, bleibt jedoch in einigen südlichen Bundesstaaten in der Minderheit, darunter Kerala (35 Millionen Einwohner), das derzeit von einer „linken“ Koalition unter Führung der (Marxistischen) Kommunistischen Partei Indiens regiert wird. Diese entstand 1964 aus einer Abspaltung der Kommunistischen Partei Indiens vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen zwischen der UdSSR und Maos China. Sie ist nach wie vor die größte Partei in Indien, die sich auf den Kommunismus beruft. Außerhalb von Kerala ist ihr Einfluss in einigen Bundesstaaten wie Tamil Nadu nicht unerheblich. Ihre Politik ist mit der der europäischen Sozialdemokratie vergleichbar.

Gegenüber Modi hat die Kongresspartei diesmal fast alle nationalen und vor allem regionalen Oppositionsparteien in einem Bündnis mit dem Namen Indian National Development Inclusive Alliance (INDIA) vereint. Das „Alles außer Modi“ dient ihr als Kitt. Die Kongresspartei regiert jedoch nur noch drei der 28 Bundesstaaten der Indischen Union und hat den Großteil ihrer Unterstützung in der ländlichen Masse und bei der nationalen Bourgeoisie verloren, die ihr gewissermaßen verdankt, dass sie einen Staat geerbt hat, der sich ihren Interessen verschrieben hat. Modi hat seinen Gegnern immer wieder seine Entwicklungsbilanz entgegengehalten. Als er vor zehn Jahren an die Macht kam, sei Indien fragil gewesen und habe sich zum „aufsteigenden Stern“ der Weltwirtschaft entwickelt.

Ein trügerischer Wirtschaftsaufschwung

Fünfundsiebzig Jahre nach der Unabhängigkeit ist Indien gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) zur fünftgrößten Volkswirtschaft der Welt aufgestiegen und hat die ehemalige Kolonialmacht Großbritannien überholt, die zwei Jahrhunderte lang Indiens Bevölkerung ausgehungert, einen Großteil seiner aufstrebenden Industrie zerstört und seine Rohstoffe geplündert hat.

Premierminister Modi verspricht ein „goldenes Zeitalter“ und will sein Land zu einer Supermacht machen, die mit China und den USA konkurrieren kann. Doch hinter der nationalistischen Propaganda und den Show-Effekten, für die der BJP-Führer bekannt ist, stellt sich die Frage, welche Rolle die indische Bourgeoisie in dem weltweit tobenden Wirtschaftskrieg wirklich spielt.

Modi genießt das Wohlwollen der imperialistischen Führer. Zwar hat Indien in einigen Konflikten wie der Ukraine eine scheinbare Neutralität bewahrt. Aber gegen China hat es mit den imperialistischen Mächten ein diplomatisch-militärisches Bündnis geschmiedet (allen voran den Quadrilateraler Sicherheitsdialog „Quad“ mit den USA, Australien und Japan). Da Indien über fast keine Verteidigungsindustrie verfügt, ist es dabei ein vielversprechender Markt. Die Todeshändler des französischen Imperialismus, die seit 20 Jahren hinter Russland der zweitgrößte Waffenlieferant Indiens sind, erhielten die Dividende mit mehreren spektakulären Verträgen in den letzten Jahren, darunter der Verkauf von mehreren Dutzend Rafale-Flugzeugen und Scorpène-U-Booten. Modi und Indien, das von Macron als „strategischer Partner“ vorgestellt wurde, waren Ehrengäste der Militärparade am 14. Juli 2023 in Paris.

Im September letzten Jahres war Indien auch Gastgeber des G20-Gipfels, den Modi groß inszenierte. Dies bot ihm die Gelegenheit, seine Wirtschaftspolitik vor der Augen der ganzen Welt anzupreisen und sich als Führer des „globalen Südens“ aufzuspielen, der im Namen der ärmsten Nationen sprechen würde. Was macht es schon, dass – um die „richtigen“ Bilder für die Weltöffentlichkeit zu produzieren – 100.000 Polizisten mobilisiert werden mussten, dass die Armen und der Müll der Hauptstadt versteckt wurden, dass Wände neu gestrichen wurden, dass Banner mit dem G20-Logo und dem Porträt von Narendra Modi in der ganzen Stadt aufgehangen wurden, dass Brunnen, ein künstlicher Wasserfall und sogar 700.000 Blumentöpfe kurzzeitig aufgestellt wurden? Dass dafür 300.000 Menschen aus ihren Häusern vertrieben und 25 Slums zerstört wurden?

Modi beansprucht für Indien den Titel der fünftgrößten Weltmacht und er macht keinen Hehl aus seinen Ambitionen, bis 2047 (dem 100. Jahrestag der Unabhängigkeit Indiens) den dritten oder sogar zweiten Platz zu erreichen.

Mit einem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von über 7% in den letzten beiden Jahren ist Indien in der Tat eine Ausnahme in einer Weltwirtschaft. Denn die ist geprägt von einer allgemeinen Verlangsamung und der Verschärfung des Wirtschaftskriegs zwischen den kapitalistischen Mächten und den großen Konzernen und Banken, die die Welt seit Jahrzehnten unter ihrer Kontrolle haben. Indiens BIP hingegen könnte in den kommenden Jahren tatsächlich die Marke von 5.000 Milliarden US-Dollar überschreiten. Dieses Wachstum geht mit einem Boom der indischen Börsenwerte einher, die zum Teil von der Flaute auf den chinesischen Finanzmärkten in den letzten Jahren profitieren.

Ein weiterer Ausdruck dieses Aufschwungs ist die steigende Zahl an Milliardären. Von dem Slogan des Regimes „Wachstum für alle“ sind wir weit entfernt. Laut der Forbes-Liste aus dem Frühjahr 2023 wäre Indien sogar das Land mit der drittgrößten Anzahl an Milliardären weltweit: 169 Milliardäre, die über ein Gesamtvermögen von 675 Milliarden US-Dollar verfügen.

Der indische Kapitalismus ist um etwa 20 mächtige Familienkonzerne herum strukturiert, die seit langem mit der politischen Macht verbunden sind, dank deren Unterstützung sie ihre Konkurrenten verspeist haben. Sie waren die großen Nutznießer der Privatisierung der Eisenbahn, der Strom- und Kohle-Branche, der Häfen und der nationalen Containergesellschaft.

Zu diesen Dynastien und wahren Blutsaugern gehören:

- Reliance Industries des Industriemagnaten Mukesh Ambani, dem reichsten Mann des Landes, der in zahlreichen Branchen erfolgreich ist: Öl, Gas, Petrochemie, Telekommunikation und Einzelhandel.

- Die Adami Group, die in drei Jahrzehnten zum größten privaten Hafenbetreiber des Landes, zu einem der größten privaten Flughafenbetreiber, einem Strom- und Stadtgasversorger geworden ist. Ihr Leiter, Gautam Adani, ist derzeit im Herzen eines aufsehenerregenden Skandals wegen Geldwäsche, Veruntreuung öffentlicher Gelder und Korruption.

- Die Aditya Birla Group ist führend im Aluminiumsektor, aber auch in den Bereichen Kupfer, Zement, Chemie und Textilien tätig.

- Bharti Airtel ist ein Telekommunikationsriese.

Und da ist außerdem Tata, deren Aktivitäten von Stahl über Tafelsalz bis hin zu Luxushotels und der Automobilbranche reichen.

Diese modernen „Nabobs“ (ein ehemaliger Herrschertitel, der heute in Indien für Menschen mit viel Reichtum und Einfluss genutzt wird) haben zwar riesige Vermögen angehäuft. Doch diese Vermögen spiegeln in keiner Weise die Entwicklung der landwirtschaftlichen oder industriellen Produktion oder der Dienstleistungen wider, von denen die Bevölkerung profitieren könnte – ebenso wenig wie all die Statistiken, mit denen die Effizienz der Wirtschaft aus Sicht der kapitalistischen Interessen gemessen werden sollen. Sie spiegeln vor allem den zunehmenden Parasitismus einiger weniger großer bürgerlicher Dynastien wider. Die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung eignen sich 77% des nationalen Reichtums an. Und allein das reichste Prozent besitzt 40,1% dieses Reichtums.

Wenn die Statistiken zeigen, dass die „extreme Armut“, wie sie von internationalen Organisationen gemessen wird, dort seit einem Jahrzehnt zurückgegangen ist, ist Indien mit seinen 1,43 Milliarden Einwohnern nach wie vor das Land mit dem niedrigsten Pro-Kopf-Einkommen der G20: 1.947 Euro pro Jahr, also kaum mehr als 5 Euro pro Tag – ein Durchschnitt, hinter dem sich zudem immense Ungleichheiten verbergen. Im Welthunger-Index (WHI) belegt es sogar den 111. Platz von 125 sogenannten „Schwellenländern“, knapp vor Afghanistan oder Haiti – und das, obwohl Indien der größte Reisexporteur der Welt ist. Das hat Modi jedoch nicht daran gehindert, kurz nach Ausbruch des Krieges in der Ukraine zu behaupten, Indien könne die ganze Welt ernähren. Schon zur Zeit der britischen Kolonialherrschaft wurde das Land von Hungersnöten heimgesucht, während die mit Getreide beladenen Schiffe in Richtung britisches Mutterland in See stachen. Die Hungersnot von 1943, als Churchill Premierminister war und der Krieg tobte, soll fast 5 Millionen Opfer gefordert haben. Indiens Index für menschliche Entwicklung (HDI) liegt heute auf Platz 132 der Weltrangliste. Das Pro-Kopf-BIP ist fünfmal niedriger als in China, achtzehnmal niedriger als im Vereinigten Königreich oder in Frankreich und niedriger als in Vietnam, Namibia oder Marokko.

Der Segen des russischen Öls

Indien ist weit entfernt von dem goldenen Zeitalter (Amrit Kaal), einem Ausdruck, der von der BJP-Propaganda skandiert wird, oder von einem „strukturellen Wandel der Wirtschaft“, der das Land zur „Lokomotive des globalen Wachstums“ machen würde, nach der die Weltbourgeoisie vergeblich sucht, um ihre Produktion anzukurbeln und ihre Profitmaschine zu füttern. Doch der Krieg zwischen Russland und der Ukraine kam der indischen Bourgeoisie in der Tat sehr zugute und ermöglichte es ihr, ihre Statistiken zu verschönern.

Die russischen Konzerne, hauptsächlich Gazprom Neft, Lukoil, Rosneft, Surgutneftegas, denen seit 2022 schrittweise der Zugang zum europäischen Markt verwehrt wird, beliefern nun die indischen Raffinerien. Mehr als die Hälfte ihres Rohöls wird einer einzigen Raffinerie verarbeitet, der Jamnagar Refinery im Bundesstaat Gujarat. Es ist die größte Raffinerie der Welt, und sie befindet sich im Besitz von Reliance Industries, dem Konzern von Mukesh Ambani. Es heißt, wenn alle in dieser Raffinerie verwendeten Rohre aneinander gelegt würden, würden sie ganz Indien von Nord nach Süd verbinden.

Fast zwei Drittel des in Tankern transportierten russischen Öls wird wohl derzeit nach Indien verschifft, was Indien nach China zum zweitgrößten Markt für russisches Öl macht und es den indischen Unternehmen ermöglicht, dieses ihrerseits in die ganze Welt zu exportieren. Doch die russischen Unternehmen, die bis vor kurzem aufgrund ihres Ausschlusses aus dem internationalen Bankensystem gezwungen waren, ihr Öl in Rupien zu verrechnen und Konten in Rupien zu eröffnen, konnten diese nicht einmal auf dem indischen Markt ausgeben, da dort nur wenige Waren produziert werden, die für Russland von Interesse sind. Dieses Hütchenspiel hat den internationalen Öl-Handel bislang aufrechterhalten ... und mit ihm die Profite der Konzerne und Spekulanten. Es verdeutlicht aber auch die Rolle des indischen Kapitals als untergeordneter Vermittler.

„Die Stunde Indiens“?

Nach seinem Amtsantritt im Jahr 2014 rief Modi das Programm „Make in India“ ins Leben, um den noch immer kümmerlichen Sektor der industriellen Produktion zu fördern. Es richtete sich an ausländische Investoren mit dem Aufruf: „Kommt zum Produzieren nach Indien“.

Um die inländische Produktion zu fördern, hat die Regierung unter dem Motto „India first“ die Einfuhrzölle und -steuern drastisch erhöht (bis 2022 auf durchschnittlich 18%). Um die Exporte zu fördern, hat Indien ab 2020 insbesondere im Bereich der Hochtechnologie ein Subventionsprogramm in Höhe von insgesamt 22 Milliarden US-Dollar aufgelegt. Diese Summe ist zwar sehr hoch, aber angesichts der Größe der Herausforderung doch eher gering. Zumal nicht weniger als 14 Branchen, die als vorrangig eingestuft wurden (darunter die Herstellung von Smartphones, medizinischen Produkten und Autoteilen) von diesen Subventionen profitierten.

Die Regierung hat weitaus höhere Ausgaben für die seit jeher dringend benötigte Infrastruktur (Eisenbahn, Straßen, Stromnetz, Hafenanlagen usw.) getätigt. Von 2014 bis 2024 stiegen ihre Investitionen von 63 auf 208 Milliarden Euro. Diese Investitionen im Auftrag der Kapitalisten haben in jüngster Zeit zwar einige große ausländische Konzerne angelockt. So hat Apple einen Teil seiner Produktion bestimmter (weniger anspruchsvoller) iPhones nach Indien verlagert. Andere haben angedeutet, zukünftig in Indien investieren zu wollen. Insbesondere hat Tesla-Chef Elon Musk erklärt, dass er die Errichtung einer Giga-Factory in Indien erwäge (aber wo erwägt er dies nicht?). General Electric will wohl demnächst Motoren für Kampfflugzeuge in Indien bauen. Aber einige haben sich auch bereits umentschieden, wie der taiwanesische Riese Foxconn. Ursprünglich hatte dieser hier 2023 ein Unternehmen zur Produktion von Halbleitern und Bildschirmen im Wert von rund 20 Milliarden US-Dollar aufbauen, was von der Modi-Regierung triumphierend angekündigt worden war.

Im Automobilsektor sind die Zölle so hoch (70% bis zu einem Wert von 40.000 USD, 100% wenn er darüber liegt), dass der Markt in den Händen von vier Herstellern bleibt: Maruti Suzuki, Tata, Hyundai und Mahindra. Der Renault-Konzern, der in Chennai eine mit Nissan gemeinsam betriebene Fabrik unterhält, setzte im vergangenen Jahr nur 40.000 Fahrzeuge ab. Das Problem für die Hersteller ist weiterhin, dass die Zahl der potenziellen Kunden auf dem indischen Markt gering bleibt: Der Kauf eines Autos, insbesondere eines E-Autos, ist nach wie vor ein Privileg der wohlhabendsten Bevölkerungsgruppe.

Bisher sind die ausländischen Investitionen auf einem sehr niedrigen Niveau geblieben. Im Jahr 2022 wurden in Indien nicht einmal ein Viertel der Summe investiert, die in China investiert wurde. Die Länder des Verbands Südostasiatischer Nationen (ASEAN) erhielten 4,5 Mal so viele ausländische Investitionen wie Indien. Außerdem handelt es sich bei einem Teil dieser Investitionen um indisches Kapital, das in den Steueroasen Mauritius oder Singapur angelegt wird, bevor es wieder nach Indien zurückfließt. Die Folge ist, dass Indien im Bereich der Produktion von Industriegütern ein Zwerg bleibt: Noch immer findet hier nur 3% der weltweiten industriellen Wertschöpfung statt, während es in China fast ein Drittel sind. Indien wird China also nicht in der Lage sein, China den Rang als Werkbank der Welt abzulaufen.

Im Rahmen seiner „strategischen“ Annäherung und einer „neuen Partnerschaft“ mit den USA hat Indien im Juli zugestimmt, bestehende Investitionsbeschränkungen und Zölle in mehreren Bereichen aufzuheben. Die Regierung Modi setzt sich insbesondere für den Ausbau des High-Tech-Bereichs ein, insbesondere der Raumfahrt, die seit dem Start einer Beobachtungssonde und der erfolgreichen Landung eines Raumfahrzeugs im Rahmen der Chandrayaan-3-Mission im Sommer 2023 als Schaufenster des Landes dient. In diesem Sektor, in dem Indien bisher nur 2% der Investitionen auf sich vereint, können ausländische Investoren künftig das gesamte Kapital von Unternehmen kontrollieren. Vielleicht kann Indien durch diese Öffnung, die im Gegensatz zu seiner globalen Industriepolitik steht, zu einem kostengünstigen Raketenstartplatz werden. Dies wird jedoch weder die inländische Produktion ankurbeln noch ihre grundlegenden Mängel beheben.

Elend, soziale Gewalt und Unterentwicklung

Das Hauptmerkmal der anhaltenden Unterentwicklung – ein Erbe der britischen Kolonialherrschaft – ist die Tatsache, dass noch immer fast die Hälfte der Bevölkerung in der Landwirtschaft beschäftigt ist, obwohl der Agrarsektor nur noch etwa 15% zum BIP beiträgt. Hunderte Millionen Menschen hausen auf winzigen Parzellen von weniger als einem Hektar, ohne landwirtschaftliches Gerät oder Bewässerungssystem – Parzellen, die ihnen kaum genug zum Leben bieten. Oder sie sind der Herrschaft von Großgrundbesitzern, Kreditgebern und der Agrarindustrie unterworfen.

Die Produktivität bleibt daher auf sehr niedrigem Niveau. Etwa alle 30 Minuten begeht ein Bauer Selbstmord. Dies ging so weit, dass eine Studie im Jahr 2011 von der „größten Selbstmordwelle in der Geschichte der Menschheit“ sprach. Wenn der Preis für Reis oder Zwiebeln in die Höhe schnellt, wie im letzten Herbst, ist wortwörtlich das Überleben des ärmsten Teil der Gesellschaft bedroht. 1998 verlor die BJP angeblich die Kommunalwahlen in Delhi aufgrund eines plötzlichen Anstiegs des Zwiebelpreises.

Doch die armen Bauern leiden nicht einfach nur. In Indien kommt es jedes Jahr zu Protesten, bei denen bis zu zehn Millionen Bauern auf die Straße gehen. Im Jahr 2020 wurden einige der Hauptstraßen in der Hauptstadt von Bauern besetzt und blieben fast ein Jahr lang blockiert. Diese Bewegung, bei deren Niederschlagung mehr als 700 Menschen ums Leben kamen, hat Modi dazu gezwungen, drei geplante Gesetze zur Liberalisierung der Agrarmärkte zurückzunehmen. Im Februar dieses Jahres wurde ein weiterer Marsch der Bauern auf Neu-Delhi gestartet, um die Einführung eines garantierten Mindestpreises für ihre Ernte zu fordern. Die Demonstranten wurden jedoch 200 km von der Hauptstadt entfernt mit geradezu militärischen Mitteln aufgehalten.

Die Situation der Frauen ist ebenfalls ein Indikator für den Grad der allgemeinen Rückständigkeit des Landes. Nur 23% von ihnen gehen einer Arbeit nach. In der verarbeitenden Industrie stellen sie nur 17% der Beschäftigten. Diese Situation hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten noch verschlechtert. Fast alle Frauen, die einen Beruf ausüben, haben nur einen unsicheren Arbeitsplatz, häufig in Teilzeit, und werden noch schlechter bezahlt als Männer.

 Die große Masse der Arbeitenden leidet unter sehr unsicheren Arbeits- und Lebensbedingungen. Über 85% der Arbeitsplätze sind nach wie vor im informellen Sektor angesiedelt, d.h. ohne Arbeitsvertrag, Lohnabrechnung oder irgendwelche Rechte. Seit zwei Jahrzehnten ist immer noch jeder vierte Jugendliche arbeitslos, und das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts ändert daran nichts. Die Zahl der jährlich neu geschaffenen Arbeitsplätze kann die 10 bis 12 Millionen jungen Menschen, die zur gleichen Zeit auf den Arbeitsmarkt drängen, nicht aufnehmen. Millionen von ihnen wandern jedes Jahr aus, um in den Hochburgen des Imperialismus, in Zentralasien und vor allem in den Öl-Monarchien am Golf ausgebeutet zu werden. Laut der Internationalen Arbeitsorganisation ist Indien dennoch das fünftgrößte Land mit der höchsten Anzahl an Wochenarbeitsstunden. Beschäftigte des öffentlichen Dienstes und von Großkonzernen verfügen nach wie vor zumindest über ein bisschen soziale Absicherung, insbesondere über eine Kranken- oder Unfallversicherung. So etwas wie einen Krankenschein gibt es jedoch nicht. Und viele Rechte, die in den alten Arbeitsgesetzen verankert waren, wurden in den letzten Jahren verwässert oder abgeschafft, um „die Geschäftspraxis zu erleichtern“. So sind nach dem neuen Arbeitsgesetz die Fabrikbesitzer mit weniger als 20 Beschäftigten von jeglicher Verantwortung befreit. Die tägliche Arbeitszeit wurde auf zwölf Stunden angehoben. Die Unternehmer, die weniger als 300 Arbeitende beschäftigen, benötigen ebenfalls keine vorherige Genehmigung der Regierungsbehörden mehr, um Entlassungen oder Schließungen vorzunehmen. 

Die Zukunft gehört der Arbeiterklasse

Egal, aus welchem Blickwinkel man die indische Wirtschaft betrachtet: Sie ist gekennzeichnet von den ererbten Merkmalen der kolonialen und imperialistischen Herrschaft über den Subkontinent:

- eine Landwirtschaft mit viel zu vielen Beschäftigten, in der Hunderte Millionen Menschen ständig unter dem Damoklesschwert von Hunger und Missernten leben, in Elend, Isolation und dörflicher Rückständigkeit, in der Zwangsjacke der Traditionen und der Unterdrückung durch Großgrundbesitzer

- unwürdige Wohn- und sanitäre Bedingungen, einschließlich des Fehlens von Toiletten und einer Abwasserentsorgung

 - ein dramatischer Mangel an Infrastruktur und Industrie

 All dies sind Entwicklungs- und Investitionshemmnisse für die Kapitalisten. Aber es sind auch starke Triebkräfte für eine gesellschaftliche Revolution.

 Indien, das zutiefst von den Merkmalen seiner feudalen und kolonialen Vergangenheit geprägt ist, hat sich als untergeordnetes Land in den kapitalistischen Weltmarkt eingefügt. Einigen großen bürgerlichen Dynastien ist es gelungen, mit Hilfe von Investitionen und der Unterstützung des Bundes und der Bundesländer regelrechte Imperien aufzubauen, die zahlreiche Wirtschaftszweige umfassen. Sie waren jedoch nicht in der Lage, eine gesellschaftliche Klasse zu bilden, die ihre eigene Wirtschaft vereinen und entwickeln konnte.

Die historische Stellung Indiens als „blockfreie“ Macht ermöglicht es dem Land, sich im wirtschaftlichen und politischen Krieg der kapitalistischen Großmächte noch einen gewissen Handlungsspielraum zu bewahren. Doch das ist ein immer schmaler werdender Grat. Der Druck des US-Imperialismus, der das Land zu einem strategischen Verbündeten gegen China gemacht hat, hat die indische Neutralität weitgehend überwunden. Das liegt im Zeitalter des Imperialismus im Grunde in der Natur der nationalen Bourgeoisie in den armen Ländern. Die Unterstützung für den Staat Israel ist ein weiteres Beispiel hierfür. Indien ist seit 2017 durch Abkommen über Waffenlieferungen mit dem israelischen Staat verbunden und hat nicht gezögert, ihn bei seiner Vernichtungspolitik im Gazastreifen zu unterstützen, wobei Modi auch Anwerbeaktionen organisiert, um Arbeiter nach Israel zu schicken.

Aber allein schon mit ihren 30 Millionen Bergbau- und Industriearbeitern stellt die Arbeiterklasse eine beträchtliche soziale Kraft dar, zu der noch die Bataillone dutzender Millionen weiterer Arbeitender und Arbeitsloser hinzukommen.

Nur die Arbeiterklasse, die Unterstützung unter den armen ländlichen Massen findet, wird in der Lage sein, die Unterwerfung unter die Diktatur des Kapitals zu beenden und die Kämpfe der Ausgebeuteten unabhängig von ihrer Sprache, ihrem Glauben oder ihrer Kaste zu vereinen. Vor etwas mehr als einem Jahrhundert hatte in Russland (einem weiteren demografischen und geografischen Riesen) die Arbeiterklasse, wenn auch in der Minderheit, dank ihres hohen Bewusstseins und ihrer Erfahrungen, die sie unter der Führung der bolschewistischen Partei erworben hatte, eine solche Revolution mitten im Weltkrieg erfolgreich durchgeführt.

Die Verschärfung der Widersprüche, die sich aus der imperialistischen Herrschaft und der weltweiten Kriegsentwicklung ergeben, machen den Aufbau einer Partei in Indien, die für die Perspektive der proletarischen Revolution und des Internationalismus wirkt, zu einer absoluten Notwendigkeit.

 

27. März 2024