Vor einem Jahrhundert: Als die Spanische Grippe die kapitalistische Barbarei verstärkte (aus Lutte de Classe – Klassenkampf – von Juni 2020)

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Vor einem Jahrhundert: Als die Spanische Grippe die kapitalistische Barbarei verstärkte
Juni 2020

Die Grippeepidemie, die in drei Wellen zwischen dem Frühjahr 1918 und dem Frühjahr 1919 alle Kontinente verwüstete und den Tod von 50 bis 100 Millionen Menschen verursachte, war zusammen mit dem Ersten Weltkrieg ein Gradmesser für das Ausmaß von Fäulnis und Barbarei, das der Imperialismus erreicht hatte. Sie wirft aber auch in vielerlei Hinsicht ein Licht auf die aktuelle Situation, die durch die Covid-19-Pandemie und ihre gegenwärtigen und zukünftigen verheerenden Auswirkungen auf die unteren Volksschichten entstanden ist.

Der Erste Weltkrieg war – um die Worte Lenins zu gebrauchen – wie andere Kriege vor ihm ein „mächtiger Beschleuniger“ der Geschichte, der die Gesellschaften und das Leben der Menschheit auf vielen Gebieten über einen ganzen historischen Zeitraum hinweg grundlegend umwälzte. Das Aufeinanderprallen der großen Industriemächte bei der Neuaufteilung der Welt nahm die Form eines entsetzlich blutigen Kampfes an, der den eigentlichen, kriminellen und abscheulichen Charakter der bürgerlichen Gesellschaftsordnung bloßstellte. Aus diesem Grund führte der Krieg 1917 zum Aufstand der russischen Arbeiterklasse, der diese Gesellschaftsordnung stürzen wollte – und zu einer gewaltigen revolutionären Welle, die mehrere Jahre lang die Welt erschütterte.

Wie Rosa Luxemburg 1915 schrieb: “Geschändet, entehrt, im Blute watend, von Schmutz triefend – so steht die bürgerliche Gesellschaft da, so ist sie. Nicht wenn sie, geleckt und sittsam, Kultur, Philosophie und Ethik, Ordnung, Frieden und Rechtsstaat mimt – als reißende Bestie, als Hexensabbat der Anarchie, als Pesthauch für Kultur und Menschheit , so zeigt sie sich in ihrer wahren, nackten Gestalt.“ [1] Diese Entfesselung der Barbarei, aus dem Schoß der kapitalistischen Gesellschaft geboren, führte in nur vier Jahren zu zehn Millionen Toten unter den Soldaten und noch einmal zu ebenso vielen unter der Zivilbevölkerung.
Hinzu kam zwischen 1918 und 1919 die verheerendste Epidemie, der die Menschheit je ausgesetzt war. Ihr entsetzlicher Tribut an menschlichem Leben, vielleicht fünfmal höher als der des Krieges selbst, war ebenfalls weitgehend das Ergebnis der kapitalistischen Organisation der Wirtschaft, der imperialistischen Ausplünderung und der Politik der Staaten im Dienste der Interessen ihrer jeweiligen Bourgeoisie.

Die Erfordernisse des Krieges verstärkten die Epidemie

Obwohl die Wissenschaftler den Ursprung des Grippevirus, das 1918 die Welt heimsuchte, noch nicht mit Sicherheit bestimmen konnten, steht fest, dass der Krieg seine Ausbreitung erheblich beschleunigte und seine verheerenden Auswirkungen noch verschärfte.

Denn um zu kämpfen und die riesige Kriegsmaschinerie in Europa, im Nahen Osten und in Afrika zu versorgen, brauchten die kriegführenden Mächte ständig neue Soldaten, Arbeiter und Rohstoffe, die sie aus aller Welt herbeischafften. Dies förderte die rasche Ausbreitung des Virus. Die Regierungen und Generalstäbe wussten um dieses Risiko, da es seit Jahrhunderten in allen Kriegen eine bekannte Tatsache war. Ebenso wurden seit dem Mittelalter häufig Quarantäne-Maßnahmen angewandt. Um nur ein Beispiel zu nennen: 1720 war die ganze Region Provence zwei Jahre lang vom Königreich Frankreich isoliert worden, um die Ausbreitung der Pestepidemie zu verhindern, die das Land heimgesucht hatte. Seit Ende des 19. Jahrhunderts kannten Wissenschaft und Militär obendrein die wichtigsten Übertragungswege auf der Welt.

Das Grippevirus trat höchstwahrscheinlich zum ersten Mal im riesigen Ausbildungslager der US-Armee in Fort Riley (Texas) auf und forderte seine ersten Opfer im März 1918. Es breitete sich dann über das Land bis zu den Häfen der Ostküste aus, wo die Soldaten der U.S.-Expeditionskorps zusammengezogen wurden, bevor sie nach Europa geschickt wurden. Die amerikanischen Behörden bestritten die Existenz einer Epidemie, obwohl sie bereits die Hälfte der Truppen erreicht hatte. Präsident Wilson ordnete an, dass die Zahl der Kranken nicht mitgeteilt werden durfte, um die Mobilisierung nicht zu verlangsamen. Das US-Kriegsministerium erklärte Ende Juni 1918, dass sich unter seinen Truppen „niemals irgendeine Art von Krankheit gezeigt“ habe. Im Vorjahr war es für die herrschenden Klassen schwierig gewesen, den Eintritt des Landes in den Krieg durchzusetzen. Die Einberufung stieß auf erheblichen Widerstand von Seiten der Rekruten und eines Teils der Bevölkerung. Es kam nicht in Frage, das militärische Eingreifen in einen Konflikt zu gefährden, bei dem es um den Kampf der imperialistischen Mächte um die Vorherrschaft auf der Welt ging. Durch ihre Landung in Brest (Frankreich) verbreiteten diese Soldaten in den folgenden Wochen die erste Grippewelle auf dem Kontinent. Andere Daten weisen auf einen möglichen asiatischen Ursprung hin. Nach dieser Hypothese soll das Virus die Weltmeere mit Kolonialtruppen und Arbeitern aus dem heutigen Vietnam und China überquert haben, die Frankreich und Großbritannien zu Zehntausenden rekrutiert hatten.

Wie dem auch sei, auf jeden Fall waren fast überall Transporte von Truppen, die in den Krieg zogen oder aus dem Krieg heimkehrten, der Grund dafür, dass sich das Grippevirus auf dem afrikanischen Kontinent, im Pazifik, in Asien, ja bis in die Arktis ausbreitete.

Bis zum Waffenstillstand von 1918 verhinderte die Militärzensur weitgehend, dass die Bevölkerung vor der Existenz der Epidemie gewarnt wurde. Man schätzt jedoch, dass eine halbe Million Soldaten der französischen, britischen und amerikanischen Armee auf französischem Territorium wegen der Epidemie im Herbst 1918 kampfunfähig waren. Dasselbe galt für das gegnerische Lager. Diese Zensur ist der Grund dafür, dass die Grippe damals den Namen Spanische Grippe erhielt: Da Spanien im Weltkrieg neutral blieb, war seine Presse die einzige, die über das Ausmaß der ersten Grippewelle im Frühjahr und Sommer 1918 berichtete. Einige haben versucht, dem aktuellen Ausbruch von Covid-19 den Beinamen chinesisch zu verpassen. Dies mit so offensichtlichen und idiotischen Hintergedanken, dass die Operation diesmal nicht so gut funktioniert hat.

Zunächst gelang es dank der Zensur und mehr noch dank dem Engagement der Presse, der Intellektuellen, der Ärzteschaft und der politischen Kräfte, die alle hinter dem „Burgfrieden“ mit ihrer Bourgeoisie standen, dass die Problematik verschwiegen werden konnte. Und dies zu einer Zeit, als die meisten Regimenter schon von ihr betroffen waren. Die Propaganda tat ihr Übriges: In Frankreich zum Beispiel erklärten gehorsame und diensteifrige Journalisten, dass die französischen Frontsoldaten „grandios“ der Krankheit widerstehen würden, die die deutschen "Boches" (Schimpfwort für die Deutschen) dezimieren würde. Andere verbreiteten, dass deutsche Wissenschaftler krankmachende Bazillen in Sardinendosen aus Spanien hineingeschmuggelt hätten. Was die französische Zeitschrift für Medizin und praktische Chirurgie betrifft, so schrieb sie im September 1918, am Vorabend der zweiten Welle: „Die Grippe ist eine relativ milde Erkrankung, für die Quarantäne-Maßnahmen oder Desinfektions-Maßnahmen, die bei anderen Krankheiten angewendet werden, an den Grenzen ungerechtfertigt und in der Tat nutzlos wären.

Auch wenn dies die Missachtung aller Hygienevorschriften bedeutete, musste der wahre Gesundheitszustand der Armeen um jeden Preis vor der öffentlichen Meinung und der Arbeiterklasse verheimlicht werden. Denn die Bourgeoisie hatte allen Grund, sich vor deren Reaktionen zu fürchten zu einem Zeitpunkt, als das Ende des Krieges in Sicht kam und das Ansehen der Oktoberrevolution zunahm. Schulen, Varietés und Restaurants blieben geöffnet – außer wenn es nicht mehr genügend gesundes Personal, das dort arbeiten konnte. Man konnte die Fabriken und das Transportwesen nicht runterfahren und die kranken Arbeiter isolieren, da sonst die Versorgung der Front mit Kriegsmaterial und die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln gefährdet war; und da sonst die Gefahr bestand, dass den Industriellen staatliche Aufträge und kolossale Gewinne entgehen könnten. Bestenfalls wurden Arbeitszeiten oder Arbeitstempo verringert – in der Hoffnung, die Arbeiter so auch am nächsten Tag noch auf ihren Posten zu halten. In den meisten Fällen aber wurden die Arbeiter schlicht zwangsverpflichtet, so bei der Eisenbahn, von der der Truppen- und Materialtransport an die Front abhing.

Um die Militärkrankenhäuser nicht zu überfüllen, wurden die Kranken, manchmal stehend, in überfüllten Zügen zu anderen Krankenhäusern transportiert, wodurch die Grippe noch mehr im ganzen Land verbreitet wurde. Um einen Begriff zu verwenden, der in den letzten drei Monaten von den Medien so oft genutzt wurde: Alle Kasernen, Krankenhäuser, Bahnhöfe, Fabriken, aber auch die von den Armeen errichteten Bordelle waren „Hotspots“, was durch die unaufhörlichen Truppenbewegungen zwischen der Front und dem Hinterland verstärkt wurde. Die Militärärzte erwogen eine Zeit lang, keinen Fronturlaub mehr zu gewähren, um die Übertragung der Krankheit einzudämmen. Doch das Oberkommando sprachen sich dagegen aus: Man erinnerte sich noch lebhaft an die Meutereien im Jahr 1917, wo die Einschränkung des Fronturlaubs einer der Faktoren für die Wut und die Revolte der Soldaten gewesen war. Die Ansteckenden zu isolieren und abzusondern, statt sie alle in den Krankenhäusern zu versorgen, überstieg die Kapazitäten der Gesundheitssysteme, die ganz auf die Notwendigkeit ausgerichtet waren, die größtmögliche Zahl an Soldaten kampffähig zu halten – selbst auf die Gefahr hin, Zehntausende mit Grippe infizierte Männer an die Front zurückzuschicken.

Kurz gesagt, die Erfordernisse des Krieges zwischen den imperialistischen Mächten machten es praktisch unmöglich, das Ausmaß der Epidemie in irgendeiner Weise zu begrenzen.

Aber der schmutzige Krieg, den sich die Bourgeoisien auf dem Rücken der einfachen Bevölkerung lieferten, hatte noch andere katastrophale Folgen. Diese erklären zum Teil die außergewöhnlich hohe Sterblichkeit dieser Grippe oder genauer gesagt der drei Grippewellen, die sie kennzeichneten. Die Grippewellen töteten überwiegend Menschen im Alter zwischen 20 und 40 Jahren. Zum einen deshalb, weil die Älteren bereits aufgrund einer früheren Grippeepisode (die so genannte Russische Grippe von 1889-1890) teilweise immun waren. Jedoch auch, weil der Organismus der Soldaten wie auch der Zivilisten durch die Entbehrungen und den körperlichen Verschleiß bereits erheblich geschwächt waren. Die österreichisch-ungarischen Soldaten, die in Italien ununterbrochen im Einsatz waren und unter Hunger und Malaria litten, erlagen zwei- bis dreimal häufiger der Grippe als den Kugeln des Krieges. Auch die Soldaten, die Gasangriffen ausgesetzt gewesen waren, traf die Grippe mit voller Wucht, da ihre Atemwege bereits geschädigt waren. Eine extrem hohe Zahl von ihnen starb an der Grippe.

Die Soldaten, die Arbeiter, ebenso die Frauen, die die Felder allein bestellen und sich um ihre Kinder kümmern mussten, während ihre Männer an der Front waren – keiner von ihnen konnte den Rat der Ärzte befolgen, der lautete ... sich auszuruhen, gut zu essen und zu trinken. Tausende schwangere Frauen starben oder erlitten Totgeburten.

Die Ankündigung des Waffenstillstands vom November 1918 und die Sieges-Feierlichkeiten, die damit einhergingen, fanden auf dem Höhepunkt der Epidemie statt und waren eine Hauptquelle der Ansteckung: Nichts sollte den Frieden der Sieger und die damit einhergehende Propaganda-Operation verderben, insbesondere in den USA, Frankreich und Großbritannien.

Die arbeitende Klasse wurde mit voller Wucht getroffen

Der Gesundheitszustand in den kriegführenden Ländern sowie in ihren Kolonien hatte sich durch den Kriegseintritt erheblich verschlechtert. Die überwiegende Mehrheit der Krankenschwestern, Ärzte, Apotheker und Chirurgen war für die Front zwangsverpflichtet worden. Im Hinterland war es fast unmöglich, einen Arzt zu konsultieren und Laboruntersuchungen durchzuführen. Nur die militärischen Gesundheitsdienste verfügten über zuverlässige Angaben über die Zahl der Erkrankten, da die Meldung der Grippe erst nach dem Höhepunkt der Epidemie obligatorisch wurde. Außerdem gab es keine Einrichtungen, die in der Lage gewesen wäre, Schlüsse aus solchen Daten zu ziehen und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, um die Ausbreitung der Krankheit zu bremsen. Der Personalmangel war dramatisch und die Krankenhäuser dermaßen überfüllt, dass es unmöglich war, die Grippekranken zu versorgen und sie vom Rest der Bevölkerung zu isolieren. Viele Menschen, die mit anderen Krankheiten ins Krankenhaus kamen, steckten sich erst in den überfüllten Krankensälen mit der Grippe an. Und viele, die mit Grippe eingeliefert wurden, warteten hier mangels Pflege und Ruhe nur auf ihren Tod. Viele weitere wurden gar nicht erst untersucht und starben ohne jede Pflege bei sich zuhause – insbesondere während der der zweiten, besonders verheerenden Grippewelle im Herbst 1918.

Der Krieg hatte auch zu einem Mangel an allem geführt: an Medikamenten, Krankenhausbetten, Heizöl, an Treibstoff für die Fahrzeuge der wenigen Ärzte, die noch in ländlichen Gebieten arbeiteten, an Desinfektionsmitteln (insbesondere Seife und Chlorwasser). In Lyon organisierte die Stadtverwaltung unter dem Druck der öffentlichen Meinung auf die Schnelle die Schaffung einer Sondereinheit von Krankenschwestern, die die Kranken besuchen sollten, und von Sonderdiensten, die für die tägliche Desinfektion in Industrieanlagen, Geschäften und bestimmten Verwaltungen zuständig waren.

Auch die drastische Verschlechterung der Lebensbedingungen der Arbeitenden, die insbesondere auf die Intensivierung der Ausbeutung in den Fabriken, den allgemeinen Preisanstieg, die Nahrungsmittelknappheit und die Transportschwierigkeiten zurückzuführen ist, schwächten die Organismen erheblich. Atemwegserkrankungen traten gehäuft auf und waren noch häufiger tödlich als sonst, insbesondere die Tuberkulose. Diese war damals in Frankreich für fast 100.000 Tote pro Jahr verantwortlich und traf vor allem die ärmsten Bevölkerungsschichten. Ein Beamter des Heeresgesundheitsdienstes schrieb diesbezüglich: „Tuberkulose herrscht in den Elendsvierteln der Großstädte und in den Bruchbuden der Bauern, in die aufgrund der Steuern auf Fenster und Türen kaum Luft und Sonnenlicht eindringt. Die Arbeiterviertel in den Industrie- oder Handelsstädten sind allzu oft entsetzliche Ballungsräume verrotteter, schmutziger Behausungen, in denen die Straßen tiefe, enge und feuchte Schneisen sind. [...] Tuberkulose ist wegen der unzureichenden Entlohnung vor allem in Frauenberufen weit verbreitet. [...] Tuberkulose herrscht aufgrund der Überanstrengung der langen Arbeitstage, der Nachtarbeit, die Frauen und Kindern aufgezwungen wird.“ [2]. Die Situation war so kritisch, dass sie die Reihen der französischen Armee während des gesamten Krieges ernsthaft bedrohte – so sehr, dass eine Politik zur Tuberkulose-Vorbeugung und -Behandlung begonnen wurde. Aber das Problem war damit noch lange nicht gelöst.

Die Schlangen, die sich in den großen Städten vor Bäckereien, Lebensmittelgeschäften oder zur Versorgung mit Heizmaterial bildeten, waren ebenfalls Übertragungsorte der Epidemie in der einfachen Bevölkerung. Die Bourgeoisie und ein Teil der Mittelschichten hatten diese Sorgen nicht.

Es gab zwar auch in den westlichen Bezirken von Paris überdurchschnittlich viele Grippetote. Einige glaubten darin einen Beweis dafür zu sehen, dass alle Gesellschaftsschichten vor dem Virus gleich seien – so wie viele andere behauptet hatten, dass in der Uniform alle gleich gewesen wären. In Wahrheit ist die hohe Zahl an Toten in diesen Vierteln auf die große Zahl an Dienstboten (meist Frauen) zurückzuführen, die für das Wohl der oberen Mittelschicht in diesen schönen Bezirken starben, nachdem sie ihre Gesundheit in minderwertigen Unterkünften ruiniert hatten – in Verschlägen, die im Sommer zu heiß und im Winter zu kalt waren, oder in feuchten Erdgeschossen, die Atemwegserkrankungen begünstigten.

In Österreich-Ungarn und in Deutschland führte die von den französischen und britischen Imperialisten verhängte Blockade zu einer Nahrungsmittelknappheit, die mitten in Europa die Hungersnot zurückbrachte. In einer Kriegswirtschaft, die schwer auf dem Proletariat lastete, hatte die Grippe in mehreren ungarischen Städten verheerende Auswirkungen, da hier in den Arbeitervierteln kein Wasser mehr zur Verfügung stand und sich andere Krankheiten entwickelten. In Polen gelang es keiner Behörde, die Todesfälle zu zählen, die heute auf 68.000 bis 130.000 geschätzt werden. In Prag drohte das größte Krankenhaus aus Kohlemangel zu schließen; anderswo gab es keine warmen Mahlzeiten. In mehreren Großstädten der USA war die Zahl der Todesfälle in den Arbeitervierteln mindestens doppelt so hoch wie in den wohlhabenden Stadtteilen. Schwarze waren ganz besonders betroffen. In New York war die Zahl der Todesopfer in der Nachkriegszeit relativ gering, weil die Presse die Öffentlichkeit vor der wachsenden Gesundheitskrise warnen konnte. Dies war zweifellos zurückzuführen auf die frühzeitige Schließung von Schulen und zentralen öffentlichen Gebäuden, auf die obligatorische Meldung von Krankheiten an die städtischen Gesundheitsämter, das Verbot öffentlicher Beerdigungen und die Krankenhauseinweisung von Menschen, die in überfüllten Wohnungen lebten. Das Tragen von Masken, das zum Beispiel in San Francisco zur Pflicht gemacht wurde, spielte ebenfalls eine recht wirksame Rolle.

Auch für Scharlatane und für die Hersteller aller möglichen Medikamente und Mittelchen war es eine sehr einträgliche Zeit. Ein großer Nutznießer war die Société chimique des usines du Rhône (aus der 1928 Rhône-Poulenc, der erste private französische Chemiekonzern seit Jahrzehnten hervorging). Da die Fabriken des Industriellen Bayer 1914 unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt worden waren, hatte die Société chimique des usines du Rhône de facto das Monopol auf Aspirin, dessen Umsätze und Profite dank der Epidemie explodierten.

Die Völker unter der eisernen Ferse des Imperialismus

In den Ländern, die jahrzehnte- oder gar jahrhundertelang der Herrschaft der Großmächte unterworfen waren, führten Krieg, Rohstoffplünderung und Ausbeutung der Arbeitskräfte dazu, dass die Folgen der Grippe für die Menschen noch entsetzlicher waren. Die Epidemie, die über die Häfen eintraf, hatte dort verheerende Folgen und offenbarte die quasi völlige Abwesenheit von Gesundheitspersonal, Krankenhäusern und Apotheken. Darüber hinaus hatte die Herrschaft des Imperialismus zwei Drittel der Menschheit in Armut und Unterentwicklung gestürzt.

Afrika, das vollständig unter dem kolonialen Joch stand und fast 500.000 Männer als Kanonenfutter an die europäischen Armeen und als Arbeiter an die europäischen Fabriken geliefert hatte, hatte eine doppelt so hohe Sterblichkeitsrate wie Europa. Im Senegal, wo die Grippe nach zwei tödlichen Wellen der Beulenpest ausbrach, raffte die Grippe fast 40.000 Menschen hin, ohne dass sich die koloniale Ärzteschaft allzu sehr darum zu kümmern schien. In Belgisch-Kongo wird die Zahl der Opfer auf 300.000 geschätzt, in Kamerun auf 250.000 und in Nigeria auf zweifellos mehr als 450.000.

Ein Schiff mit südafrikanischen Arbeitern, die in Frankreich hinter der Front eingesetzt waren, machte zunächst in Sierra Leone einen Zwischenstopp und legte dann in Südafrika an – und schleppte so in beiden Ländern das Virus ein. Vom Hafen breitete sich das Virus in Südafrika aus, wo es aufgrund der vielen Häfen und des ausgedehnten Eisenbahnnetzes (das die Bodenschätze des Landes dem Weltmarkt zuführte) besonders viele Opfer forderte. Es gab 300.000 Tote. Die Grippe dezimierte vor allem die schwarze Bevölkerung von Transkei und Ciskei im Kapland, wo die Bevölkerung in überfüllten Slums lebte. In Südrhodesien (heute Simbabwe), einem weiteren britischen Herrschaftsgebiet, lag die Todesrate unter der Bevölkerung europäischer Herkunft bei 9,3‰, unter den Afrikanern der Reservate bei 25,4‰ und unter den Bergarbeitern bei 91,7‰. Nicht weit von diesem Epidemieherd im südlichen Afrika entfernt, tötete die Grippe zweifellos 90.000 Bewohner Madagaskars und zwischen 7.000 und 20.000 Menschen auf der Insel La Réunion mit einer Bevölkerung von nur 175.000 Einwohnern. Sie streckte die Hafenarbeiter nieder, die die Schiffe entluden und wütete in den Arbeitervierteln, wo die Lebensbedingungen schrecklich waren. In der Kleinstadt Le Port, in der es nur einen Arzt gab, wurden die Leichen, die vor den Türen lagen, von dem einzig vorhandenen Fahrzeug abgeholt: einem von Gefangenen gezogenen Handkarren.

Auf mehreren Inseln, zum Beispiel auf den unter US-amerikanischer Besatzung stehenden Philippinen, auf Tahiti (Papeete) oder in Westsamoa unter neuseeländischer Kontrolle, erlaubten die Kolonialbehörden Männern mit diagnostizierter Grippeerkrankung, an Land zu gehen – ohne Rücksicht auf die Folgen für die Bevölkerung. Die neuseeländische Regierung gestand erst im Jahre 2002 ein, dass sie mit dieser verbrecherischen Entscheidung die Verantwortung für den Tod von 8.500 Menschen auf Samoa tragen, einem Viertel der Bevölkerung! Der französische Staat hat sich nie zu seiner Verantwortung für die Opfer auf Tahiti bekannt. Aber das Land, in dem die Barbarei der kapitalistischen Herrschaft in Gestalt der Grippeepidemie ihren fürchterlichsten Ausdruck fand, war Indien. Nach neuesten Schätzungen raffte sie dort mehr als 18 Millionen Menschen dahin. Am 29. Mai 1919 erreichte die Grippe Bombay erreicht, mit einem Schiff voller indischer Truppen, die aus dem Krieg zurückkehrten. Innerhalb von zwei Wochen wütete die Epidemie in der ganzen Stadt.

Wegen der wirtschaftlichen Bedeutung dieser Kolonie für den britischen Imperialismus kam es nie in Frage, die indischen Häfen unter Quarantäne zu stellen. Seit der Eröffnung des Suezkanals war der Hafen von Bombay zum größten Hafen Indiens geworden, und die Textilindustrie beschäftigte zehntausende Arbeiter. Die Kolonialmacht interessierte sich kein bisschen für die sanitären Bedingungen, für die gesundheitsschädlichen Unterkünfte und Straßen der Großstädte, in denen sie Millionen Einwohner zusammengeballt hatte. Darüber hinaus wurde Indien regelmäßig von Überschwemmungen und Dürreperioden heimgesucht, die jedes Mal Hunderttausende und häufiger noch Millionen Opfer forderten. Und während die Dürre von 1918 die Bevölkerung erneut in eine Hungersnot stürzte, transportierten Schiffe weiterhin das im Hinterland produzierte Getreide in britische Häfen. Der Krieg, der die Reihen der Ärzte noch weiter gelichtet hatte, da sie für die Front zwangsrekrutiert worden waren, verschlechterte die gesundheitliche Lage noch einmal erheblich – in einem Land, in dem die durchschnittliche Lebenserwartung ohnehin schon nur 25 Jahre betrug.

Die Grippeepidemie wütete unter den Landarbeitern, Kleinbauern, Straßenkehrern, Fabrikarbeiter und die zahllosen Verelendeten, die die Städte des indischen Subkontinents bevölkerten. Die Mehrheit der Opfer waren Frauen, wohl weil sie – unter der doppelten Unterdrückung leidend – in Zeiten der Hungersnot noch weniger Nahrung erhielten, aber gleichzeitig eine höhere Arbeitsbelastung hatten und für die Pflege der Kranken verantwortlich waren.

Für diese Epidemie gab es einen Präzedenzfall: Nach einer Pestepidemie, die Bombay 1896 heimgesucht hatte und dieses Zentrum der kolonialen Wirtschaft bedrohte, hatte die Regierung versucht, die unhygienischen Zustände (für die sie die Bewohner selbst verantwortlich machten) auf ihre Art, das heißt mit brutaler Gewalt zu beenden. Die Häuser wurden durchsucht und anschließend niedergebrannt, oft zusammen mit den wenigen Habseligkeiten der Bewohner. Diese wurden gedemütigt, manchmal vergewaltigt, und zu Tausenden vertrieben. Es kam zu Unruhen und einem Generalstreik, der die Behörden zum Rückzug zwang. Die Erinnerung an dieses Ereignis war beim Ausbruch der Spanischen Grippe noch lebendig.

Wieder einmal war die Kolonialmacht völlig unfähig, mit dem durch die Krankheit verursachten Chaos fertig zu werden. Und oft waren es die Bewohner selber, unterstützt von Kämpfern für die indische Unabhängigkeit, die die schlimmsten Folgen ihrer Unfähigkeit und Unbekümmertheit abwendeten. Diese Erfahrung stärkte in den folgenden Monaten die Proteste gegen die britische Vorherrschaft und die Unabhängigkeitsbewegung. Nach der Verabschiedung des Rowlatt-Gesetzes im Februar 1919, mit dem das während des Krieges verhängte Kriegsrecht verlängert wurde, drohte der Protest sich auf das ganze Land auszuweiten. Am 13. April 1919 schoss die Armee in Amritsar auf die Menge und tötete mehrere hundert Demonstranten.

Mehr als je zuvor: Sozialismus oder Barbarei

Wenn auch die Grenzen der damaligen wissenschaftlichen Erkenntnisse, insbesondere das Unwissen über den viralen Ursprung der Grippe und das Fehlen eines Impfstoffs, vor einem Jahrhundert eine bedeutende Rolle bei der Ausbreitung und der Sterblichkeit der Spanischen Grippe gespielt hatten, so trägt doch der Kapitalismus die entscheidende Verantwortung für ihre entsetzliche Bilanz. Die Erfordernisse des imperialistischen Krieges, der im Interesse des Großkapitals geführt wurde, und dessen dramatischen Folgen für die Lebensbedingungen und den Gesundheitszustand der Bevölkerung, die unwürdige Wohnsituation der Arbeitenden, das Fehlen einer Hygiene- und Gesundheitspolitik, die auf das Wohlergehen aller ausgerichtet ist, die Überausbeutung der Arbeiter und Kolonialvölker, die in entsetzlicher materieller und kultureller Unterdrückung gehalten wurden: All dies hätte die bürgerliche Gesellschaft zu ihrem Untergang verurteilen müssen. Nur der Verrat der wichtigsten sozialistischen Führer im Jahr 1914, der die Arbeiter ohne Perspektive und Führung ließ, als die russische Revolution 1917 die bürgerliche Herrschaft stürzte, rettete ihm das Leben.

Heute stehen die wissenschaftlichen Erkenntnisse und die Mittel zur Bewältigung der Covid-19-Pandemie in keinem Verhältnis mehr zu denen von vor einem Jahrhundert. Angesichts des Chaos, das die Epidemie hervorruft, ihrer hohen Zahl an Toten, angesichts der absehbaren Folgen der Wirtschaftskrise, für die die Epidemie nur ein Auslöser war, bleibt die Beseitigung dieses alten verfaulten Systems die einzige Perspektive für die Menschheit.

Engels schrieb im Anti-Dühring, dass „die von der modernen kapitalistischen Produktionsweise erzeugten Produktivkräfte wie auch das von ihr geschaffne System der Güterverteilung in brennenden Widerspruch geraten sind mit jener Produktionsweise selbst, und zwar in solchem Grad, daß eine Umwälzung der Produktions- und Verteilungsweise stattfinden muß, die alle Klassenunterschiede beseitigt, falls nicht die ganze moderne Gesellschaft untergehn soll.

11. Mai 2020

 

[1] Rosa Luxemburg, Juniusbroschüre. Die Krise der Sozialdemokratie. 1916, S.1.

[2] Nicht im offiziellen Amtsblatt veröffentlichte Anmerkung aus dem Redebeitrag Julien Godarts im Senat am 14.12. 1917. Ein von Laurent Viet zitiertes Dokument in: Die Gesundheit während des Krieges 1914 -1918 . SciencesPo. Les Presses, 2015, S. 521.

[3] Engels Friedrich: Herrn Eugen Dühring's Umwälzung der Wissenschaft. In: Marx/Engels-Werke. Dietz Verlag, Berlin. Band 20. 1962, S.146.